Kapitel 8
Die Wahrheiten über Bhagavat und Brindavan
Worte der Mutter
Manche sagen, Krishna habe nie gelebt, er sei ein Mythos. Sie meinen auf der Erde; denn gäbe es Brindavan1 nirgendwo, so hätte das Bhagavat2 nie geschrieben werden können. – SRI AUROBINDO
Gibt es Brindavan noch nirgendwo anders als auf der Erde?
Die gesamte Erde, mit allem, was sie enthält, ist eine Art Zusammenfassung, Verdichtung von etwas, das, dem physischen Auge unsichtbar, in anderen Welten existiert. Jede hier offenbarte Erscheinungsform hat ihr Prinzip, ihre Idee oder ihre Essenz irgendwo in den subtilen Bereichen. Das ist eine unerlässliche Voraussetzung für die Offenbarung. Und die Wichtigkeit der Offenbarung hängt stets vom Ursprung des Offenbarten ab.
In der Welt der Götter gibt es ein ideales und harmonisches Brindavan, von dem das irdische nur eine Entstellung und Karikatur ist.
Jene, die innerlich entwickelt sind, sei es in den Sinnen oder im mentalen Wesen, nehmen diese für den gewöhnlichen Menschen unsichtbaren Wirklichkeiten wahr und empfangen von ihnen ihre Inspiration.
So war jener, der das Bhagavat geschrieben hatte, bestimmt in Verbindung mit einer wirklich vorhandenen Welt, wo der Verfasser oder die Verfasser all das von ihnen Geschilderte oder Enthüllte gesehen und erlebt hatten.
Ob Krishna in einer menschlichen Gestalt auf der Erde gelebt hat, ist von höchst zweitrangiger Bedeutung (außer vielleicht von einem rein historischen Gesichtspunkt aus), denn Krishna ist ein wirkliches, lebendiges und handelndes Wesen, und sein Einfluss ist eine der großen Kräfte für den Fortschritt und die Umwandlung der Erde gewesen.

1 Das Dorf, wo Sri Krishna seine Kindheit verbrachte und wo er mit Radha und den anderen Gopis (Hirtinnen) tanzte.
2 Das Bhagavat Purana, in dem Krishnas Geschichte erzählt wird.
Kapitel 9
Gottes Umgang mit der Menschheit
Worte Sri Aurobindos
…es handelt sich hier um die typische, geradezu symbolische Bedeutung des menschlichen Krishna, der nicht als ihr Held sondern als ihr geheimer Mittelpunkt und verborgener Lenker hinter der großen Handlung des Mahabharata steht. Diese Handlung ist die Aktion einer ganzen Welt von Menschen und Nationen. Einige von ihnen kamen als Helfer in einem Ringen und für ein Ergebnis, von dem sie persönlich nicht profitierten. Für jene ist er ein Führer. Andere kamen als Gegner in dieser Aktion. Ihnen ist er ein Widersacher, der ihre Pläne zunichte macht, der sie tötet, und es scheint sogar, als sei er für einige von ihnen der Anstifter alles Bösen und der Zerstörer ihrer alten Ordnung und ihrer vertrauten Welt sicherer Konventionen von Tugend und Recht. Einige sind die Repräsentanten von dem, was zur Erfüllung gebracht werden muss. Für diese ist er Berater, Helfer und Freund. Wo die Aktion ihren natürlichen Verlauf nimmt oder wo die, die das Werk ausführen, durch dessen Feinde zu leiden haben und sich den qualvollen Prüfungen unterziehen müssen, die sie für die Meisterschaft vorbereiten, bleibt der Avatar unsichtbar oder er erscheint nur, um gelegentlich Trost zu spenden und Hilfe zu leisten. Doch wird bei jeder Entscheidung seine Hand gefühlt, wenn auch derart, dass alle sich einbilden, sie seien die Träger der Handlung. Selbst Arjuna, sein nahestehender Freund und wichtigstes Werkzeug, merkt nicht, dass er Werkzeug ist, und muss schließlich bekennen, dass er die ganze Zeit über seinen göttlichen Freund nicht wirklich erkannte. Von seiner Weisheit hat er Rat empfangen, von seiner Macht Hilfe. Er hat geliebt und Liebe empfangen, er hat sogar, ohne seine göttliche Natur zu verstehen, ihn angebetet. Aber er ist wie alle anderen durch seinen eigenen Egoismus geführt worden. Rat, Hilfe und Leitung wurden ihm in der Sprache der Unwissenheit gegeben, und er hat sie durch deren Gedanken empfangen. Bis zu dem Augenblick, da sich alles auf den furchtbaren Austrag des Kampfes auf dem Schlachtfeld von Kurukshetra zugespitzt hat und der Avatar schließlich, zwar nicht als Kämpfer, aber als Wagenlenker, in dem Kampfwagen steht, der das Schicksal in der Schlacht entscheidet, hat Er sich selbst denen gegenüber nicht geoffenbart, die er auserwählt hat.
So wird die Gestalt Krishnas sozusagen zum Symbol des Umgangs Gottes mit der Menschheit.

Kapitel 10
Die symbolische Kameradschaft von Arjuna und Krishna
Worte Sri Aurobindos
Die symbolische Kameradschaft von Arjuna und Krishna, der menschlichen und der göttlichen Seele, wird auch anderswo im indischen Denken erwähnt: in der Himmelsreise von Indra und Kutsa, die in demselben Wagen sitzen; in dem Gleichnis der beiden Vögel auf dem einen Baum in der Upanishad, in den Zwillingsgestalten von Nara und Narayana, der beiden Seher, die zusammen tapasya üben zur Erlangung des Wissens. In allen drei Fällen ist es aber das Streben nach dem göttlichen Wissen, in dem, wie die Gita sagt, alles beabsichtigte Handeln gipfelt. Hier dagegen ist es die Aktion selbst, die zu jenem Wissen führt und in der der göttliche Wissende selbst auftritt. Arjuna und Krishna, die menschliche und die göttliche Gestalt, stehen nicht als Seher in der friedlichen Einsiedelei der Meditation beieinander, sondern als Kämpfer und als Zügelhalter auf dem lärmenden Schlachtfeld, inmitten der schwirrenden Speere, im Streitwagen. Der Lehrer der Gita ist deshalb nicht nur der Gott im Menschen, der sich in der Welt des Wissens enthüllt, sondern der Gott im Menschen, der unsere ganze Welt des Handelns bewegt, durch den und für den unsere ganze Menschheit existiert, kämpft und sich abmüht, zu dem hin die Fahrt alles menschlichen Lebens und dessen Fortschreiten geht. Er ist der geheime Meister der Werke und Opfer und der Freund der Völker der Menschheit.

Worte der Mutter
Krishna kam auf die Erde, um Freiheit und Freude zu bringen. Er verkündete den Menschen, – die Sklaven ihrer eigenen Natur sind, Sklaven von Leidenschaften und Irrtümern –, dass sie von aller Versklavung und aller Sünde frei werden, wenn sie im Erhabenen Herrn ihre Zuflucht nehmen. Aber die Menschen hängen sehr an ihren Lastern und an ihren Tugenden (denn ohne Laster gäbe es keine Tugend); sie sind in ihre Sünden verliebt und dulden niemanden, der frei und über Irrtum erhaben ist.
Deshalb weilt Krishna, obwohl er unsterblich ist, zur Stunde nicht physisch in Brindavan.

Worte Sri Aurobindos
Es gibt vier sehr bedeutsame historische Ereignisse: Die Belagerung von Troja, das Leben und die Kreuzigung von Christus, die Verbannung Krishnas in Brindavan und das Gespräch mit Arjuna auf dem Schlachtfeld von Kurukshetra. Die Belagerung von Troja schuf Hellas, die Verbannung in Brindavan schuf die hingebungsvolle Religion (denn vorher gab es nur Meditation und Verehrung), Christus humanisierte von seinem Kreuz aus Europa, das Gespräch auf Kurukshetra wird die Menschheit noch befreien. Und dennoch wird behauptet, keines dieser vier Ereignisse habe je stattgefunden.

Teil 2 DIE HISTORIE SRI KRISHNAS
Kapitel 1
Sri Krishna existierte tatsächlich auf der Erde
Worte Sri Aurobindos
Die Historie Krishnas hat keine große spirituelle Bedeutung, sie ist nicht wesentlich, hat aber dennoch einen gewissen Wert. Ohne jeden Zweifel ist der Mensch Krishna keine Legende oder dichterische Erfindung, sondern lebte tatsächlich auf Erden und spielte eine Rolle in der indischen Vergangenheit. Zwei Tatsachen zeichnen sich deutlich ab, einmal, dass er als eine wichtige spirituelle Gestalt betrachtet wurde, deren spirituelle Erleuchtung in einer der Upanishaden erwähnt wird; und dann, dass er allgemein als ein göttlicher Mensch angesehen wurde, einer, der nach seinem Tod als Gottheit verehrt wird; dies hat mit der Erzählung im Mahabharata und in den Puranas nichts zu tun. Es besteht kein Grund zur Annahme, dass die Verbindung seines Namens mit der Bhagavata-Religion, einer wichtigen Strömung im Strom indischer Spiritualität, auf einer reinen Legende oder dichterischen Erfindung beruht. Das Mahabharata ist ein Epos und nicht Geschichte, es ist jedoch klar und deutlich ein Epos, das sich auf einem großen historischen Ereignis gründet, welches durch diese Art der Überlieferung im Gedächtnis bewahrt wurde; einige der in ihm vorkommenden Gestalten, Dhritarashtra und Parikshit zum Beispiel, haben mit Sicherheit gelebt, und die Erzählung, in der Krishna der Heerführer, Krieger und Staatsmann ist, kann als wahrscheinlich angenommen werden und gründet sich vermutlich auf einer geschichtlichen Überlieferung – sie hat nicht den Anschein einer Mythe oder rein dichterischen Erfindung. Soviel kann man, was die geschichtliche Figur des Menschen Krishna anbelangt, von der Theorie und Vernunft her mit Sicherheit sagen. Meiner eigenen Ansicht nach ist viel mehr als dies in ihr enthalten – ich habe immer die Inkarnation als Tatsache angesehen und die Historie Krishnas anerkannt, genauso wie ich die Historie Christi anerkenne.
Die Erzählung von Brindavan ist etwas anderes. Sie ist im Mahabharata nicht enthalten, sondern hat puranischen Ursprung und man könnte behaupten, dass ihr symbolischer Charakter von Anfang an geplant war. Es gab eine Zeit, in der ich mich dieser Auffassung anschloss, doch später musste ich sie fallenlassen; nichts in den Puranas verrät eine derartige Absicht. Mir scheint vielmehr, dass die Geschichte als etwas erzählt wird, das tatsächlich geschah oder irgendwo geschieht. Die Gopis sind Wirklichkeiten und keine Symbole. Zumindest werden sie als eine okkulte Wahrheit aufgefasst – und okkult und symbolisch ist nicht das Gleiche. Das Symbol ist möglicherweise nur eine bedeutsame mentale Konstruktion oder eine phantasievolle Erfindung, das Okkulte aber ist eine Realität, die gleichsam irgendwo hinter der stofflichen Szene Tatsache ist und seine Wahrheit für das Erdenleben haben kann – sein Einfluss darauf kann sich sogar hier verkörpern. Das Spiel, lila, der Gopis scheint als etwas aufgefasst zu werden, das sich ewig in einem göttlichen Gokul abspielt und sich in einem Brindavan auf Erden projiziert – es ist etwas, das immer erkannt und dessen Sinn für die Seele immer Wirklichkeit werden kann. Die Verfasser der Puranas waren offensichtlich der Meinung, dass es [das göttliche Gokul] im Leben des inkarnierten Krishna tatsächlich auf die Erde projiziert wurde – und der religiöse Geist Indiens akzeptierte diese Auffassung.
All diese Fragen und die daraus resultierenden Spekulationen haben keinen unmittelbaren Zusammenhang mit dem spirituellen Leben. Was dort zählt, ist die Fühlungnahme mit Krishna und dass man dem Krishna-Bewusstsein entgegenwächst; es zählt die Gegenwart, die spirituelle Verbindung, die Einung in der Seele und, solange dies noch nicht erreicht ist, das Streben, die zunehmende Bhakti und jede Art von Erleuchtung, wie immer sie auch sei, die man auf dem spirituellen Weg erhalten kann. Einer, der diese Dinge erfahren hat, der in der Gegenwart lebte, der die Stimme hörte, der Krishna als Freund oder Liebenden erkannte, als Führer, Lehrer, Meister oder – mehr noch – dessen ganzes Bewusstsein durch die Berührung verändert wurde, der die Gegenwart in sich fühlte – für den haben all diese Fragen nur ein äußerliches und oberflächliches Interesse. Ebensowenig zählt alles Übrige für den, der Fühlung mit dem inneren Brindavan und der lila, dem Spiel der Gopis hatte, der die Hingabe vollzog, der dem Zauber der Freude und Schönheit erlag oder selbst für den, der vielleicht nur den Flötenton hörte. Wenn man jedoch vom anderen Standpunkt ausgeht und die historische Wirklichkeit der Inkarnation hinnehmen kann, ergibt sich der große spirituelle Vorteil, dass man gleichsam einen point d'appui, einen Anhaltspunkt für eine konkretere Verwirklichung hat, in der Überzeugung, dass wenigstens einmal das Göttliche die Erde sichtbar berührte und die vollendete Manifestation möglich machte – der göttlichen Übernatur es gleichsam ermöglichte, in diese sich entfaltende, doch noch sehr unvollkommene Erdnatur herabzukommen.
