Sadhana im Leben der Welt
Sri Aurobindo | Die Mutter
Verhalte dich immer so, als schaue dir die Mutter zu, denn in der Tat ist sie immer gegenwärtig.
– Sri Aurobindo

Teil 1 EINLEITUNG
Kapitel 1
Was ist Yoga
Worte Sri Aurobindos
Yoga ist in seiner Essenz ein Übergang aus dem gewöhnlichen Bewusstsein, in dem wir nur der äußeren Erscheinungen gewahr sind, in ein höheres, weiteres und tieferes Bewusstsein, in dem wir der Wirklichkeiten und der einen Wirklichkeit bewusst werden. Wir werden ihrer nicht nur bewusst, sondern wir können in dieser einen Wirklichkeit leben und aus ihr und ihr entsprechend handeln, anstatt in den und entsprechend den Erscheinungen der Dinge zu leben. Yoga ist ein Übergang aus der Unwissenheit zum Selbst-Wissen, aus unserem scheinbaren Wesen in unser wahres Wesen, aus einer nur äußerlich erscheinenden mentalen, vitalen und materiellen Lebens-Existenz in eine innere spirituelle Existenz und eine spiritualisierte Natur.
Durch Yoga gehen wir vom äußeren in den wirklichen Menschen über, aus dem Bewusstsein unserer eigenen nur scheinbaren äußeren Natur in das Bewusstsein unseres wirklichen Selbsts, Atman, eines inneren und innersten Menschen, Purusha, der wir wahrhaftig und immerwährend sind. Dieses Selbst oder wahre Wesen bleibt durch alle Änderungen unseres phänomenalen Wesens konstant, Änderungen des Mentals, des Leben oder des Körpers oder Änderungen unserer scheinbaren Persönlichkeit. Dieses Selbst ist beständig, ewig und unsterblich, ein Teil oder eine Manifestation des Ewigen.
Durch Yoga kommen wir auch von unserem Bewusstsein der phänomenalen Erscheinung oder den Erscheinungsformen des Kosmos oder der Welt um uns herum zu einem Bewusstsein seiner Wahrheit und Realität. Wir werden der Welt bewusst als der Manifestation eines universalen Wesens oder in einem universalen Wesen, das die wirkliche Wahrheit von allem ist, was wir sehen, hören und erfahren. Wir werden eines kosmischen Bewusstseins gewahr, welches das Geheimnis der kosmischen Energie ist, eines kosmischen Selbstes oder Geistes, des kosmisch Göttlichen, der universalen Gottheit.
Doch durch Yoga werden wir auch dessen bewusst, dass unser eigenes Selbst oder wahres Wesen eins ist mit dem kosmischen Selbst und Geist, dass unsere Natur ein Spiel der kosmischen Natur ist. Die Wand zwischen uns und dem Universum beginnt zu verschwinden und löst sich gänzlich auf. Wir verwirklichen dasselbe Pantheos in uns, in anderen und in der ganzen universellen Existenz.
Ebenso werden wir durch Yoga etwas bewusst, das mehr ist als unser individuelles und mehr als das kosmische Wesen, nämlich eines transzendenten Wesens oder Daseins, das nicht von unserer oder der Existenz des Universums abhängt. Unser Dasein ist eine Manifestation von und in diesem Sein, wie der Kosmos eine Offenbarung von und in dieser einen Höchsten Existenz ist.
Dies ist schließlich die Wahrheit oder Wirklichkeit, zu der wir durch Yoga gelangen: ein einziges und höchstes Wesen oder Dasein und Kraft des Seins, das sich als ein kosmisches Selbst oder kosmischer Geist und eine kosmische Energie oder Natur offenbart und in diesen wiederum als unser eigenes Selbst oder Geist, das sich seiner selbst als ein individuelles Wesen und Natur bewusst wird.

Kapitel 2
Alles Leben ist Yoga
Worte Sri Aurobindos
Bei rechter Betrachtung von Leben und Yoga erkennen wir, dass alles Leben bewusst oder unbewusst Yoga ist. Denn unter diesem Begriff verstehen wir das methodische Bemühen, zur Selbst-Vollendung zu gelangen, indem wir alle Potenziale, die in unserem Wesen verborgen sind, zum Ausdruck und unser individuelles Menschsein mit dem universalen und transzendenten Dasein, das wir partiell im Menschen und im Kosmos geoffenbart sehen, zur Einung bringen. Alles Leben ist, wenn wir hinter seine Erscheinungen schauen, ein unermesslicher Yoga der Natur, die versucht, ihre Vollkommenheit in einem stetig wachsenden Ausdruck ihrer Möglichkeiten zu verwirklichen und sich mit ihrer eigenen göttlichen Wirklichkeit zu einen. Im Menschen, ihrem Denker, erschafft sie sich zum ersten Mal auf dieser Erde ein seiner selbst bewusstes Werkzeug und den Vollstrecker ihres Willens, wodurch ihre große Absicht rascher und machtvoller zustande gebracht werden kann. Yoga, wie Swami Vivekananda gesagt hat, kann man als ein Mittel auffassen, durch das wir unsere eigene Entwicklung in ein einziges Leben oder in ein paar Jahre oder sogar in wenige Monate dieses körperlichen Daseins zusammenzudrängen vermögen. Demnach kann ein gegebenes Yoga-System nicht mehr als eine Auswahl oder eine Konzentration, zwar in begrenzter, aber dennoch intensiverer Form, der allgemeinen Methoden der Natur sein, wie sie jetzt noch von der großen Mutter bei ihrer gewaltig emporsteigenden Arbeit verwendet werden, nämlich unpräzise, weitläufig, in gemächlichen Bewegungen und mit einer sichtlich ungeheuren Verschwendung an Material und Energie, aber doch mit einer immer vollständigeren Kombination. Nur ein solches Verständnis des Yoga als einer Intensivierung aller Naturkräfte kann die Grundlage für eine gesunde und rationale Synthese der Yoga-Methoden darstellen. Dann erscheint der Yoga nicht länger als etwas Mysteriöses und Abnormes, das keine Beziehung zu den gewöhnlichen Prozessen der Welt-Energie oder zu der Absicht hat, die sie in ihren beiden großen Bewegungen der subjektiven und objektiven Selbst-Erfüllung im Auge hat. Vielmehr offenbart sich der Yoga als eine intensive und außergewöhnliche Anwendung von Mächten, die die Natur bereits manifestiert oder noch fortschreitend in ihren weniger hervorragenden, aber allgemeineren Verfahrensweisen organisiert hat.

Worte Sri Aurobindos
Der Mensch ist genau jener Inbegriff und jenes Symbol eines höheren Daseins, das in die materielle Welt herabkam, damit hier das Niedere seine Gestalt umwandeln und die Natur des Höheren annehmen kann und dass sich das Höhere in den Gestaltungen des Niederen offenbart. Niemals darf es die unausweichliche Voraussetzung oder das ganze, letzte Ziel seines höchsten Ringens oder seines machtvollsten Mittels für seine Selbst-Erfüllung sein, dass der Mensch dieses Leben missachtet, das ihm für die Verwirklichung jener Möglichkeit verliehen wurde. So etwas kann nur eine zeitweilige Notwendigkeit unter gewissen Bedingungen oder ein spezialisiertes äußerstes Bemühen sein, das dem Individuum auferlegt wird, damit es dadurch eine höhere allgemeine Entfaltungsmöglichkeit für die Menschheit vorbereitet. Das wahre und ganze Ziel des Yoga kann nur dann voll erfüllt werden, wenn der bewusste Yoga im Menschen, ebenso wie der unbewusste Yoga in der Natur, nach außen hin die gleiche Bedeutung erhält wie das Leben selbst und wir wieder, im Blick auf den Weg und die Vollendung, in einem vollkommeneren und erleuchteteren Sinn sagen können: „Alles Leben ist Yoga.“
