Die Ebenen und Teile des Wesens
Sri Aurobindo | Die Mutter
Eigentlich gibt es nur einen einzigen wirklichen Grund zum Leben: sich selbst zu erkennen. Wir sind hier, um zu lernen – um zu lernen, was wir sind, warum wir hier sind und was wir da zu tun haben. Und wenn wir das nicht wissen, ist unser Leben völlig leer – für uns und für die anderen. Und da ist es meist besser, frühzeitig anzufangen, weil es viel zu lernen gibt. Wenn man das Leben als solches lernen will, die Welt als solche, und wirklich das Warum und Wieso des Lebens erfahren will, kann man schon als ganz kleines Kind damit anfangen, schon von ganz, ganz, ganz klein an – vor dem fünften Lebensjahr. Und wenn man dann hundert Jahre alt ist, wird man auch noch lernen können. Also, das ist interessant. Und man kann die ganze Zeit Überraschungen erleben, immer etwas lernen, das man noch nicht kannte, etwas erleben, das einem völlig neu ist, auf ein Phänomen stoßen, das man übersehen hatte. Es ist sicher sehr interessant. Und je mehr man weiß, desto mehr merkt man, dass man noch alles lernen muss. Wirklich, ich kann sagen, dass nur die Dummen glauben, etwas zu wissen. Wenn jemand kommt und sagt: „Ach, das kenne ich alles. Oh, ich weiß das alles“, ist das ein sicheres Zeichen, dass er beschränkt ist!
– Die Mutter
Sri Aurobindo | Die Mutter DIE EBENEN UND TEILE DES WESENS
Kapitel 1
Sich kennen und sich meistern
Worte der Mutter
Ein Leben ohne Ziel ist ein Leben ohne Freude.
Habt alle ein Ziel, vergesst jedoch nicht, dass der Wert eures Lebens vom Wert eures Ziels abhängt.
Euer Ziel sei hoch und weit, edel und selbstlos, so wird euer Leben für euch und für die anderen wertvoll werden. Doch welches auch immer das Ideal sei, nach dem ihr strebt, ihr werdet es nur dann vollkommen verwirklichen, wenn ihr die Vollendung in euch selbst verwirklicht.
Der erste Schritt in dieser Arbeit der Selbstvollendung besteht darin, sich seiner selbst und der verschiedenen Ebenen seines Seins sowie ihrer zugehörigen Tätigkeiten bewusst zu werden. Wir müssen lernen, diese verschiedenen Ebenen voneinander zu unterscheiden, damit wir den Ursprung der Bewegungen, die in uns stattfinden, deutlich zu erkennen vermögen, die Quelle der Impulse, der Reaktionen und der verschiedenen Triebe, die uns zum Handeln antreiben. Es ist ein unermüdliches Studium, das viel Ausdauer und Aufrichtigkeit erfordert, denn die menschliche Natur, vor allem die mentale, hat die spontane Neigung, für alles, was wir denken, fühlen, sagen und tun eine Rechtfertigung zu finden. Nur wenn wir diese Bewegungen mit großer Sorgfalt beobachten, wenn wir sie sozusagen immer vor den Richterstuhl unseres höchsten Ideals stellen mit dem ehrlichen Willen, uns seinem Urteilsspruch zu unterwerfen, dürfen wir hoffen, in uns eine Urteilskraft zu erziehen, die sich nicht täuscht. Denn wenn wir wirklich Fortschritte machen wollen, wenn wir fähig werden wollen, die Wahrheit unseres Seins zu erkennen – das heißt, unsere eigentliche Aufgabe, das, was wir unsere Mission auf Erden nennen könnten –, dann müssen wir regelmäßig und unablässig all das von uns zurückweisen oder in uns ausmerzen, was mit der Wahrheit unseres Seins nicht in Einklang steht, was sich ihr entgegenstellt. Nur so können nach und nach alle Teile, alle Elemente unseres Wesens, zu einem harmonischen Ganzen um unseren seelischen Mittelpunkt angeordnet werden. Es ist viel Zeit erforderlich, um diese Arbeit der Vereinheitlichung auch nur annähernd zur Vollkommenheit zu bringen. So müssen wir uns, damit sie gelingen kann, mit Geduld und Ausdauer wappnen, entschlossen, unser Leben so weit zu verlängern, als es notwendig ist, um unser Unternehmen zu vollenden.
In derselben Zeit, in der wir dieser Arbeit der Reinigung und Vereinheitlichung nachgehen, müssen wir große Sorgfalt darauf verwenden, den äußeren und instrumentalen Teil unseres Wesens zu vervollkommnen. Wenn die höchste Wahrheit sich offenbaren wird, muss sie in uns einen Verstand vorfinden, der reich und geschmeidig genug ist, um der Idee, die sich ausdrücken will, eine Gedankenform geben zu können, die ihre Kraft und Klarheit bewahrt. Der Gedanke selbst muss, will er sich in Worte kleiden, eine genügend starke Ausdruckskraft in uns finden, damit unsere Worte ihn offenbaren und nicht entstellen. Und diese Form, in die wir die Wahrheit gehüllt haben, muss sich in all unseren Gefühlen, in unserem ganzen Willen, in all unseren Handlungen, in allen Bewegungen unseres Wesens offenbaren. Schließlich müssen diese Bewegungen selbst durch eine unablässige Anstrengung ihre höchste Vollendung erreichen.
All dies kann mit Hilfe einer vierfachen Disziplin erreicht werden, von der hier die großen Linien gegeben werden. Diese vier Seiten der Disziplin schließen sich gegenseitig nicht aus und können gleichzeitig verfolgt werden; dies ist sogar besser. Der Ausgangspunkt ist das, was man seelische Disziplin nennen könnte. Was wir hier mit „seelisch“ bezeichnen, ist der psychologische Mittelpunkt unseres Wesens, der Sitz der höchsten Wahrheit unseres Seins in uns. Es ist das in uns, was die Macht hat, diese Wahrheit zu erkennen und sie in Bewegung, zu setzen. Darum ist es außerordentlich wichtig, dass wir uns seiner Gegenwart in uns bewusst werden und uns auf diese Gegenwart konzentrieren, bis sie eine lebendige Tatsache für uns geworden ist und wir uns mit ihr identifizieren können.
Zu allen Zeiten sind in den verschiedenen Ländern viele Methoden empfohlen worden, um dieses Bewusstsein und schließlich diese Identifikation zu erreichen. Manche Methoden sind psychologisch, manche religiös und manche sogar mechanisch. Jeder muss sich die aussuchen, die am besten zu ihm passt, und wenn unser Sehnen glühend und inbrünstig, unser Wille ausdauernd und dynamisch ist, so können wir sicher sein, auf die eine oder andere Weise – äußerlich durch Lesen oder Belehrung, innerlich durch Sammlung und Andacht, durch Offenbarung und Erlebnis – die Hilfe zu bekommen, die wir brauchen, um das Ziel zu erreichen.
Eines nur ist ganz und gar unerlässlich: der Wille zu finden und zu verwirklichen. Diese Entdeckung und Verwirklichung müssen das Hauptanliegen unseres Lebens werden, die kostbare Perle, die man erwerben will, koste es, was es wolle. Was wir auch immer tun mögen, welches unsere Beschäftigung und unsere Tätigkeiten auch immer sein mögen – der Wille, die Wahrheit unseres Wesens zu finden und mit ihr eins zu werden, muss immer lebendig und gegenwärtig hinter allem stehen, was wir tun, was wir empfinden, was wir denken.
Wenn wir diese innere Entdeckung vervollständigen wollen, wird es gut sein, die mentale Entwicklung nicht zu vernachlässigen. Denn das denkende Werkzeug kann entweder gleichgültig oder eine große Hilfe oder aber ein sehr großes Hindernis sein. Das menschliche Denken ist ja, in seinem Naturzustande, immer begrenzt in seiner Sicht, beschränkt in seiner Auffassungsgabe, starr in seinen Meinungen. Es bedarf also einer unablässigen Anstrengung, um es zu vertiefen und geschmeidig zu machen. Daher wird es sehr notwendig, alle Dinge von so vielen Gesichtspunkten aus wie nur möglich zu betrachten. Dazu gibt es eine Übung, die das Denken flexibel macht und es erhöht. Sie besteht in folgendem: Man stellt eine Behauptung auf, indem man sie klar formuliert. Dann stellt man ihr mit derselben Klarheit und Genauigkeit die Gegenbehauptung gegenüber. Sodann muss man durch aufmerksame Überlegung das Problem erweitern oder sich darüber erheben, bis man die Synthese gefunden hat, die die beiden Gegensätze in einer weiteren, höheren und umfassenderen Idee vereint.
Es lassen sich viele weitere Übungen derselben Art machen. Manche haben einen förderlichen Einfluss auf den Charakter und so einen doppelten Vorteil: den, das Denken zu erziehen und den, eine Kontrolle über die Gefühle und ihre Auswirkungen zu bekommen. Man darf zum Beispiel niemals seinem Verstand erlauben, Dinge und Menschen zu beurteilen, denn das Denken ist kein Werkzeug der Erkenntnis. Es ist ihm unmöglich, die Erkenntnis zu finden, aber es soll von ihr in Bewegung gesetzt werden. Die Erkenntnis gehört einem viel höheren Reiche an als dem des menschlichen Denkens, sie steht weit darüber, noch oberhalb der Ebene der reinen Ideen. Unser Denken muss schweigend lauschen können, um die Erkenntnis von oben zu empfangen und um sie auszudrücken, denn es ist ein Werkzeug der Formation, der Organisation und der Handlung. Und in diesen Funktionen hat es seinen vollen Wert und seinen wirklichen Nutzen.
Eine andere Gewohnheit, die für den Fortschritt des Bewusstseins sehr nützlich sein kann, besteht darin, dass man sich niemals in seine eigene Auffassung einschließt, sich in seinen eigenen Standpunkt verbohrt, wenn man mit jemandem in irgendeinem Punkt nicht übereinstimmt, beispielsweise im Hinblick auf eine Entscheidung, die zu fällen oder ein Unternehmen, das zu beginnen ist. Im Gegenteil sollte man sich bemühen, den Standpunkt des anderen zu verstehen, sich an seine Stelle zu versetzen. Und anstatt sich zu streiten oder gar handgreiflich zu werden, muss man eine Lösung finden, die beide Parteien in annehmbarer Weise befriedigt – es gibt immer eine Lösung für Menschen guten Willens.
Hier müssen wir auf die Disziplin des Vitalen zu sprechen kommen. Das vitale Wesen in uns ist der Sitz der Triebe und Wünsche, der Begeisterung und der Heftigkeit, der dynamischen Energie und der verzweifelten Depressionen, der Leidenschaften und der Auflehnung. Es kann alles in Bewegung setzen, aufbauen und verwirklichen, aber es kann auch alles zerstören und alles verderben. So ist es im menschlichen Wesen vielleicht der Teil, der am schwierigsten zu disziplinieren ist. Es ist eine langwierige Arbeit, die eine große Geduld und eine vollkommene Aufrichtigkeit erfordert, denn ohne Aufrichtigkeit vom ersten Schritt an wird man sich nur selbst täuschen, und jeder Versuch des Fortschritts wird vergeblich sein.
Mit der Mitarbeit des Vitalen scheint kein Erfolg unmöglich, keine Verwandlung undurchführbar. Doch die Schwierigkeit liegt darin, diese ständige Mitarbeit zu erhalten. Das Vitale ist ein guter Arbeiter, aber es sucht meistens seine eigene Befriedigung. Wenn diese ihm ganz oder teilweise entzogen wird, ärgert es sich, schmollt und streikt. Die Energie schwindet mehr oder weniger vollständig und macht dem Ekel an Dingen und Menschen Platz, der Entmutigung oder der Auflehnung, der Depression und der Unzufriedenheit. In diesen Augenblicken ist es gut, ruhig zu bleiben und von jeder Tätigkeit Abstand zu nehmen, denn es sind die Augenblicke, in denen man Dummheiten macht und in einem Moment Monate regelmäßiger Anstrengung und den daraus erwachsenen Fortschritt zunichte machen kann. Diese Krisen sind weniger langwierig und gefährlich bei denen, die genügend innige Beziehungen zu dem seelischen Teil ihres Wesens hergestellt haben, um die Flamme der Sehnsucht und das Bewusstsein des zu verwirklichenden Ideals in sich lebendig zu erhalten. Mit Hilfe dieses Bewusstseins können sie auf ihr Vitales einwirken, so wie man auf ein aufbegehrendes Kind einwirkt, mit Ruhe und Geduld, ihm die Wahrheit und das Licht zeigend, bemüht, es zu überzeugen und den guten Willen in ihm wieder zu erwecken, der für einen Augenblick verschleiert war. Dank dieses geduldigen Eingreifens kann jede Krise in einen neuen Fortschritt, in einen weiteren Schritt dem Ziel entgegen verwandelt werden. Die Fortschritte mögen langsam sein, die Rückfälle häufig, doch wenn man einen tapferen Willen behält, kann man sicher sein, eines Tages zu triumphieren und zu sehen, wie alle Schwierigkeiten vor dem strahlenden Glanz des Wahrheitsbewusstseins dahinschmelzen und verschwinden.
Schließlich ist es auch notwendig, durch eine vernünftige und einsichtige Körpererziehung unseren Körper kräftig und geschmeidig genug zu machen, damit er in dieser materiellen Welt ein geeignetes Werkzeug der Wahrheitskraft wird, die sich durch uns zum Ausdruck bringen will. Denn der Körper soll ja nicht regieren, sondern gehorchen, und seine wahre Natur ist es, ein gehorsamer und treuer Diener zu sein. Unglücklicherweise hat er im Hinblick auf seine Meister, das Mentale und das Vitale, selten die notwendige Unterscheidungskraft. Er gehorcht ihnen blindlings, sehr zum Schaden seines eigenen Wohlergehens. Das Mentale mit seinen Dogmen und seinen starren, willkürlichen Prinzipien, das Vitale mit seinen Leidenschaften, seinen Übertreibungen und Ausschweifungen können das natürliche Gleichgewicht des Körpers im Nu zerstören und in ihm Überarbeitung, Erschöpfung und Krankheit hervorrufen. Von dieser Tyrannei muss man ihn befreien, und das ist nur möglich durch das beständige Einssein mit dem seelischen Mittelpunkt des Wesens. Der Körper hat eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit und Ausdauer. Er ist zu viel mehr fähig, als man gewöhnlich glaubt. Wenn er, statt von unwissenden und despotischen Herren regiert zu werden, von der zentralen Wahrheit des Seins gelenkt wird, so wird man mit großer Verwunderung feststellen, was er alles zu leisten vermag. Ruhig und schweigend, stark und ausgeglichen, wird er in jeder Minute die geforderte Leistung vollbringen können, denn er wird gelernt haben, in der Tätigkeit selbst die Entspannung zu finden und durch die Berührung mit den universellen Kräften seine sinnvoll und bewusst ausgegebenen Energien zu erneuern. In einem solchen ausgeglichenen und gesunden Leben wird eine neue Harmonie sich in ihm offenbaren, die Harmonie höherer Ebenen widerspiegelnd, die ihm die Vollkommenheit der Proportionen und die ideale Formschönheit geben wird. Und diese Harmonie wird beständig reicher werden, denn die Wahrheit des Wesens ist nicht unveränderlich. Sie ist die unaufhörliche Entfaltung einer wachsenden Vollkommenheit, die immer weiter und umfassender wird. Sobald der Körper gelernt haben wird, dieser harmonisierenden Bewegung zu folgen, wird es ihm gelingen, durch eine ununterbrochene Verwandlung der unerbittlichen Zersetzung und Zerstörung zu entgehen. Das unwiderrufliche Gesetz des Todes wird dann aufgehört haben zu gelten.
Wenn wir diesen Grad der Vollkommenheit, der unser Ziel ist, erreicht haben werden, können wir erkennen, dass die Wahrheit, die wir suchen, vier Hauptaspekte hat: Liebe, Wissen, Macht und Schönheit. Diese vier Eigenschaften der Wahrheit werden in unserem Sein spontan zum Ausdruck kommen. Die Seele wird der Träger der wahren und reinen Liebe sein, das Denken der Träger des unfehlbaren Wissens, das Vitale wird die unbesiegbare Kraft und Macht offenbaren, und der Körper wird zum Ausdruck einer vollendeten Schönheit und Harmonie.
Worte der Mutter
„Sich kennen und sich meistern“, was heißt das?
Das heißt, sich seiner inneren Wahrheit bewusst sein, der verschiedenen Teile seines Wesens und ihres Wirkens. Man muss wissen, warum man dies tut, warum jenes: Man muss seine Gedanken kennen, seine Gefühle, all seine Handlungen, all seine Regungen, das, wozu man fähig ist, und so weiter. Und sich zu kennen genügt nicht: Dies Wissen muss eine bewusste Meisterung mit sich bringen. Sich vollkommen kennen heißt, sich vollkommen meistern.
Aber das braucht ein beständiges Streben. Es ist nie zu früh zum Anfangen, nie zu spät zum Fortfahren. Sogar wenn du noch ganz klein bist, kannst du beginnen, dich zu erforschen und zu erkennen und nach und nach zu meistern. Und sogar dann, wenn du sogenannt „alt“ bist, recht betagt bist, ist es nicht zu spät, die Anstrengung zu machen, sich immer besser zu erkennen und immer besser zu meistern. Das ist die Wissenschaft vom Leben.
Um sich zu vervollkommnen, muss man sich erst seiner selbst bewusst werden. Zum Beispiel ist es dir in deinem Leben bestimmt schon öfters passiert, dass dich jemand plötzlich fragt: „Warum hast du das getan?“, und darauf antwortest du unwillkürlich: „Ich weiß es nicht.“ Fragt dich jemand: „Woran denkst du?“, antwortest du: „Ich weiß es nicht“. „Warum bist du müde?“ – „Ich weiß es nicht“. „Warum bist du glücklich?“ – „Ich weiß es nicht“, und so weiter fort. Ich könnte fünfzig Leute nehmen und sie unvermittelt, unvorbereitet fragen: „Warum hast du das getan?“ Und sind sie innerlich nicht „wach“, so antworten sie alle: „Ich weiß es nicht.“ (Natürlich spreche ich da nicht von jenen, die eine Disziplin ausgeübt haben, sich zu erkennen und ihre Regungen bis zum Äußersten zu verfolgen. Jene können sich natürlich besinnen, sich sammeln und richtig antworten, wenn auch erst nach einer Weile.) Du kannst sehen, dass es sich so verhält, wenn du dich den Tag über gut beobachtest. Du sagst etwas und weißt gar nicht, warum du es sagst – erst nachdem die Worte deinen Mund verlassen haben, merkst du, dass es nicht eigentlich das war, was du sagen wolltest. Du besuchst zum Beispiel jemanden und nimmst dir vor, etwas ganz Bestimmtes sagen zu wollen. Stehst du aber vor dem Betreffenden, so sagst du nichts, oder andere Worte entschlüpfen deinem Mund. Bist du imstande zu sagen, inwieweit die Atmosphäre des anderen dich beeinflusst und daran gehindert hat, das zu sagen, was du dir vorgenommen hast? Wie viele sind imstande, es zu sagen? Sie erkennen gar nicht, dass der andere sich in der und der Verfassung befand und sie ihm darum nicht sagen konnten, was sie gewollt hatten. Natürlich gibt es sehr offenkundige Fälle, wo du Menschen in so schlechter Laune antriffst, dass du sie um nichts bitten kannst. Davon spreche ich nicht. Ich spreche von der klaren Wahrnehmung der gegenseitigen Beeinflussungen, nämlich was auf deine Natur einwirkt und von ihr zurückwirkt. Diese Wahrnehmung fehlt für gewöhnlich. Auf einmal fühlt man sich beispielsweise unwohl oder man fühlt sich froh, aber wie viele können sagen: „Das ist es.“? Und das ist auch schwer zu wissen. Es ist durchaus nicht leicht. Man muss schon sehr wach sein, stets in einem sehr aufmerksamen Zustand der Beobachtung.
Manche Menschen schlafen zwölf Stunden am Tag, und während der übrigen Zeit sagen sie: „Ich bin wach.“ Und manche schlafen zwanzig Stunden am Tag, und den Rest der Zeit sind sie auch nur halb wach! Um in diesem Zustand aufmerksamer Beobachtung zu sein, musst du sozusagen überall Antennen haben, die mit deinem wahren Bewusstseinszentrum in dauernder Verbindung stehen. Auf diese Weise verzeichnest du alles und ordnest alles, du lässt dich nicht mehr überraschen oder täuschen, und du kannst nichts anderes sagen als das, was du willst. Wie viele aber leben so als in ihrem Normalzustand? Genau das meine ich, wenn ich davon spreche, „bewusst zu werden“. Willst du aus den Bedingungen und Umständen, in denen du dich befindest, den größten Nutzen ziehen, so musst du völlig wach sein. Du darfst dich nicht überraschen lassen, nicht Dinge tun, ohne zu wissen warum, nicht Dinge sagen, ohne zu wissen warum. Du musst dauernd wach sein.
Du musst auch begreifen, dass du nicht ein gesondert lebendes Einzelwesen bist, sondern dass das Leben ein ständiger Austausch von Kräften ist, von Bewusstsein, von Schwingungen, von Bewegungen aller Art. Das ist wie in einer Menschenmenge: Wenn jedermann drängt, gehen alle vorwärts, und wenn alle zurückweichen, geht jedermann zurück. Dasselbe geschieht in der inneren Welt, in deinem Bewusstsein. Ständig wirken und reagieren dort Kräfte und Einflüsse auf dich, und es ist wie ein Gas in der Atmosphäre, und bist du nicht ganz und gar wach, so treten diese Dinge in dich ein, und erst wenn sie richtig in dir drin sind und dann wieder herauskommen, so als kämen sie von dir selbst, nimmst du sie wahr. Wie oft treffen Menschen solche, die nervös, wütend und schlecht gelaunt sind, und sie werden ebenfalls nervös, wütend, schlecht gelaunt, einfach so, ohne zu wissen warum. Wie kommt es, dass du gegen bestimmte Personen sehr gut spielst, während du gegen andere nicht spielen kannst? Oder diese ganz ruhigen, gar nicht bösen Menschen, die in einer zornigen Menge auf einmal zornig werden! Und niemand weiß, wer angefangen hat: Etwas ist vorbeigekommen und durch das Bewusstsein gefegt. Es gibt Menschen, die derartige Störungen auslösen können, und die anderen antworten darauf, ohne zu wissen warum. Alles ist so, von den kleinsten Dingen bis zu den größten.
Um in der Gemeinschaft seinen individualisierten Status zu bewahren, muss man sich seiner selbst absolut bewusst sein. Was für eines Selbstes? – Das Selbst, das über aller Vermischtheit steht, das heißt das, was ich die Wahrheit deines Wesens nenne. Und solange du der Wahrheit deines Wesens nicht bewusst bist, wirst du von allem möglichen bewegt, ohne es im geringsten zu bemerken. Das kollektive Denken, die kollektive Suggestion ist ein ungeheurer Einfluss, der fortwährend auf das individuelle Denken einwirkt. Und das Außergewöhnliche dabei ist, dass man es nicht bemerkt. Man meint, man denke eben „so“, tatsächlich aber denkt die Gemeinschaft „so“. Die Masse ist immer dem Einzelnen unterlegen. Nimm Menschen von gleicher Qualität, der gleichen Kategorie, nun, wenn sie allein sind, dann stehen sie mindestens zwei Grade höher als ihresgleichen in der Menge. Es gibt da eine Vermischung von Dunkelheit, von Unbewusstheit, und man gleitet zwangsläufig in diese Unbewusstheit ab. Um dem zu entgehen, gibt es nur ein Mittel: sich seiner selbst bewusst zu werden – immer bewusster und immer aufmerksamer.
Versuche folgende kleine Übung: Zu Beginn des Tages sagst du dir: „Ich werde nicht sprechen, ohne zu denken, was ich sage.“ Du glaubst, du denkst all das, was du sagst, nicht wahr? Das ist keineswegs der Fall. Du wirst feststellen, wie oft das Wort, das du nicht äußern willst, dir entschlüpfen will, und dass du dich bewusst anstrengen musst, es daran zu hindern.
Ich kannte Menschen, die sehr gewissenhaft versuchten, nicht zu lügen, aber sobald sie sich in einer Gruppe befanden, erzählten sie unwillkürlich Lügen, anstatt die Wahrheit zu sagen. Sie hatten nicht die Absicht, es zu tun, dachten noch vor einer Minute nicht, dass sie es tun würden, es kam einfach „so“. Warum? – Weil sie sich unter Lügnern befanden. Da war eine Atmosphäre der Falschheit, und sie wurden ganz schlicht von deren Krankheit angesteckt!
Nach und nach, langsam, beharrlich, indem man am Anfang gut Sorge trägt und sehr aufmerksam ist, wird man auf diese Weise bewusst, lernt, sich zu erkennen und dann auch Meister seiner selbst zu werden.
Kapitel 2
Die Ebenen und Teile des Wesens
Worte Sri Aurobindos
Die Menschen wissen nichts von sich und haben nicht gelernt, die verschiedenen Teile ihres Wesens zu unterscheiden. Diese werden von ihnen meist unter dem Begriff ihres Mentals zusammengefasst und in einen Topf geworfen, da sie diese mit Hilfe eines mentalen Wahrnehmens und Verstehens erkennen oder fühlen. Aus diesem Grunde begreifen sie ihre eigene Verfassung und ihre eigenen Taten nicht oder aber – wenn überhaupt – nur oberflächlich. Es gehört zur Grundlage dieses Yoga, sich der großen Kompliziertheit unserer Natur bewusst zu werden, die verschiedenen Kräfte, die sie bewegen, zu erkennen und über sie die Kontrolle eines lenkenden Wissens zu erlangen. Wir bestehen aus vielen Teilen – unserem Denken und Willen, unserer Wahrnehmung, unserem Gefühl und Handeln –, doch wir erkennen weder die Herkunft noch den Weg, den diese Impulse in uns einschlagen, und gewahren lediglich ihre verworrenen und durcheinandergewürfelten Folgen an der Oberfläche, denen wir bestenfalls eine unsichere und wechselhafte Ordnung auferlegen können.
Eine Hilfe sind uns allein jene Teile des Wesens, die bereits dem Lichte zugewandt sind. Dieses Licht des Göttlichen Bewusstseins von darüber zu rufen, das seelische Wesen hervortreten zu lassen und eine Flamme des Strebens zu entfachen, die das nach außen gewandte Mental spirituell erweckt und das vitale Wesen entzündet, das ist der Ausweg.
Worte Sri Aurobindos
In diesem Prozess wird uns schon auf einer seiner frühen Stufen deutlich, dass das, was wir von uns kennen, unser gegenwärtiges bewusstes Dasein, nur eine repräsentative Gestaltung, eine oberflächliche Aktivität und das sich wandelnde äußerliche Ergebnis einer riesigen Masse verborgenen Daseins ist. Unser sichtbares Leben und die Wirkensweisen dieses Lebens sind nichts anderes als eine Reihe bedeutungsvoller Ausdrucksformen von etwas ganz anderem. Was dieses Leben hier zum Ausdruck zu bringen sucht, liegt nicht an der Außenseite. Unsere Existenz ist etwas viel Umfassenderes als das sichtbare Vordergrundwesen, für das wir uns halten und das wir auch meist unserer Umwelt darbieten. Dieses äußerliche Wesen im Vordergrund ist ein verworrenes Gemisch von mentalen Formationen, Lebensvorgängen und physischen Funktionen, deren Geheimnis selbst durch eine erschöpfende Analyse der sie zusammensetzenden Teile und ihres Mechanismus nicht geoffenbart werden kann. Nur wenn wir dahinter, in seine Tiefen und hoch über es hinaus in die verborgenen Bereiche unseres Wesens eindringen, können wir es erkennen. Selbst die gründlichste und scharfsinnigste Erforschung unserer Außenwelt und deren geschickte Handhabung kann uns nicht das wahre Verständnis oder die völlig wirksame Kontrolle über unser Leben, seine Zwecke und Wirkensweisen verschaffen. Dieses Unvermögen ist tatsächlich die Ursache dafür, dass die Vernunft, die Moralität und jede andere äußerliche Betätigung versagen, wenn sie das Leben der Menschheit kontrollieren, befreien und vervollkommnen wollen. Denn wir haben unterhalb selbst unseres dunkelsten physischen Bewusstseins noch ein unterbewusstes Wesen, in dem sich, wie unter der Decke eines nährenden Bodens, alle Arten verborgener Saaten befinden, die, für uns unerklärlich, in unserer äußeren Natur aufgehen. In diesen Boden säen wir ständig neuen Samen, der unsere Vergangenheit weiter fortdauern lässt und unsere Zukunft beeinflussen wird. Dieses unterbewusste Wesen, das dunkel, in seinen Regungen kleinlich, launisch und in beinahe phantastischem Grad unterrational ist, übt jedoch eine ungeheure Macht über das Erdenleben aus. Andererseits befindet sich hinter der Schwelle und oberhalb unseres Mentals, unseres Lebens und unseres bewussten physischen Wesens ein umfassendes subliminales Bewusstsein. Dort sind innere mentale, innere vitale und innere subtilere physische Bereiche, die durch eine innerste seelische Existenz getragen und genährt werden. Diese ist die alle Schichten unseres Wesens miteinander verbindende Seele. Auch in diesen verborgenen Bereichen liegt eine Masse zahlreicher präexistenter Personalitäten verborgen, die das Material, die Motivkräfte und Impulse für unsere sich an der Oberfläche entfaltende Existenz liefern. Zwar gibt es in jedem von uns hier eine einzige zentrale Person, aber wir tragen auch eine Masse untergeordneter Personalitäten in uns, die durch die vergangene Geschichte der Manifestation dieser zentralen Person oder durch deren auf den inneren Ebenen hinterlassenen Eindrücke geschaffen wurden. Sie alle unterstützen ihr gegenwärtiges Kräftespiel in diesem äußeren materiellen Kosmos. Während wir in unserem äußeren Dasein von unserer Umgebung abgeschlossen sind (denn ein äußerliches Mental und ein Sinnen-Kontakt vermitteln unserer Umwelt nur wenig von uns und uns nur wenig aus unserer Umwelt), ist in jenen inneren Bereichen die Scheidewand zwischen uns und dem übrigen Dasein dünn und leicht zu durchbrechen. Dort können wir unmittelbar die Wirkensweisen der geheimen Weltkräfte, der Mentalkräfte, Lebenskräfte und subtilen physischen Kräfte spüren, die das universale und individuelle Dasein konstituieren. Wir brauchen sie nicht nur aus ihren Resultaten zu erschließen, sondern wir empfinden sie unmittelbar. Ja, wir werden, wenn wir uns dazu trainieren, diese Weltkräfte, die auf uns und unsere Umgebung eindringen, immer mehr in unsere Macht bekommen, sie immer besser beherrschen oder mindestens ihre Einwirkung auf uns und andere, ihre Gestaltungen und eigentlichen Abläufe stark umformen können. Oberhalb unseres menschlichen Mentals gibt es aber noch größere Bereiche, die für es überbewusst sind. Aus diesen kommen insgeheim Einflüsse, Mächte und Druckwirkungen, die eigentlich die bestimmenden Faktoren für die Dinge hier unten sind. Könnten wir sie in ihrer Fülle herniederrufen, dann würden sie die ganze Gestaltung und Ökonomie des Lebens im materiellen Universum verändern. Die Göttliche Kraft, die an uns arbeitet, offenbart uns diese latente Erfahrung und dieses verborgene Wissen in steigendem Maße, wenn wir uns im Integralen Yoga immer mehr für sie öffnen. Sie benutzt die Ergebnisse und verwendet sie als Mittel und Stufen für eine Transformation unseres Wesens und unserer Natur. Von nun ab ist unser Leben nicht mehr nur eine an der Oberfläche dahinströmende kleine Welle. Vielmehr durchdringt es sich gegenseitig mit dem kosmischen Leben, wenn es nicht sogar mit diesem zusammenfällt. Unser Geist und unser Selbst erhebt sich nicht nur zu innerer Identität mit einem weiten kosmischen Selbst, sondern es kommt auch in Kontakt mit dem, was zwar jenseits, aber dennoch der Aktion im Universum bewusst ist und über sie herrscht.
So kommt im Yoga die Göttliche Shakti durch eine Integralisierung unseres zertrennten Wesens zu ihrem Ziel. Unsere Befreiung, Vervollkommnung und Meisterschaft hängt von dieser Integralisierung ab, da die kleine Welle an der Oberfläche nicht einmal ihre eigene Bewegung kontrollieren und noch viel weniger eine wahre Herrschaft über das ungeheure Leben ihrer Umgebung auszuüben vermag. Die Shakti, die Macht des Unendlichen und Ewigen, kommt in unser Inneres herab. Sie arbeitet in uns, zerbricht unsere gegenwärtigen psychischen Formationen, zerstört jedwede Umwallung, weitet uns aus, befreit uns und schenkt uns immer mehr neue größere Kräfte der Vision, Ideenbildung und Wahrnehmung. Sie verleiht uns stets von neuem größere Lebensmotive. Sie weitet die Seele und ihre Instrumente aus und gestaltet sie immer neu um. Sie hält uns jede Unvollkommenheit vor, um diese zu richten und zu zerstören. Sie gibt uns den Zugang zu einer höheren Vollkommenheit und leistet in einer kurzen Periode das Werk vieler Lebensabläufe und Zeitalter. So vollziehen sich in uns ständig neue Geburten, und neue Ausblicke eröffnen sich. Expansiv in ihrem Wirken, befreit sie das Bewusstsein von seiner Gefangenschaft im Körper. Im Trancezustand, im Schlaf und sogar im Wachen kann es ihn verlassen. Es kann sich in andere Welten oder in andere Regionen dieser Welt versetzen, dort wirken und seine Erfahrung mit sich zurückbringen. Wenn es sich ausdehnt, fühlt es den Körper nur noch als einen kleinen Teil seiner selbst. Das Bewusstsein wird immer mehr zum Behältnis für den Körper, der es früher in sich eingeschlossen hatte. So erlangt es das kosmische Bewusstsein und dehnt sich so weit aus, dass es mit dem Universum gleichen Umfangs wird. Es erkennt jetzt die Kräfte, die sich hier in der Welt auswirken, direkt von innen her und nicht mehr lediglich durch äußere Beobachtung. Es fühlt ihre Bewegung, unterscheidet ihr Funktionieren und kann auf sie unmittelbar so einwirken wie der Naturwissenschaftler auf die physischen Kräfte. Es kann deren Einwirkung und deren Resultate auf unser Mental, unser Leben und unseren Körper akzeptieren oder zurückweisen. Es kann die Energien verändern, umwandeln und neu gestalten. Auch kann es ungeheure neue Mächte und Bewegungen anstelle der alten kleinen Funktionsabläufe der Natur erschaffen. Immer deutlicher nehmen wir das Wirken der Kräfte des universalen Mentals wahr. Wir wissen nun, wie unsere Gedanken durch jenes Wirken erschaffen werden. Wir können von innen her die Wahrheit und das Falsche in unseren Wahrnehmungen voneinander unterscheiden, ihr Feld ausweiten sowie ihre Bedeutung ausdehnen und aufklären. Wir werden immer besser Herr über unser Mental und unser Handeln. Wir werden befähigt und aktiv, die Bewegungen des Mentals in unserer Umwelt zu gestalten. So nehmen wir auch den Strom und das Aufwallen der universalen Lebenskräfte wahr, entdecken Ursprung und Gesetz unserer Gefühle, Emotionen, Empfindungen und Leidenschaften und werden frei, sie zu akzeptieren oder zurückzuweisen, sie neu zu erschaffen und zu höheren Ebenen der Macht des Lebens emporzuheben. Immer deutlicher gewahren wir den Schlüssel zur Lösung des Rätsels der Materie. Wir folgen dem Spiel des gegenseitigen Aufeinanderwirkens von Mental, Leben und Bewusstsein auf die Materie und entdecken immer besser ihre Funktion, Instrument zu sein und Ergebnisse hervorzubringen. So erschließt sich uns zuletzt das tiefste Geheimnis der Materie: Sie ist nicht nur eine Form der Energie, sondern sie ist ein Bewusstsein, das involviert, zum Stillstand gebracht, instabil fixiert und eingeschränkt ist. Immer deutlicher erkennen wir, dass es möglich ist, dieses Bewusstsein zu befreien und es für ein Reagieren auf die höheren Mächte plastisch zu machen. So wird das in die Materie involvierte Bewusstsein fähig, immer besser die bewusste, nicht mehr nur die mehr als zur Hälfte unbewusste Inkarnation des Geistes und sein Selbst-Ausdruck zu werden. All das und vieles andere wird fortschreitend möglich, wenn das Wirken der Göttlichen Shakti in uns stärker wird und sich zu einer größeren Reinheit, Wahrheit, Höhe und Reichweite ausdehnt, allem starken Widerstand unseres noch dunklen Bewusstseins und seiner Abneigung zum Trotz, darauf zu reagieren. Das geht durch viel Ringen und einen Wechsel von Fortschritt, Rückschritt und erneutem Vorwärtsschreiten hindurch, weil das für das Werk einer intensiven Transformation einer halb-unbewussten in eine bewusste Substanz erforderlich ist. Alles hängt von dem seelischen Erwachen in uns ab, von der Vollkommenheit unserer Antwort auf die Shakti und von unserer immer größeren völligen Hingabe an sie.
Das alles kann freilich bloß ein größeres inneres Leben und eine größere Möglichkeit für das äußere Wirken zustande bringen. Es ist also lediglich eine Errungenschaft des Übergangs. Die volle Transformation kann erst dann eintreten, wenn unser Opfer bis zu seinen höchsten Höhen emporsteigt und wenn es auf unser Leben mit der Macht, dem Licht und der Seligkeit der göttlichen supramentalen Gnosis einwirkt. Dann erst werden alle jetzt zerteilten Kräfte, die sich im Leben und seinen Werken nur unvollkommen zum Ausdruck bringen können, zu ihrer ursprünglichen Einheit und Harmonie, alleinigen Wahrheit, authentischen Absolutheit und völligen Bedeutsamkeit emporgehoben. Dort sind das Wissen und der Wille geeint, die Liebe und die Kraft eine einzige Bewegung. Die Gegensätzlichkeiten, die uns hier anfechten, werden in ihre miteinander versöhnte Einheit emporgehoben. Das Gute entfaltet sein Absolutes, das Böse entkleidet sich seines Irrtums und kehrt zu dem Guten, das hinter ihm steht, zurück. Sünde und Tugend lösen sich in göttlicher Reinheit und makelloser Wahrheits-Bewegung auf. Die zweifelhafte Flüchtigkeit des Vergnügens geht in einer Seligkeit auf, die das Spiel einer ewigen, frohen spirituellen Gewissheit ist. Wenn der Schmerz vergeht, entdeckt man die unmittelbare Einwirkung des Ananda. Bisher war dieses um seinen Einfluss gebracht worden, weil das Bewusstsein es infolge einer finsteren Verkehrtheit und Unfähigkeit des Willens des Unbewussten nicht in sich aufnehmen konnte. All das, was für das Mental eine Einbildung oder ein Mysterium ist, wird nun offenbar und für die Erfahrung zugänglich, da das Bewusstsein aus seinem begrenzten, in der Materie verkörperten Mental in die Freiheit und Fülle der immer höheren Bereiche der Supra-Intelligenz emporsteigt. Das kann aber erst dann völlig wahr und normal werden, wenn das Supramental zum Gesetz der Natur geworden ist.
Darum hängt die Rechtfertigung des Lebens, seine Erlösung und seine Transformation in ein Göttliches Leben innerhalb einer umgewandelten irdischen Natur davon ab, dass dieses Emporsteigen bis zur Vollendung gebracht und eine volle Entfaltung jener Kräfte möglich wird, die aus höchsten Ebenen in das Erden-Bewusstsein herniederkommen.
Worte Sri Aurobindos
Tatsächlich gibt es zwei Systeme, die im Aufbau des Wesens und seiner Teile gleichzeitig wirken: Das eine ist konzentrisch, eine Folge von Ringen oder Hüllen mit der Seele im Zentrum; das andere ist vertikal, ein Aufsteigen und Herabkommen ähnlich einer Treppenflucht, eine Folge übereinanderliegender Ebenen mit dem Supramental-Obermental als zentralem Punkt des Übergangs jenseits des Menschlichen in das Göttliche. Für diesen Übergang, wenn er gleichzeitig eine Umwandlung bewirken soll, gibt es nur einen Weg, einen Pfad. Zuerst muss eine Wende nach innen erfolgen, ein Nach-innen-Gehen, um das innerste seelische Wesen aufzufinden, um es hervortreten zu lassen, wobei zur gleichen Zeit das innere Mental, das innere Vital und die inneren physischen Teile der Natur enthüllt werden. Das nächste ist ein Emporsteigen, eine Folge von nach oben gerichteten Verwandlungen, und eine Wende nach unten, um die niederen Teile umzuformen. Nachdem man die innere Wandlung vollzogen hat, wird die gesamte niedere Natur durchseelt und für die göttliche Veränderung bereitgemacht. Indem man aufsteigt, überschreitet man das menschliche Mental, und auf jeder Stufe des Aufstiegs findet eine Wandlung in ein neues Bewusstsein statt. Dieses neue Bewusstsein durchdringt die Gesamtheit der menschlichen Natur. Indem wir uns derart über den Verstand erheben, vom erleuchteten höheren Mental bis zum intuitiven Bewusstsein, beginnen wir, die Dinge nicht mehr von der intellektuellen Ebene her zu betrachten oder mit Hilfe des Intellektes als Instrument, sondern von einer größeren, intuitiven Höhe und mit Hilfe eines von der Intuition geprägten Willens, Fühlens, Empfindens, Sinnes und physischen Kontaktes. Während man derart von der Intuition zu einer größeren Obermental-Höhe fortschreitet, findet eine erneute Verwandlung statt, und wir betrachten und erfahren die Dinge über das Obermental-Bewusstsein und über ein Mental, ein Herz, ein Vital und einen Körper, die vom Denken des Obermentals durchdrungen sind – von seinem Sehnen, Wollen, Fühlen und Empfinden, von seinem Spiel der Kräfte, von seiner Berührung. Die letzte Verwandlung jedoch ist die supramentale, denn ist man einmal dort angelangt, ist einmal die menschliche Natur supramentalisiert, dann befinden wir uns jenseits der Unwissenheit, und eine Wandlung des Bewusstseins ist nicht länger erforderlich, obwohl ein weiteres göttliches Fortschreiten, ja sogar eine unendliche Entwicklung noch möglich ist.