Kapitel 4
Suprakosmisch und kosmisch
Worte Sri Aurobindos
Das Göttliche ist überall auf allen Ebenen des Bewusstseins, und es wird von uns auf verschiedenen Wegen und in den verschiedenen Aspekten seines Wesens erkannt. Doch es gibt einen Höchsten, der über all diesen Wegen und Aspekten und Ebenen steht und aus dem diese hervorgehen.
Worte Sri Aurobindos
Was ich sagte war, dass die Trennung zwischen den beiden Aspekten des Göttlichen [das Persönliche und Unpersönliche] der Vorstellungswelt des Obermentals entstammt, das verschiedene Seiten des Göttlichen in gesonderte Wesenheiten aufteilt. So trennt es Sat, Chit und Ananda, damit sie drei voneinander getrennte, verschiedene Aspekte werden. Tatsächlich aber gibt es in jener Wirklichkeit kein Getrenntsein, die drei Aspekte sind derart ineinander verschmolzen, derart untrennbar eins, dass sie eine einzige, ungeteilte Wirklichkeit bilden. Das gleiche gilt für das Persönliche und Unpersönliche, saguna und nirguna, den Schweigenden Brahman und Tätigen Brahman. In der Wirklichkeit sind es keine entgegengesetzten und unvereinbaren Aspekte. Was wir das Persönliche und das Unpersönliche nennen, ist untrennbar als einzige Wahrheit ineinander verschmolzen. Tatsächlich ist „ineinander verschmolzen“ sogar ein falscher Ausdruck, denn sie waren nie getrennt, so dass man sie hätte verschmelzen müssen. Aller Zwist darüber, ob entweder das Unpersönliche Wesen die einzig wahre Wahrheit oder das Persönliche Wesen die einzig höchste Wahrheit sei, sind vom Mental erschaffene Streitfragen, die von diesem trennenden Aspekt des Obermentals herrühren. Das Obermental leugnet keinen Aspekt, so wie das Mental es tut, es anerkennt sie alle als Aspekte der Einen Wahrheit, doch indem es sie trennt, verlegt es den Streit in das unwissendere, begrenztere und geteilte Mental, da das Mental nicht zu erkennen vermag, wie zwei entgegengesetzte Dinge zusammen in einer Wahrheit bestehen können, wie zum Beispiel das Göttliche nirguno guni, unpersönlich-persönlich, sein kann. Es hat nicht die Erfahrung, was hinter den beiden Worten steht, und fasst sie daher einzeln in einem absoluten Sinn auf. Das Unpersönliche ist Dasein, Bewusstsein, Seligkeit, nicht eine Person, sondern ein Zustand. Die Person ist das Seiende, das Bewusste, das Selige. Bewusstsein, Dasein, Seligkeit als getrennte Dinge aufgefasst, sind lediglich Zustände ihres Wesens. Doch tatsächlich sind die beiden (persönliches Wesen und ewiger Zustand) untrennbar und eine Wirklichkeit.
Worte Sri Aurobindos
Auf allen Ebenen ist die essentielle Erfahrung von Sachchidananda die gleiche – reines Dasein, Bewusstsein, reine Seligkeit –, und das Mental ist häufig mit ihr als der alleinigen Wahrheit zufrieden und verwirft alles Übrige als Teil der großen Illusion. Doch es gibt auch eine dynamische Erfahrung des Göttlichen oder des Daseins (zum Beispiel als der Eine und die Vielen, als das Persönliche und Unpersönliche, als der Unendliche und Endliche usw.), die für das integrale Wissen wesentlich ist. Die dynamische Erfahrung ist auf den niederen Ebenen nicht die gleiche wie auf den höheren, den dazwischenliegenden spirituellen Ebenen und im Supramental. Auf den niederen Ebenen können die Gegensätze nur zusammengefügt und harmonisiert werden, im Supramental hingegen schmelzen sie zusammen und sind untrennbar eins. Das ist ein gewaltiger Unterschied.
Das Universum ist Dynamik, Bewegung – die essentielle Erfahrung des Sachchidananda als solchem, fern von Dynamik und Bewegung, ist statisch. Die volle dynamische Wahrheit des Sachchidananda und des Universums sowie ihre Bedeutung können durch kein anderes Bewusstsein als das des Supramentals erkannt werden, da die Instrumentation auf allen anderen, niedrigeren Ebenen eine geringere ist. Daher besteht eine Diskrepanz zwischen der Fülle statischer Erfahrung und der Unvollständigkeit der dynamischen Macht und Erkenntnis, die von dem geringeren Licht und der geringeren Macht anderer Ebenen herrührt. Das ist der Grund, weshalb das Bewusstsein anderer spiritueller Ebenen, selbst wenn es herabkommt, keine durchgreifende Veränderung im Erdbewusstsein bewirken kann, es vermag dieses lediglich abzuwandeln oder zu bereichern. Die radikale Umwandlung bedarf der Herabkunft einer supramentalen Macht und Natur.
Worte Sri Aurobindos
Es ist nicht möglich, Nirvana in einer Welt oder auf einer Ebene zu lokalisieren, denn die Sehnsucht nach Nirvana besteht in einer Abkehr von der Welt und den Werten der Welt. Nirvana ist ein Zustand des Bewusstseins oder vielmehr des Überbewusstseins ohne Ort oder Ebene. Es ist mehr als nur eine Art von Nirvana möglich. Der Mensch, der ein mentales Wesen in einem Körper ist, manomaya purusa, unternimmt diesen Versuch der Abkehr vom Kosmos mit Hilfe des spiritualisierten Mentals. Er hat keine andere Möglichkeit, und dies lässt ihm die Abkehr wie ein Verlöschen oder eine Auflösung, laya oder nirvana, erscheinen, denn das Verlöschen des Mentals mit allem, was von ihm abhängt, einschließlich des trennenden Egos, in etwas Jenseitiges ist der natürliche, der beinahe unerlässliche Weg eines derartigen Sich-Zurückziehens. In einem mehr bejahenden Yoga, welcher die Transzendenz und nicht die Abkehr sucht, gäbe es diese Unausweichlichkeit nicht, denn hier bestünde der bereits erwähnte Weg in der Selbstüberschreitung oder der Umwandlung des mentalen Wesens. Diese kann man aber auch mit Hilfe einer bestimmten Nirvana-Erfahrung erlangen, einem absoluten Schweigen des Mentals, einem Aufhören seiner Tätigkeiten, Begriffsbildungen, Vorstellungen, was so vollständig sein kann, dass sowohl dem schweigenden Mental als auch den untätigen Sinnen die ganze Welt ihrer Dichte und Wirklichkeit beraubt wird und die Dinge lediglich als nicht-substantielle Formen erscheinen, ohne wirkliche Veränderung, oder aber in Etwas treibend, das ein namenloses Unendliches ist: Dieses Unendliche oder etwas jenseits davon ist Das, welches allein wirklich ist. Eine absolute Ruhe, ein Frieden, eine Befreiung wären der daraus resultierende Zustand. Das Tun bestünde fort, doch würde das schweigende, befreite Bewusstsein es weder auslösen noch daran teilnehmen. Eine namenlose Macht täte alles, bis das Herabkommen von oben beginnt, welches das Bewusstsein umwandelt und sein Schweigen und seine Freiheit zur Grundlage eines leuchtenden Wissens, Handelns und Ananda macht. Doch dieser Weg wäre selten; meist genügt das Schweigen des Mentals, eine Befreiung des Bewusstseins, eine Zurückweisung seines Glaubens an die endgültigen Werte oder Wahrheiten der unvollkommenen Vorstellungen oder Begriffsbildungen des Mentals, um das höhere Wirken zu ermöglichen.
Nun zum kosmischen Bewusstsein und Nirvana. Das kosmische Bewusstsein ist eine komplizierte Angelegenheit. Es hat zwei Seiten, einmal die Erfahrung des freien, unendlichen, schweigenden, untätigen Selbstes, eins in allem und jenseits von allem, und dann die direkte Erfahrung der kosmischen Energie und ihrer Kräfte, ihres Wirkens und ihrer Formungen. Diese letztere Erfahrung ist erst dann vollständig, wenn man das Gefühl hat, mit dem Universum im Einklang zu stehen, es zu durchdringen, zu überschreiten, es zu enthalten. Bis dahin mag man direkte Kontakte, Verbindungen und Austausch mit kosmischen Kräften, Wesenheiten und Bewegungen haben, doch nicht das volle Einssein des Mentals mit dem kosmischen Mental, des Lebens mit dem kosmischen Leben, des Körpers und physischen Bewusstseins mit der kosmischen stofflichen Energie und ihrer Substanz. Und weiterhin kann eine Verwirklichung des Kosmischen Selbstes stattfinden, doch ohne die Verwirklichung des dynamischen, universalen Einsseins. Oder aber es kann eine dynamische Universalisierung des Bewusstseins stattfinden, ohne die Erfahrung des freien, statischen, überall gegenwärtigen Selbstes – das Inanspruchgenommensein durch die größeren Energien, das man auf diese Weise erfährt, und das Gefallen an ihnen würden jedoch ein Anhalten auf dem Weg der Befreiung bedeuten. Ebenso kann die Identifizierung oder Universalisierung auf einer bestimmten Stufe oder Ebene ausgeprägter sein als auf einer anderen, also vorwiegend mental oder vorwiegend emotional (was sich in universalem Mitleid oder in universaler Liebe ausdrücken würde) oder aber vital (in der Erfahrung universaler Lebenskräfte) oder physisch. Doch auf jeden Fall, sogar in der vollen Verwirklichung und Erfahrung, sollte es klar sein, dass dieses kosmische Spiel letzten Endes etwas Begrenztes, Unwissendes und seiner wahren Natur nach Unvollkommenes ist. Die freie Seele kann es unberührt und unbewegt von seinen Unvollständigkeiten und seiner Wechselhaftigkeit betrachten, sie kann ein bestimmtes Werk verrichten, allen zu helfen versuchen oder ein Instrument des Göttlichen sein, doch gleichen weder die Arbeit noch die Instrumentierung in irgendeiner Weise der Vollendung oder gar dem vollen Licht, der Macht, der Seligkeit des Göttlichen. Dies könnte allein durch einen Aufstieg in höhere Seins-Ebenen erlangt werden oder durch deren Herabkommen in das eigene Bewusstsein – und wenn dies nicht wahrgenommen oder angenommen würde, bliebe immer noch die Sehnsucht nach Nirvana als Fluchtweg bestehen. Der andere Weg wäre das Aufsteigen in diese höheren Ebenen nach dem Tod – die Himmel der Religionen bedeuten letzten Endes nichts anderes als ein derartiges Streben nach einem größeren, leuchtenden und glückseligen Göttlichen Dasein.
Worte Sri Aurobindos
Das Bewusstsein der Individualität weitet sich aus in das kosmische Bewusstsein außerhalb und kann jede Art von Verbindung mit ihm haben, kann es durchdringen, seine Bewegungen erkennen, darauf einwirken oder von ihm empfangen, es kann sogar sein Ausmaß erreichen oder es in sich enthalten. Das heißt in der Sprache der alten Yogasysteme, man habe brahmanda [das Universum als Ei Brahmas] in sich.
Das kosmische Bewusstsein ist das Bewusstsein des Universums, des kosmischen Geistes und der kosmischen Natur mit allen Wesen und Kräften in ihr. All das ist als Ganzes so bewusst wie das Individuum für sich, doch auf andere Weise. Das Bewusstsein der Individualität ist zwar ein Teil davon, doch ein Teil, der sich als getrenntes Wesen empfindet. Dennoch kommt das meiste dessen, was die Individualität ausmacht, vom kosmischen Bewusstsein. Dazwischen aber befindet sich eine Mauer trennender Unwissenheit. Sobald diese niederbricht, wird sich das Individuum des kosmischen Selbstes bewusst, des Bewusstseins der kosmischen Natur, der Kräfte, die in ihr spielen usw. All dies nimmt es so wahr, wie es jetzt physische Dinge und Einflüsse wahrnimmt. Es erkennt, dass alles mit seinem größeren oder universalen Selbst eins ist.
Es gibt das universale Mental, das universale Vital, die universale physische Natur, und aus ihren verschiedenen Kräften und Bewegungen wird das individuelle Mental, das individuelle Vital und Physische geformt. Die Seele aber kommt von jenseits dieser Mental-, Lebens- und Körpernatur. Sie gehört der Transzendenz an, und mit ihrer Hilfe können wir uns der höheren Natur über uns öffnen.
Das Göttliche ist immer der Eine, der die Vielen ist. Der individuelle Geist ist Teil der „Vielen“-Seite des Einen, er lässt das seelische Wesen hervortreten, um es hier in der Erdnatur zu entwickeln. In der Befreiung erkennt das individuelle Selbst sich als der Eine (der dennoch die Vielen ist). Es kann in den Einen eintauchen, mit ihm verschmelzen oder sich in seinen Armen bergen – das ist die laya des Advaita, die Auflösung der individuellen Seele im Unendlichen. Es kann sein Einssein erkennen und dennoch als Teil der Vielen, die der Eine sind, das Göttliche genießen – das ist die Dvaitadvaita-Befreiung, die dualistisch nicht-dualistische Befreiung. Es kann seinen Aspekt der Vielen betonen und vom Göttlichen besessen sein, das ist die Version des modifizierten monistischen Vedanta, oder es kann mit Krishna im ewigen Vrindaban spielen – das ist die Dvaita-Befreiung oder die dualistische Befreiung. Oder es kann, selbst nach der Befreiung, in der lila oder Manifestation verbleiben oder so oft es will in diese herabkommen. Das Göttliche ist nicht an menschliche Philosophien gebunden – es ist frei in seinem Spiel, frei in seiner Essenz.