Kapitel 16

Wie beseitigt man das Ego?

Erst einmal muss man es wollen, und nur sehr wenige Menschen wollen es. Und was sie sagen, die Rechtfertigung ihrer Seinsweise, ist eben dies: „So bin ich nun einmal gemacht, ich kann nicht anders. Und wenn ich dieses oder jenes änderte, diese Sache aufgäbe oder jene ausmerzte, dann würde ich ja gar nicht mehr existieren!“ Und sagt man es auch nicht geradeheraus, so denkt man es doch. Man hängt an all diesen kleinen Wünschen, all diesen kleinen Befriedigungen, all diesen kleinen Seinsweisen, man hängt daran – man klammert sich an sie, will sie nicht fahren lassen. Ich habe Hunderte von Fällen erlebt, wo jemandes Schwierigkeit beseitigt wurde (mit einer bestimmten Kraft hatte man dem Betreffenden eine Schwierigkeit weggeräumt), aber nach ein paar Tagen nahm er sie mit Begeisterung wieder auf! Er erklärte: „Ohne dies existiere ich ja gar nicht mehr!“ Ich kannte Leute, die fast spontan das mentale Schweigen bekommen hatten und die dann nach ein, zwei Tagen ganz entsetzt wiederkamen: „Bin ich denn verblödet?“ – weil eben die mentale Maschine nicht mehr andauernd lief…. Du kannst dir nicht vorstellen, du weißt gar nicht, wie schwer es fällt, sich von diesem kleinen Ego zu trennen; wie breit es sich trotz seiner Winzigkeit macht. Es nimmt so viel Platz ein und ist doch nur mikroskopisch klein. Das ist wirklich schwierig. Und bei gewissen allzu offenkundigen Dingen stößt man es beiseite; wenn da zum Beispiel etwas Gutes zu holen ist und einer losstürzt, um es auch ja als erster zu bekommen (was ja im gewöhnlichen Leben sehr oft geschieht), so sieht man ein, dass das nicht übertrieben hübsch ist und beginnt, solche Grobheiten zu unterdrücken, man strengt sich mächtig an – und wird recht zufrieden mit sich selbst: „Ich bin nicht egoistisch, ich gönne das Gute den anderen, ich beanspruche es nicht für mich“, und man bläht sich auf. Dabei füllt man sich mit einem moralischen Egoismus, der viel schlimmer ist als der physische, weil er sich seiner Überlegenheit bewusst ist. Und dann gibt es jene, die alles aufgeben, allem entsagen, die ihre Familie verlassen, ihren Besitz verteilen und sich in die Einsamkeit zurückziehen, also ein asketisches Leben führen und sich ihrer Überlegenheit schrecklich bewusst sind, indem sie die arme Menschheit von der Höhe ihrer spirituellen Größe herab betrachten – und diese besitzen ein derart fürchterliches Ego, dass sie, sofern dies Ego nicht in kleine Stücke geschlagen wird, das Göttliche niemals zu Gesicht bekommen werden. Eine so leichte Aufgabe ist es also nicht. Sie braucht viel Zeit. Und ich muss dir sagen: auch wenn die Aufgabe getan ist, muss sie immer wieder getan werden…

Hast du das einmal beschlossen, bist du dir darüber völlig klar und weißt, dass das Ziel eine beständige und gespannte Anstrengung lohnt, dann kannst du beginnen. Sonst kippst du nach einiger Zeit um; du verlierst den Mut und sagst: „Ach, es ist zu schwer – man macht etwas, und dann wird es zunichte gemacht, man macht es wieder, und wieder wird es zunichte gemacht, und dann macht man es wieder, und immerfort wird es zunichte gemacht … Was soll‘s? Kommt man denn jemals an?“ Eine Riesengeduld ist nötig. Die Arbeit mag hundertmal zunichte gemacht werden, und du machst sie hundertundeinmal wieder, sie mag tausendmal zunichte gemacht werden, und du machst sie tausendundeinmal wieder, bis sie zu guter Letzt nicht mehr zunichte gemacht wird.

Ja, wenn man aus einem Stück gemacht wäre, ginge es leicht. Aber man besteht aus vielen Teilen. Ein Teil ist den anderen voraus, es hat schon viel Arbeit geleistet, ist sehr bewusst, hellwach, und solange es da ist, geht alles gut, man lässt nichts herein, ist auf der Hut, und dann … schläft man, und beim Erwachen ist da ein anderer Teil, und man fragt sich: „Wo ist denn die ganze Arbeit geblieben, die ich getan habe?“ … Und man muss wieder neu beginnen. Wieder und wieder, bis alle Teile, einer um den anderen, in das Feld der Bewusstheit treten und jeder einzelne sich wandeln lässt. Und hast du alles durchexerziert, so ändert sich etwas, du hast einen Fortschritt gemacht – danach ist zwar wieder ein neuer erforderlich, aber immerhin, dieser ist geschafft. Doch voll und ganz ist er erst dann geschafft, wenn alle Wesensteile, einer um den anderen, nach vorn gebracht sind und man alle, ohne einen einzigen auszulassen, dem Bewusstsein, dem Licht, dem Willen und dem Ziel unterstellt hat, so dass alles sich wandelt.

Wenn man von Anfang an das Problem leibhaftig ergreift, sich mit Mut und Entschlossenheit darauf stürzt und sich, statt eine lange, mühsame, schmerzhafte, enttäuschende Jagd nach Wünschen zu unternehmen, einfach, ganz und gar, bedingungslos hingibt, wenn man sich der Höchsten Wirklichkeit, dem Höchsten Willen, dem Höchsten Wesen hingibt, sich ganz in Seine Hände begibt, in einem Aufbäumen des ganzen Wesens und aller Elemente des Wesens, ohne zu überlegen, dann wäre das der schnellste und radikalste Weg, das Ego loszuwerden. Die Menschen werden sagen, dass es schwierig ist, dies zu tun, aber zumindest ist eine Herzlichkeit da, eine Leidenschaft, ein Enthusiasmus, ein Licht, eine Schönheit, ein glühendes und kreatives Leben…

Allein die Tatsache, nicht an sich selbst zu denken, nicht für sich selbst zu existieren, nichts auf sich selbst zu beziehen, sondern nur an das zu denken, was höchst schön, leuchtend, entzückend, kraftvoll, mitfühlend und unendlich ist, ist eine so tiefe Freude, dass nichts damit verglichen werden kann.

Das ist das Einzige, das es verdient… das es wert ist, versucht zu werden. Alles andere ist nur ein Abwarten.

Es ist ein Unterschied, ob man einen Berg erklimmt, indem man ihn umrundet, langsam, mühsam, Schritt für Schritt, Hunderte von Jahren lang, oder ob man unsichtbare Flügel ausbreitet und direkt zum Gipfel aufsteigt.

Man kann sich nur mit dem Göttlichen vereinen, wenn das Ego gemeistert ist.