Kapitel 2
Der äußere Aspekt hat nur sekundäre Bedeutung
Worte Sri Aurobindos
Zweifellos hat der historische Krishna existiert. Wir begegnen dem Namen zuerst in der Chhandogya Upanishad. Alles, was wir dort über ihn erfahren können, ist, dass er in der spirituellen Tradition wohlbekannt war als einer, der das Brahman kannte, seiner Persönlichkeit und den Umständen seines Lebens nach tatsächlich so sehr bekannt, dass es genügte, ihn mit dem Namen seiner Mutter als Krishna, den Sohn von Devaki, zu erwähnen, und alle verstanden, wer gemeint war. In derselben Upanishad finden wir die Erwähnung eines Königs Dhritarashtra, eines Sohnes von Vichitravirya. Da nun die Tradition diese beiden so eng miteinander verknüpft, dass beide führende Persönlichkeiten in der Handlung des Mahabharata sind, dürfen wir wohl mit Recht schließen, dass beide tatsächlich Zeitgenossen waren und dass sich das Epos großenteils mit historischen Persönlichkeiten beschäftigt und mit dem Kampf bei Kurukshetra eine historische Begebenheit behandelt, die sich dem Gedächtnis der Menschen stark eingeprägt hatte. Wir wissen auch, dass Krishna und Arjuna in den vorchristlichen Jahrhunderten religiös verehrt wurden. Auch ist die Vermutung wohl begründet, dass sie in Verbindung mit einer religiösen und philosophischen Tradition verehrt wurden, von der die Gita viele ihrer Elemente und sogar die Grundlage ihrer Synthese von Wissen, Gottesverehrung und Wirken entnommen haben mag. Vielleicht war der menschliche Krishna auch der Begründer, Wiederhersteller oder zumindest einer der frühen Lehrer dieser Schule. Trotz ihrer späteren Form mag die Gita sehr wohl das Ergebnis der Lehre Krishnas im indischen Denken sein. Und die Verbindung dieser Lehre mit dem historischen Krishna, mit Arjuna und dem Kampf bei Kurukshetra mag etwas mehr sein als nur ein erdichtetes Drama. Im Mahabharata wird Krishna sowohl als die historische Persönlichkeit wie als der Avatar dargestellt. Seine Verehrung und seine Avatarschaft mag zu jener Zeit – offenbar vom fünften bis zum ersten Jahrhundert vor Christus – in fester Form existiert haben, als die alte Geschichte und die Dichtung oder epische Tradition der Bharatas ihre jetzige Form annahmen. In der Dichtung gibt es auch eine Andeutung von der Geschichte oder Legende vom frühen Leben des Avatars in Vrindavan, das von den Purunas zu einem hellen und machtvollen spirituellen Symbol entwickelt wurde und so tiefen Einfluss auf das religiöse Gemüt Indiens ausgeübt hat. Ebenso haben wir in der Harivansha einen Bericht über das Leben Krishnas, ganz offensichtlich voller Legenden, die vielleicht die Grundlage für die Erzählungen der Puranas bildeten.

Wenn wir so den Begriff der Avatarschaft verstehen, sehen wir, dass der äußere Aspekt sowohl für die fundamentale Lehre der Gita, für unseren jetzigen Gegenstand wie auch für das spirituelle Leben im Allgemeinen nur von sekundärer Bedeutung ist. Einem spirituell-gesinnten Inder würde solch ein Streit, wie er in Europa über die Geschichtlichkeit Christi aufflammte, weithin als Zeitvergeudung erscheinen. Er würde ihm beträchtliche historische Bedeutung zugestehen, jedoch kaum religiöse Bedeutung. Wie wichtig ist es schließlich, ob ein Jesus, Sohn des Zimmermanns Joseph, tatsächlich in Nazareth oder in Bethlehem geboren wurde, lebte, lehrte und aufgrund einer wirklichen Schuld oder falschen Beschuldigung als Aufständischer getötet wurde, solange wir durch unsere spirituelle Erfahrung den inneren Christus erkennen, emporgehoben in das Licht seiner Lehre leben und dem Joch des natürlichen Gesetzes durch jene Versöhnung des Menschen mit Gott entkommen können, deren Symbol die Kreuzigung ist? Wenn der Christus, der zum Menschen gewordene Gott, im Inneren unseres spirituellen Wesens lebt, dürfte es kaum wichtig sein, ob er, ein Sohn Marias, in Judäa körperlich lebte, litt und starb oder nicht. So ist auch der Krishna, der für uns bedeutsam wird, die ewige Inkarnation des Göttlichen und nicht der historische Lehrer und Lenker der Menschen.
Bei unserem Forschen nach dem Kerngedanken der Gita brauchen wir uns deshalb nur um die spirituelle Bedeutung des menschlich-göttlichen Krishna des Mahabharata zu kümmern, der uns als der Lehrer Arjunas auf dem Schlachtfeld von Kurukshetra dargestellt wird.

481. – Der Sucher göttlichen Wissens findet in der Schilderung, wie Krishna die Kleider der Gopis stiehlt, eines der tiefsten Gleichnisse von Gottes Umgang mit der Seele – der Gläubige eine vollkommene Übertragung der mystischen Erfahrungen seines Herzens in göttliches Wirken, der Lüsterne und der Puritaner (zwei Gesichter ein und desselben Temperaments) nur eine wollüstige Geschichte. Die Menschen sehen in den Schriften gespiegelt, was in ihnen ist.
