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  1. ALLES LEBEN IST YOGA
  2. Was ist Yoga

Was ist Yoga

Sri Aurobindo | Die Mutter

Inhaltsverzeichnis

  1. Zitate
  2. 1. WAS IST YOGA
    1. 1. Das, was wir unser Selbst nennen
    2. 2. Was ist Yoga?
    3. 3. Die Yoga-Systeme
    4. 4. Der Integrale Yoga
    5. 5. Dies ist das Ziel deines Daseins
    6. 6. Der Pfad
    7. 7. Schwierigkeiten und Yoga
    8. 8. Yoga im alltäglichen Leben
  3. Bibliographie

Gott im Leben zu verwirklichen, ist des Menschen Menschentum.

– Sri Aurobindo

Das Leben des Menschen ist solange unerfüllt, bis er das Göttliche gefunden hat.

– Die Mutter

Sri Aurobindo | Die Mutter WAS IST YOGA

Kapitel 1

Das, was wir unser Selbst nennen

Worte Sri Aurobindos

Blick auf zur Sonne. Er ist dort in jenem wunderbaren Herzen des Lebens und Lichtes und Glanzes. Sieh des Nachts die zahllosen Konstellationen, die leuchten wie viele heilige Wachfeuer des Ewigen in der grenzenlosen Stille, die keine Leere ist, sondern pocht mit der Gegenwart einer einzigen, ruhigen und gewaltigen Existenz. Schau dort Orion mit seinem Schwert und Riemen, leuchtend wie einst den arischen Vorvätern vor zehntausend Jahren zu Beginn des arischen Zeitalters, schau Sirius in seinem Glanz und Lyra Millionen von Meilen entfernt im Ozean des Raumes segelnd. Denk daran, dass diese zahllosen Welten – die meisten von ihnen mächtiger als unsere eigene – mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit wirbeln auf Geheiß jenes Urahns, und Er allein weiß, wohin, und dass sie doch millionenfach älter sind als dein Himalaya, beständiger als die Wurzeln deiner Hügel, und dass sie dies bleiben werden, bis Er auf seinen Willen hin sie abschütteln wird wie welke Blätter vom ewigen Baum des Universums. Stell dir die Endlosigkeit der Zeit vor, erkenne die Grenzenlosigkeit des Raumes, und dann denk daran, dass Er war, Derselbe wie jetzt, als diese Welten nicht waren, und wenn diese nicht sind, Er sein wird, immer noch Derselbe. Sieh, dass jenseits von Lyra Er ist, und weit fern im Raum, wo die Sterne des Kreuzes des Südens nicht gesehen werden können, ist Er doch da. Und dann komm zurück zur Erde und erkenne, wer Er ist. Er ist dir ganz nahe. Sieh dort den alten Mann, der nahe an dir vorübergeht, gebückt und gebeugt, mit seinem Gehstock. Erkennst du, dass dies Gott ist, der da vorübergeht? Dort lacht ein Kind und läuft im Sonnenlicht. Kannst du Ihn hören in jenem Lachen? Ja, Er ist dir noch näher. Er ist in dir, Er ist du. Du selbst bist es, der dort Millionen von Meilen entfernt in den unendlichen Weiten des Raumes brennt, der mit sicheren Schritten wandelt auf den rollenden Wogen des Äthermeeres. Du bist es, der die Sterne an ihren Ort gesetzt hat und das Halsband der Sonnen gewebt hat, nicht mit Händen, sondern durch jenen Yoga, jenen stillen handlungslosen unpersönlichen Willen, der dich heute hierher gebracht hat und dich veranlasst, mir zuzuhören. Blick auf, O Kind des Yoga alter Zeiten, sei nicht mehr ein Zauderer und Zweifler, fürchte dich nicht, zweifle nicht, sorge dich nicht, denn in deinem Scheinkörper ist Einer, der Welten mit einem Atemzug erschaffen und zerstören kann.

Worte Sri Aurobindos

Yoga beginnt bei der Wahrnehmung, dass das, was wir als unser Selbst erkennen und so nennen, nur eine unwissende, partielle und äußere Erscheinung unserer Natur ist. Dieses „Ich“ ist nicht unser ganzes Selbst, nicht einmal unser wahres Selbst. Es ist lediglich eine kleine repräsentative Persönlichkeit, die von dem wahren und ewigen Wesen in uns für die Erfahrung dieses kurzen Lebens in den Vordergrund gebracht worden ist. Wir sind nicht nur in der Vergangenheit gewesen und können zukünftig sein, sondern wir sind weitaus mehr als das, was wir gegenwärtig in der Totalität unseres Wesens und unserer Natur sind. In uns gibt es eine geheime Seele, die unsere wahre Person ist. In uns gibt es ein geheimes Selbst, das unser wahres unpersönliches Selbst und unser Geist ist. Diese Seele und dieses Selbst zu enthüllen ist eine der bedeutendsten Bewegungen des Yoga.

Kapitel 2

Was ist Yoga?

Worte Sri Aurobindos

Yoga ist in seiner Essenz ein Übergang aus dem gewöhnlichen Bewusstsein, in dem wir nur der äußeren Erscheinungen gewahr sind, in ein höheres, weiteres und tieferes Bewusstsein, in dem wir uns den Wirklichkeiten und der einen Wirklichkeit bewusst werden. Wir werden uns ihrer nicht nur bewusst, sondern wir können in ihr leben und aus ihr und ihr entsprechend handeln, anstatt in und entsprechend den Erscheinungen der Dinge zu leben. Yoga ist ein Übergang aus der Unwissenheit zum Selbst-Wissen, aus unserem scheinbaren Wesen in unser wahres Wesen, aus einer äußerlich erscheinenden mentalen, vitalen und materiellen Lebens-Existenz in eine innere spirituelle Existenz und eine spiritualisierte Natur.

Durch Yoga gehen wir von dem äußeren in den wirklichen Menschen über, aus dem Bewusstsein unserer eigenen scheinbaren äußeren Natur in das Bewusstsein unseres wirklichen Selbstes, Atman, eines inneren und innersten Menschen, Purusha, der wir wahrhaftig und immerwährend sind. Dieses Selbst oder wahre Wesen bleibt beständig, während sich unser äußeres Wesen, das Mental, das Leben oder der Körper oder unsere scheinbare Persönlichkeit sich wandeln. Dieses Selbst ist beständig, ewig und unsterblich, ein Teil oder eine Offenbarung des Ewigen.

Durch Yoga gehen wir ebenso von unserem Bewusstsein der sichtbaren Erscheinung oder kosmischen Erscheinungen oder der Welt um uns über in ein Bewusstsein seiner Wahrheit und Wirklichkeit. Wir werden der Welt bewusst als der Offenbarung eines universalen Wesens oder in einem universalen Wesen, das die wirkliche Wahrheit von allem ist, das wir sehen, hören und erfahren. Wir werden eines kosmischen Bewusstseins gewahr, welches das Geheimnis der kosmischen Energie ist, eines kosmischen Selbstes oder Geistes, des kosmisch Göttlichen, der universalen Gottheit.

Aber durch Yoga werden wir uns auch dessen bewusst, dass unser eigenes Selbst oder wahres Wesen eins ist mit dem kosmischen Selbst und Geist, unsere Natur ein Spiel der kosmischen Natur ist. Die Wand zwischen uns und dem Universum beginnt zu verschwinden und löst sich gänzlich auf. Wir verwirklichen dasselbe Pantheos (griech.: kosmische spirituelle Existenz) in uns, in anderen und in der ganzen universalen Existenz.

Aber ebenso werden wir uns durch Yoga etwas bewusst, das mehr ist als unser individuelles Dasein und mehr als das kosmische Dasein, nämlich ein transzendentes Wesen oder Sein, das nicht von unserer oder der Existenz des Universums abhängt. Unser Dasein ist eine Offenbarung von und in diesem Sein, ebenso ist der Kosmos eine Offenbarung von und in diesem einen Höchsten Sein.

Dies ist schließlich die Wahrheit oder Wirklichkeit, zu der wir durch Yoga gelangen: der eines einzigen und höchsten Wesens oder Seins und der Macht des Seins, das sich als ein kosmisches Selbst oder kosmischer Geist und eine kosmische Energie oder kosmische Natur offenbart, in denen wiederum unser eigenes Selbst oder unser eigener Geist sich seiner selbst als ein individuelles Wesen und eine individuelle Natur bewusst wird.

Worte Sri Aurobindos

Bei rechter Betrachtung von Leben und Yoga erkennen wir, dass alles Leben bewusst oder unbewusst Yoga ist. Denn unter dem Begriff Yoga verstehen wir das methodische Bemühen, zur Selbst-Vollendung zu gelangen, indem wir alle Möglichkeiten, die in unserem Wesen verborgen sind, zum Ausdruck bringen und unser individuelles Menschsein mit dem universalen und transzendenten Sein, das wir partiell im Menschen und im Kosmos offenbart sehen, zur Einung bringen. Alles Leben ist, wenn wir hinter seine Erscheinungen schauen, ein unermesslicher Yoga der Natur, die versucht, ihre Vollkommenheit in einem stetig wachsenden Ausdruck ihrer Möglichkeiten zu verwirklichen und sich mit ihrer eigenen göttlichen Wirklichkeit zu einen. Im Menschen, ihrem Denker, erschafft sie sich zum ersten Mal auf dieser Erde ein sich seiner selbst bewusstes Werkzeug und den Vollstrecker ihres Willens, wodurch ihre große Absicht rascher und machtvoller zustande gebracht werden kann. Yoga, wie Swami Vivekananda gesagt hat, kann man als ein Mittel auffassen, wodurch wir unsere eigene Entwicklung in ein einziges Leben oder in ein paar Jahre oder sogar in wenige Monate dieses körperlichen Daseins zusammenzudrängen vermögen. Demnach kann ein gegebenes Yoga-System nicht mehr als eine Auswahl oder eine Konzentration – zwar in begrenzter, aber dennoch intensiverer Form – der allgemeinen Methoden der Natur sein, wie sie jetzt noch von der großen Mutter bei ihrer gewaltig emporsteigenden Arbeit verwendet werden: nämlich unexakt, weitläufig, in gemächlichen Bewegungen und mit einer sichtlich ungeheuren Verschwendung an Material und Energie, aber doch mit einer immer vollständigeren Kombination. Nur ein solches Verständnis des Yoga als eine Intensivierung aller Naturkräfte kann die Grundlage für eine gesunde und rationale Synthese der Yoga-Methoden darstellen. Dann erscheint der Yoga nicht länger als etwas Mysteriöses und Abnormes, das keine Beziehung zu den gewöhnlichen Prozessen der Welt-Energie oder zu der Absicht hat, die sie in ihren beiden großen Bewegungen der subjektiven und objektiven Selbst-Erfüllung im Auge hat. Vielmehr offenbart sich der Yoga als eine intensive und außergewöhnliche Anwendung von Mächten, die die Natur bereits offenbart oder noch fortschreitend in ihren weniger hervorragenden, aber allgemeineren Verfahrensweisen organisiert.

Die Methoden des Yoga stehen zu den herkömmlichen psychologischen Wirkensweisen des Menschen in einer ähnlichen Beziehung wie die wissenschaftliche Handhabung der natürlichen Kraft der Elektrizität oder des Dampfes zu deren normaler praktischer Anwendung. Auch die Methoden des Yoga werden aufgrund eines Wissens gebildet, das durch regelmäßiges Experiment, praktische Analyse und ständige Prüfung des Resultates entwickelt und bestätigt wird. So hängt zum Beispiel der ganze Raja-Yoga von der Wahrnehmung und Erfahrung ab, dass wir unsere inneren Elemente, Kombinationen, Funktionen und Kräfte voneinander absondern oder sie auflösen, neu kombinieren und zu neuartigen, vorher unmöglichen Wirkensweisen bringen oder dass wir sie umwandeln und durch festgelegte innere Prozesse zu einer neuen allgemeinen Synthese zusammenfassen können. In ähnlicher Weise gründet sich der Hatha-Yoga auf die Wahrnehmung und Erfahrung, dass die vitalen Kräfte und Funktionen, denen unser Leben normalerweise unterworfen ist und deren gewöhnliche Abläufe festgelegt und unentbehrlich zu sein scheinen, gemeistert und ihre Prozesse umgewandelt oder aufgehoben werden können, so dass Resultate entstehen, die sonst unmöglich sind und die jenen Menschen, die den inneren Grund ihres Zustandekommens nicht verstehen, als mirakulös erscheinen. Dieser Charakter fällt in einigen anderen Formen des Yoga weniger in die Augen, weil sie mehr intuitiv und weniger mechanisch sind. Sie stehen, wie der Bhakti-Yoga der Hingabe des Herzens, einer himmlischen Ekstase näher, oder sie führen zu einer erhabenen Unendlichkeit des Bewusstseins und Seins wie der Jnana-Yoga des Wissens. Aber auch sie nehmen ihren Ausgangspunkt in der Verwendung einer bestimmten Hauptbefähigung in uns mit Methoden und zu Zwecken, die bei der alltäglichen spontanen Wirkensweise der Natur nicht vorgesehen sind. Alle unter dem gemeinsamen Namen Yoga zusammengefassten Methoden sind spezielle psychologische Prozesse, die sich auf eine festgelegte Wahrheit der Natur gründen und aus unseren normalen Funktionen Mächte und Resultate entwickeln, die zwar immer latent vorhanden sind, aber in den gewöhnlichen Abläufen der Natur nicht leicht und nicht oft in Erscheinung treten.

Wie aber im physischen Wissen eine zu weit gehende Vervielfältigung der wissenschaftlichen Prozesse ihre Nachteile besitzt, da sie leicht eine alles beherrschende Verkünstelung unseres Lebens erzeugt, die unser natürliches menschliches Dasein unter einer Last mechanischer Dinge erdrückt, so dass wir gewisse Formen der Freiheit und Herrschaft um den Preis einer vermehrten Abhängigkeit erkaufen müssen, so kann auch ein einseitiges Wertlegen auf Prozesse des Yoga und auf außergewöhnliche Resultate seine Nachteile haben und zu gewissen Verlusten führen. Dann hat der Yogin etwa die Tendenz, sich aus dem allen gemeinsamen Dasein zurückzuziehen, und verliert seinen Stand in ihm: Lieber will er einen Reichtum des Geistes erkaufen durch eine Verarmung in seinen menschlichen Betätigungen, also die innere Freiheit durch ein äußeres Absterben. Wenn er Gott gewinnt, verliert er das Leben; wenn er aber sein Mühen nach außen kehrt, um das Leben zu erobern, ist er in Gefahr, Gott zu verlieren. Darum beobachten wir in Indien, dass zwischen dem Leben in der Welt und der spirituellen Entfaltung und Vervollkommnung eine scharfe Unvereinbarkeit geschaffen wurde. Obwohl die Tradition und das Ideal einer übergeordneten Harmonie zwischen der Anziehungskraft der Innenwelt und den Forderungen des äußeren Daseins aufrechterhalten bleibt, wird diese doch nur durch wenige Beispiele vorgelebt. Tatsächlich nimmt man an, dass ein Mensch, der seine Schau und Energie nach innen wendet und den Weg des Yoga geht, unvermeidlich dem großen Strom unseres kollektiven Daseins und dem weltlichen Bemühen der Menschheit verlorengeht. Diese Meinung hat sich so stark durchgesetzt und ist durch herrschende Weltanschauungen und Religionen so stark betont worden, dass die Flucht aus dem Leben jetzt nicht nur als die notwendige Voraussetzung für den Yoga, sondern auch als dessen allgemeines Ziel angesehen wird. Keine Synthese des Yoga kann aber befriedigen, die nicht zum Ziel hat, dass Gott und die Natur wieder in einem befreiten und vervollkommneten menschlichen Leben miteinander eins werden, und die in ihrer Methode die Harmonie unserer inneren und äußeren Wirkensweisen und Erfahrungen in einer göttlichen höchsten Vollendung beider nicht nur zulässt, sondern bewusst begünstigt. Der Mensch ist ja gerade jener Inbegriff und jenes Symbol einer höheren Existenz, die in die materielle Welt herabkam, damit hier das Niedere seine Gestalt umwandeln und die Natur des Höheren annehmen kann und dass sich das Höhere in den Gestaltungen des Niederen offenbart. Niemals darf es die unausweichliche Voraussetzung oder das ganze, letzte Ziel seines höchsten Ringens oder seines machtvollsten Mittels für seine Selbst-Erfüllung sein, dass der Mensch dieses Leben missachtet, das ihm für die Verwirklichung jener Möglichkeit verliehen wurde. So etwas kann nur eine zeitweilige Notwendigkeit unter gewissen Bedingungen oder ein spezialisiertes äußerstes Bemühen sein, das dem Individuum auferlegt wird, damit es dadurch eine höhere allgemeine Entfaltungsmöglichkeit für die Menschheit vorbereitet. Das wahre ganze Ziel des Yoga, sein Zweck und Nutzen kann nur dann voll erfüllt werden, wenn der bewusste Yoga im Menschen ebenso wie der unbewusste Yoga in der Natur nach außen hin begrifflich mit dem Leben selbst zusammenfällt. Dann können wir wieder, im Blick auf den Weg und auf den Erfolg, in einem vollkommeneren und erleuchteteren Sinn sagen: „Alles Leben ist Yoga.“

Worte Sri Aurobindos

Aller Yoga ist seiner Natur nach eine neue Geburt. Er ist eine Geburt aus dem gewöhnlichen, dem mentalisierten materiellen Leben des Menschen hinein in ein höheres spirituelles Bewusstsein und in ein größeres göttlicheres Sein. Kein Yoga kann erfolgreich unternommen und fortgeführt werden, wenn es nicht zu einem starken Erwachen zur Notwendigkeit dieser umfassenderen spirituellen Existenz kommt. Die Seele, die zu dieser tiefen und weiten Wandlung aufgerufen ist, kann auf verschiedene Weise zum Ausgangspunkt ihres Weges gelangen. Sie mag durch ihre eigene natürliche Entwicklung, die sie unbewusst zum Aufwachen hinleitete, dorthin kommen. Sie kann das auch durch den Einfluss einer Religion oder die Anziehungskraft einer Philosophie erreichen. Sie mag sich durch eine langsame Erleuchtung nähern, oder sie schwingt sich infolge einer plötzlichen Berührung oder durch eine Erschütterung dorthin empor. Sie mag durch den Druck äußerer Umstände oder durch eine innere Notwendigkeit darauf stoßen oder dorthin geführt werden, durch ein einziges Wort, das die Siegel des Mentals zerbricht, oder es kann durch lange Überlegung geschehen, durch das ferne Beispiel eines Menschen, der diesen Pfad gegangen ist, oder durch täglichen Kontakt und Einfluss. Je nach der Natur und den Umständen wird der Ruf kommen.

Auf welchem Weg er auch kommen mag, das Mental und der Wille müssen sich entscheiden, und als Ergebnis davon muss eine vollständige und effektive Selbstdarbringung geleistet werden. Die Annahme einer neuen spirituellen Ideen-Kraft und die aufwärtsgerichtete Orientierung in unserem Wesen, eine Erleuchtung, eine Hinwendung oder Umkehr, die man mit dem Willen und mit der Aspiration des Herzens festhält – das ist der entscheidende Akt, der wie in einem Samenkorn alle Resultate, die der Yoga zu geben hat, in sich trägt. Die bloße Idee oder ein intellektuelles Suchen nach etwas Höherem, Jenseitigem ist – so stark das auch mit dem Interesse des Mentals ergriffen wird – doch unwirksam, wenn das Herz es nicht als das festhält, was allein begehrenswert ist, und wenn der Wille dieses Einzige nicht als das annimmt, was getan werden muss. Denn die Wahrheit des Geistes soll nicht bloß gedacht, sondern muss gelebt werden, und sie zu leben, erfordert aber die auf ein einziges Ziel hin zur Einheit zusammengefasste Konzentration unseres mentalen Wesens. Eine so große Umwandlung, wie sie durch den Yoga vorgesehen ist, kann nicht durch einen zerteilten Willen oder durch einen kleinen Teil unserer Energie oder durch ein zögerndes Mental bewirkt werden. Wer das Göttliche sucht, muss sich Gott ganz weihen und nur Gott allein.

Wenn die Umwandlung durch einen überwältigenden Einfluss plötzlich und entscheidend eintritt, gibt es keine wesentliche oder dauernde Schwierigkeit mehr. Dann folgt die Entscheidung dem Gedanken oder fällt mit ihm zusammen, und die Selbst-Darbringung bekräftigt die getroffene Wahl. Der Fuß ist nun bereits auf den Pfad gesetzt, auch wenn man anfänglich noch mit ungewissen Schritten geht, wenn man den Weg vielleicht zuerst nur dunkel sieht und wenn die Erkenntnis des Zieles noch unvollkommen ist. Der geheime Lehrer, der innere Lenker, ist nun schon am Werk, wenn er sich vielleicht auch noch nicht offenbart oder noch nicht in der Person seines menschlichen Repräsentanten erscheint. Keine der Schwierigkeiten und Unschlüssigkeiten, die noch folgen mögen, können am Ende etwas gegen die Macht der Erfahrung ausrichten, die den Lauf des Lebens umgelenkt hat. Wenn die Berufung einmal zur Entscheidung führte, bleibt sie fest bestehen. Was geboren wurde, kann durch nichts mehr erstickt werden. Auch wenn die Macht der Umstände es anfänglich verhindert, dass man das Ziel regelmäßig verfolgt oder sich von Anfang an tatsächlich ganz darbringt, hat das Mental doch seine neue Richtung eingeschlagen und beharrt nun mit einer ständig zunehmenden Wirkungskraft auf seinem vordringlichen Anliegen oder kehrt zu ihm zurück. Mit einer unausweichlichen Beharrlichkeit besteht das innere Wesen darauf, und alle Umstände sind letztlich dagegen machtlos. Keine Schwäche in der menschlichen Natur kann auf die Dauer zum Hindernis werden.

Der Anfang verläuft jedoch nicht immer auf diese Weise. Oft wird der Sadhak nur schrittweise geführt. Dann liegt eine lange Zeitspanne zwischen der ersten Hinwendung des Mentals und der völligen Zustimmung der Natur zu dem Ziel, dem es sich zuwendet. Zuerst mag da nur ein lebhaftes intellektuelles Interesse vorherrschen, durch das man mit aller Gewalt zu der Idee und zu einer unvollkommenen Form der Praxis hingezogen wird. Vielleicht handelt es sich auch um ein Bemühen, das nicht von der ganzen Natur begünstigt wird, um eine Entscheidung oder eine Wendung, die durch einen intellektuellen Einfluss auferlegt oder durch die persönliche Zuneigung und Bewunderung für jemand diktiert wird, der sich selbst dem Höchsten geweiht und ergeben hat. In solchen Fällen kann eine lange Vorbereitungszeit notwendig sein, bevor es zur unwiderruflichen Selbst-Darbringung kommt. In manchen Fällen mag sie dann gar nicht eintreten. Vielleicht macht man gewisse Fortschritte. Es kann eine mächtige Anstrengung und sogar eine weitgehende Läuterung vorhanden sein, auch viele Erfahrungen anderer Art als die zentralen und höchsten. Aber das Leben verbleibt entweder in der Vorbereitung, oder das Mental wird, wenn es eine gewisse Stufe erreicht hat, nur noch von einer ungenügenden Antriebskraft weitergedrängt und bleibt dann vielleicht zufrieden vor der Grenze der ihm möglichen Anstrengung stecken. Vielleicht sinkt es auch in das frühere niedrigere Leben zurück. In der gewöhnlichen Yoga-Sprache nennt man das „ein Hinunterfallen vom Pfad“. Dieses Abgleiten tritt deshalb ein, weil im eigentlichen Zentrum ein Fehler sitzt. Zwar war der Intellekt interessiert, das Herz angezogen, und der Wille hatte sich voll eingesetzt. Jedoch war nicht die ganze Natur vom Göttlichen zu seinem Gefangenen gemacht worden. Sie hatte sich nur eben in jenes Interesse, jene Hinneigung oder jenes Bemühen gefügt. Es war ein Experiment, vielleicht sogar ein eifrig betriebenes Experiment gewesen. Man hatte sich aber nicht total an ein zwingendes Bedürfnis der Seele oder an ein unaufgebbares Ideal hingegeben. Auch ein solcher unvollkommener Yoga ist gewiss nicht nutzlos vertan. Denn kein Bemühen, über sich hinauszukommen, wird vergebens unternommen. Selbst wenn es im Augenblick misslingt oder nur zu einer vorbereitenden Stufe oder einer vorläufigen Verwirklichung führt, hat es doch über die Zukunft der Seele entschieden.

Wollen wir aber die günstige Gelegenheit, die uns dieses Leben bietet, bestens ausnutzen, streben wir danach, den Ruf, den wir empfangen haben, in der angemessenen Weise zu beantworten und das Ziel, das wir flüchtig schauten, wirklich zu erreichen, und bewegen wir uns nicht nur ein wenig in der Richtung auf es hin, dann ist es wesentlich, dass eine völlige Selbstdarbringung geleistet wird. Das Geheimnis des Erfolges im Yoga liegt darin, dass wir ihn nicht nur als eines der Ziele ansehen, die wir im Leben verfolgen sollen, sondern als das Ganze des Lebens.

Worte der Mutter

Es wird gesagt, dass Yoga das „höchste Ziel des Lebens“ sei. Was aber erwartest du von diesem höchsten Ziel? Manche erklären, es bedeute, sich selbst zu erkennen; das ist die persönliche, individuelle Seite. Dringt man etwas weiter, bedeutet es, sich der Wahrheit seines Wesens bewusst zu sein: Warum wird man geboren, und was hat man zu tun? Dringt man noch weiter, kann man sich der Beziehungen zu den anderen Menschen bewusst werden, und noch etwas weiter, kann man nach der Rolle, dem Ziel der Menschheit in der Welt fragen. Und dann, was ist der Zustand der Erde vom psychologischen Standpunkt aus? Was ist das Universum, was ist sein Ziel, seine Rolle? Auf diese Weise gehst du von Stufe zu Stufe, und zuletzt siehst du das Problem in seiner Gesamtheit. Du musst die Sache sehen, die Erfahrung hinter den Worten. Hier sprechen wir von „Yoga“, aber anderswo drückt man es anders aus. Manche würden sagen: „Ich suche nach dem Sinn meines Daseins.“ Und so weiter. Jene, die einen religiösen Geist haben, werden sagen: „Ich will die göttliche Gegenwart finden.“ Es gibt hundert Arten, die Sache zu sagen, wichtig aber ist die Sache; du musst sie spüren, in deinem Kopf, in deinem Herzen, überall. Sie muss konkret und lebendig sein, ansonsten kannst du nicht vorankommen. Du musst aus den Worten herauskommen und in das Wirken hinein – in die Erfahrung treten, in das Leben treten.

  1. 3. Die Yoga-Systeme
  2. 4. Der Integrale Yoga
  3. 5. Dies ist das Ziel deines Daseins
  4. 6. Der Pfad

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