Kapitel 6

Der Pfad

Worte Sri Aurobindos

Yoga-Siddhi, die Vollkommenheit, die man durch die Ausübung des Yoga erlangt, kann am besten durch das kombinierte Wirken von vier großen Instrumenten erreicht werden. Das ist in erster Linie das Wissen der Wahrheiten, der Prinzipien, Mächte und Prozesse, welche die Verwirklichung lenken – sastra. Dann kommt ein geduldiges und beharrliches Handeln nach diesen Grundlinien, das durch das Wissen und die Kraft unseres persönlichen Bemühens bestimmt ist – utsaha. Hier greift drittens die direkte Anregung, das Vorbild und der Einfluss des Lehrers ein, der unser Wissen und Bemühen in den Bereich der spirituellen Erfahrung emporhebt – guru. Zuletzt kommt die Funktion der Zeitkala. Denn in allen Dingen herrscht ein Zyklus ihrer Aktion und ein periodischer Ablauf der göttlichen Bewegung.

Worte Sri Aurobindos

Der erste Vorgang des Yoga besteht darin, dass wir den festen Willensentschluss fassen, samkalpa, uns Gott völlig zu weihen, atmasamarpana. Gib dich aus ganzem Herzen und aus all deiner Kraft in Gottes Hand. Mache dabei keine Bedingungen, bitte um nichts, selbst nicht einmal um die Siddhi im Yoga. Erwarte gar nichts, als dass in dir und durch dich sein Wille direkt verwirklicht werde. Den Menschen, die an ihn Wünsche richten, gibt Gott, was sie sich wünschen. Denen aber, die sich selbst ganz an ihn hingeben und dabei um nichts bitten, schenkt er alles, um was sie sonst vielleicht gebeten oder was sie benötigt hätten. Darüber hinaus schenkt er sich ihnen selbst und all die spontanen Segnungen seiner Liebe.

Der nächste Prozess ist, dass du beiseite trittst und beobachtest, wie die göttliche Macht in dir wirkt. Oft stellt sich bei diesem Wirken eine Störung und Verwirrung in deinem System ein. Darum ist Glaube notwendig, wenn auch der vollkommene Glaube nicht immer von Anfang an möglich ist. Denn alle Unreinheit, die sich noch in deinem Inneren befindet, ob du ihr offen eine Stätte gewährst oder ob sie insgeheim in dir lauert, wird sich wahrscheinlich erheben und so lange wiederkehren, als sie noch nicht vollständig hinausgefegt worden ist. Der Zweifel ist in diesem Zeitalter eine nahezu universale Unreinheit. Aber selbst wenn dich nun der Zweifel anfällt, tritt beiseite und warte, bis er vorübergeht. Hilf dir dabei, soweit dies möglich ist, durch deine Gemeinschaft mit dem Guten in den Menschen, die schon auf diesem Pfad fortgeschritten sind, satsanga. Wenn dir aber das fehlt, halte immer an dem Grundprinzip dieses Yoga fest: dass du dich völlig Gott überantwortest. Wenn du in deinem Inneren niedergeschlagen bist oder wenn du von außen her angegriffen wirst, erinnere dich an die Worte der Gita:

„Wenn du dich in deinem Herzen und in deinem Gemüt an Mich hingibst, wirst du durch Meine Gnade sicher über alle Schwierigkeiten und Gefahren hinwegkommen.“ Und weiter:

„Gib alle dharmas auf (jegliches Gesetz, alle Weisungen, die Mittel und Verhaltensregeln aller Art, ob sie durch deine früheren Gewohnheiten oder durch Glaubenslehren in dir gebildet oder ob sie dir von außen her auferlegt wurden) und nimm deine Zuflucht allein in Mir. Ich werde dich von aller Sünde und von allem Bösen befreien – sei nicht bekümmert.“ „Ich werde erlösen“ – du brauchst nicht besorgt zu sein oder selbst zu ringen, als ob du allein die Verantwortung dafür zu tragen hättest oder als ob der Erfolg allein von deinem Mühen abhinge. Einer, der mächtiger ist als du, nimmt sich der Sache an. Weder Krankheit noch Not und auch keine aus dem Inneren emporsteigende Sünde und Unreinheit sollen dich bestürzt machen. Halte dich einzig und allein an ihn. „Ich werde dich von aller Sünde und von allem Bösen befreien.“ Aber diese Befreiung kommt nicht durch ein plötzliches Wunder. Sie kommt vielmehr durch einen Prozess der Reinigung, und diese Dinge sind ein Teil des Prozesses. Sie gleichen dem Staub, der in Wolken aufwirbelt, wenn ein Zimmer, das lange nicht gefegt worden war, schließlich einmal ausgekehrt wird. Wenn der Staub dich auch zu ersticken droht – halte trotzdem aus, „masucah“.

Der dritte Prozess des Yoga ist, alle Dinge als Gott wahrzunehmen.

Worte Sri Aurobindos

Der supramentale Yoga ist zugleich ein Aufstieg zu Gott und eine Herabkunft der Gottheit in die verkörperte Natur.

Der Aufstieg kann nur durch eine konzentrierte, allumfassende Aspiration der Seele, des Mentals, des Lebens und des Körpers erreicht werden. Die Herabkunft kann nur durch einen Ruf des ganzen Wesens nach dem unendlichen und ewigen Göttlichen geschehen. Wenn dieser Ruf und diese Aspiration vorhanden sind oder wenn sie irgendwie erweckt werden und ständig wachsen und die ganze Natur erfassen können, dann und nur dann wird eine Erhebung und Transformation in und durch das Supramental möglich werden.

Der Ruf und die Aspiration sind nur erste Voraussetzungen; zugleich mit ihnen und als Ergebnis ihrer wirksamen Intensität muss eine Öffnung des ganzen Wesens und eine umfassende Überantwortung zum Göttlichen erfolgen.

Diese Öffnung besteht in einem weiten Offenlegen der ganzen Natur auf all ihren Ebenen und in all ihren Gliedern, um das größere göttliche Bewusstsein, das bereits über und hinter dieser sterblichen, halbbewussten Existenz zugegen ist und sie umfängt, ohne Abschwächungen und Begrenzungen in sich aufzunehmen. Bei dieser Aufnahme darf ihr Fassungsvermögen sich nicht als unzureichend erweisen, darf kein Bestandteil des Systems, sei es im Mental, in den Nerven oder im Körper, unter dem Druck der Umwandlung zusammenbrechen. Eine grenzenlose Aufnahmefähigkeit ist erforderlich sowie ein ständig wachsendes Vermögen, das immer stärker und akzentuierter werdende Eingreifen der göttlichen Kraft auszuhalten. Anders kann nichts Großes und Dauerhaftes zustande kommen. Der Yoga würde mit einem Zusammenbruch, einem trägen Anhalten oder einer frustrierenden oder verheerenden Stockung enden – bei einem Vorgang, der absolut und integral zu sein hat, wenn er kein Fehlschlag sein soll.

Da aber kein menschlicher Organismus diese grenzenlose Aufnahmefähigkeit und diese einwandfreie Eignung aufweist, kann der supramentale Yoga nur dann Erfolg haben, wenn die Göttliche Kraft bei ihrer Herabkunft die persönliche Kraft vermehrt und die zur Aufnahme erforderliche Stärke an jene Kraft angleicht, die von oben her in die Natur eindringt, um in ihr zu arbeiten. Dies kann nur geschehen, wenn auf unserer Seite eine fortschreitende Überantwortung in die Hände des Göttlichen erfolgt. Eine vollständige und nie ausbleibende Zustimmung ist vonnöten, eine mutige Einwilligung in alles, was die Göttliche Macht mit uns vornehmen muss, um ihr Werk zu vollbringen.

Der Mensch kann aus eigener Anstrengung nichts aus sich machen, was mehr ist als ein Mensch. Das mentale Wesen kann sich nicht aus eigener Kraft und ohne Hilfe in einen supramentalen Geist verwandeln. Allein die Herabkunft der Göttlichen Natur kann das menschliche Gefäß vergöttlichen.

Die Fähigkeiten unseres Mentals, unseres Lebens und unseres Körpers sind an ihre eigenen Grenzen gebunden, und wie hoch sie sich auch aufschwingen oder wie weit sie sich auch ausdehnen mögen, kommen sie über ihre natürlichen äußersten Grenzen nicht hinaus. Trotzdem kann der mentale Mensch sich dem öffnen, was jenseits seiner liegt. Er kann ein supramentales Licht und eine supramentale Wahrheit und Macht herabrufen, auf dass sie in ihm wirken und das tun, was das Mental nicht vermag. Wenn das Mental nicht aus eigener Anstrengung zu dem werden kann, was jenseits seiner liegt, so kann doch das Supramental herabkommen und das Mental in seine eigene Substanz umwandeln.

Wenn es die umsichtige Einwilligung und wachsame Hingabe des Menschen der supramentalen Macht ermöglicht, entsprechend ihrer eigenen tiefen und klaren Einsicht und vielseitigen Macht zu handeln, wird diese früher oder später eine göttliche Umwandlung unserer derzeit unvollkommenen Natur bewirken.

Diese Herabkunft und dieses Wirken sind nicht ohne ihre Gefahren und nicht frei von der Möglichkeit eines unheilvollen Sturzes. Wenn das menschliche Mental oder das vitale Begehren sich der herabkommenden Kraft bemächtigt und versucht, diese seinen eigenen begrenzten und irrigen Ideen gemäß oder entsprechend seinen eigenen unzulänglichen und egoistischen Trieben zu verwenden – und bis die niedere sterbliche Natur etwas vom Vorgehen jener höheren unsterblichen Natur gelernt hat, ist dies praktisch unvermeidbar –, sind Fehltritte, Abwege, schwierige und anscheinend unüberwindliche Hindernisse, Wunden und Leiden nicht zu umgehen, ja sogar der Tod oder ein völliger Untergang nicht auszuschließen. Nur wenn das Mental, das Leben und der Körper die bewusste integrale Überantwortung an das Göttliche gelernt haben, kann der Weg des Yoga leicht, gerade, schnell und sicher sein.

Und es muss eine Überantwortung und eine Öffnung allein gegenüber dem Göttlichen sein und zu nichts anderem. Denn es ist einem verdunkelten Mental und einer unreinen Lebenskraft in uns möglich, sich ungöttlichen und feindlich gesinnten Kräften zu überantworten, ja sogar solche Kräfte für das Göttliche zu halten. Es kann keinen verhängnisvolleren Irrtum geben. Deshalb darf unsere Überantwortung keine blinde und träge Passivität allen Einflüssen oder jedem beliebigen Einfluss gegenüber sein, sondern hat sie aufrichtig, bewusst, wachsam und deutlich an den Einen und Höchsten allein zu sein.

Selbst-Überantwortung an die göttliche und unendliche Mutter, so schwierig sie auch sein mag, bleibt unser einziges wirksames Mittel und unsere einzige dauerhafte Zuflucht. Selbst-Überantwortung an sie bedeutet, dass unsere Natur ein Werkzeug in ihren Händen ist, unsere Seele ein Kind in den Armen der Mutter.

Worte Sri Aurobindos

Die Sadhana dieses Yoga geht nicht durch eine festgelegte mentale Lehre vonstatten oder durch vorgeschriebene Formen der Meditation, Mantras oder andere Dinge, sondern durch Aspiration, durch nach innen oder oben gerichtete Konzentration, durch das Sich-Öffnen für einen Einfluss, für die Göttliche Macht über uns und ihr Wirken, für die Göttliche Gegenwart im Herzen und durch die Zurückweisung all dessen, was diesen Dingen fremd ist. Allein durch Glauben, Aspiration und Überantwortung kann dieses Sich-Öffnen erfolgen.

Worte Sri Aurobindos

Dieser Yoga ist oder will zumindest ein integraler Yoga sein, was eine Hinwendung des ganzen Wesens in all seinen Teilen zum Göttlichen bedeutet. Daraus folgt, dass er Wissen und Werke ebenso enthält wie Hingabe, Bhakti, und darüber hinaus bezieht er eine völlige Wandlung der menschlichen Natur mit ein – ein Suchen nach Vollkommenheit, damit auch die menschliche Natur mit der Natur des Göttlichen eins wird. Nicht allein das Herz muss sich dem Göttlichen zuwenden und sich wandeln, sondern auch das Mental – daher ist Wissen notwendig sowie der Wille und die Kraft des Handelns und Erschaffens –, und daher sind auch die Werke notwendig. In diesem Yoga werden die Methoden anderer Yogasysteme aufgegriffen wie diejenige von Purusha-Prakriti, doch mit einem Unterschied im letztendlichen Ziel. Der Purusha trennt sich von der Prakriti, nicht um sie zu verlassen, sondern um sich und sie zu erkennen und nicht länger ihr Spielzeug zu sein, sondern der Wissende, der Herr, der Erhalter der Natur. Doch nachdem dies geschehen ist oder selbst während es geschieht, bringt man es dem Göttlichen dar. Man kann mit Wissen oder mit Werken beginnen, mit Bhakti oder der Tapasya der Selbstläuterung, um Vollkommenheit zu erreichen (die Wandlung der Natur) und das Übrige als eine nachfolgende Bewegung entwickeln, oder man kann alles in einer Bewegung vereinen. Es gibt keine festen Regeln für alle, es hängt von der Persönlichkeit und der einzelnen Natur ab. Überantwortung ist die Hauptmacht des Yoga, doch muss diese Überantwortung notwendigerweise fortschreitend sein. Eine vollkommene Überantwortung ist zu Beginn nicht möglich, sondern nur der Wille im Wesen zu dieser Vollkommenheit – tatsächlich dauert das eine lange Zeit. Doch nur bei einer gänzlichen Überantwortung ist das volle Strömen der Sadhana möglich. Bis dahin ist die persönliche Bemühung erforderlich sowie eine zunehmende Wirklichkeit der Überantwortung. Man ruft die Macht der Göttlichen Shakti, und wenn diese einmal in das Wesen einzutreten beginnt, stützt sie zuerst die persönliche Bemühung, dann übernimmt sie mehr und mehr das gesamte Handeln, wobei aber immer die Zustimmung des Sadhaks erforderlich ist. In dem Maß, wie die Kraft zu wirken beginnt, löst sie verschiedene Prozesse aus, die für den Sadhak notwendig sind: den Prozess des Wissens, der Bhakti, des spiritualisierten Wirkens, der Umwandlung der Natur. Die Vorstellung, diese könnten nicht miteinander in Einklang gebracht werden, beruht auf einem Irrtum.

Worte der Mutter

Kannst du etwas über den Yoga sagen?

Warum willst du den Yoga? Um Macht zu gewinnen? Um Frieden und Ruhe zu finden? Um der Menschheit zu dienen?

Keiner dieser Gründe beweist ausreichend, dass du für den Pfad bestimmt bist.

Auf folgende Frage musst du antworten: Willst du den Yoga um des Göttlichen willen? Ist das Göttliche die höchste Sache deines Lebens, so sehr, dass es dir einfach unmöglich wäre, ohne sie auszukommen? Fühlst du, dass der eigentliche Zweck deines Daseins das Göttliche ist und dass dein Leben ohne es sinnlos wäre? Wenn es so ist, nur dann kann gesagt werden, dass du für den Pfad berufen bist.

Die erste notwendige Sache ist – Aspiration nach dem Göttlichen.

Die nächste Sache, die du zu tun hast, besteht darin, es zu vertiefen, es immer wach zu halten, es bewusst und lebendig zu machen. Und dazu brauchst du Konzentration – Konzentration auf das Göttliche mit der Absicht, sich ganzheitlich und absolut seinem Willen und seinem Ziel zu weihen.

Konzentriere dich im Herzen. Dringe in es ein, gehe so tief und so weit nach innen, wie du kannst. Ziehe alle Fäden deines nach außen schweifenden Bewusstseins zusammen, rolle sie auf und wage einen Sprung in die Tiefe.

Eine Flamme brennt dort in der tiefen Ruhe des Herzens. Es ist die Gottheit in dir – dein wahres Wesen. Höre seine Stimme, folge seinen Anweisungen.

Es gibt noch andere Zentren der Konzentration, zum Beispiel eines über dem Kopf und eines zwischen den Augenbrauen. Jedes hat seine eigene Wirkung und wird dir ein bestimmtes Resultat geben. Aber dein zentrales Wesen befindet sich im Herzen, und aus dem Herzen kommen alle zentralen Bewegungen – alle dynamischen und zur Umwandlung drängenden Bewegungen sowie die Macht zur Verwirklichung.

Was muss man tun, um sich auf den Yoga vorzubereiten?

Vor allem bewusst zu sein. Wir sind uns bloß eines geringen Teils unseres Wesens bewusst; der größte Teil ist uns unbewusst. Diese Unbewusstheit bindet uns an unsere alte Natur und verhindert ihre Veränderung und Umwandlung. Es ist die Unbewusstheit, die es den ungöttlichen Kräften ermöglicht, in uns einzudringen und uns zu ihren Sklaven zu machen. Du musst dir deiner selbst bewusst werden, du musst dir deiner Natur und deiner Regungen gewahr werden, du musst wissen, warum und wie du etwas tust, fühlst oder denkst; du musst deine Beweggründe und Impulse verstehen, die versteckten und in Erscheinung getretenen Kräfte, die dich handeln lassen. Gewissermaßen musst du den Mechanismus deines Wesens in Teile zerlegen. Erst wenn du bewusst bist, das heißt Dinge zu erkennen und voneinander zu trennen, kannst du sehen, welche Kräfte dich herunterziehen und welche dir helfen voranzukommen. Und wenn du zu wissen vermagst, was zu tun und zu lassen ist, wenn du das Wahre vom Falschen, das Göttliche vom Ungöttlichen unterscheiden kannst, musst du strikt nach diesem Wissen handeln, das heißt entschlossen das eine zurückweisen und das andere annehmen. Die Dualität wird bei jedem Schritt gegenwärtig sein, und bei jedem Schritt wirst du deine Wahl zu treffen haben. Du wirst geduldig, ausdauernd und achtsam sein müssen – „schlaflos“, wie die Adepten sagen; du musst es immer ablehnen, dem Ungöttlichen die geringste Chance gegenüber dem Göttlichen zu geben.

Ist der Yoga für das Wohl der Menschheit da?

Nein, er ist um des Göttlichen willen da. Wir suchen nicht das Wohlergehen der Menschheit, sondern die Manifestation des Göttlichen. Wir sind hier, um den Göttlichen Willen auszuführen, wahrhaftiger noch, um vom Göttlichen Willen bearbeitet zu werden, so dass wir seine Werkzeuge werden mögen für die progressive Einkörperung des Höchsten und die Begründung Seiner Herrschaft auf Erden.