Die Mutter und der Integrale Yoga
Vorwort
Überall auf der Welt wächst das Interesse an Spiritualität und Yoga. Man kann eine zunehmende Suche nach dem wahren Sinn und Zweck des Lebens erkennen, eine Suche nach tieferen Lösungen für die Probleme, mit denen wir alle konfrontiert sind, und man kann eine zunehmende Bemühung beobachten, am evolutionären Wandel und Fortschritt der Menschheit beitragen zu wollen.
Bei dieser Suche und Bemühung wenden sich immer mehr Menschen an Sri Aurobindo und die Mutter, um Führung und Kraft zu finden. Aber in den umfangreichen Werken Sri Aurobindos und der Mutter wissen wir oft nicht, wo wir Antworten auf unsere Fragen finden können. Aus diesem Grund haben wir zu bestimmten Themen des alltäglichen Lebens einfache Auszüge aus ihren Werken zusammengetragen, die für die Sadhana eine praktische Orientierung im Alltag geben sollen, denn wahre Spiritualität bedeutet nicht, sich vom Leben abzukehren, sondern das Leben mit einer Göttlichen Vollkommenheit zu vollenden.
Diesbezüglich sagte die Mutter:
„Sri Aurobindo sollte nicht nach Büchern studiert werden, sondern nach Themen – was er über das Göttliche, die Einheit, die Religion, die Evolution, die Erziehung, die Selbstvervollkommnung, das Supramental, usw. gesagt hat.“ (CWM 12: 206)
Bei einer anderen Gelegenheit sagte sie:
„Wenn du wissen willst, was Sri Aurobindo zu einem bestimmten Thema gesagt hat, musst du zumindest alles lesen, was er zu diesem Thema geschrieben hat. Man wird dann sehen, dass er die widersprüchlichsten Dinge gesagt zu haben scheint. Aber wenn man alles gelesen und ein wenig verstanden hat, sieht man, dass all die Widersprüche sich ergänzen und in einer integralen Synthese geordnet und geeint sind.“ (CWM 16: 309-310)
Unsere Titel aus der Reihe ALLES LEBEN IST YOGA sind ein Versuch, etwas mehr Klarheit über ein bestimmtes Thema zu gewinnen und so vielleicht unsere persönlichen Bemühungen in die richtige Richtung zu lenken. Denn Sri Aurobindo sagt:
„Es ist stets wünschenswert, sich in die richtige Richtung zu bemühen; selbst wenn man scheitert, bringt das Bemühen ein bestimmtes Ergebnis und ist niemals verloren.“ (CWSA 29: 87)

Die Übersetzung der Textstellen von Sri Aurobindo erfolgte aus dem ursprünglichen Englisch, während die meisten Passagen der Mutter bereits Übersetzungen aus dem Französischen waren. Fast alle Texte der Mutter wurden ihren Gesprächen, die sie mit Kindern und Erwachsenen führte, entnommen, einige ihren Schriften. Wir müssen außerdem berücksichtigen, dass die Auszüge ihrem ursprünglichen Zusammenhang entnommen wurden und dass jede Zusammenstellung ihrer Natur nach möglicherweise einen persönlichen und subjektiven Charakter hat. Es wurde jedoch der aufrichtige Versuch unternommen, der Vision Sri Aurobindos und der Mutter treu zu bleiben.
Die Textauszüge sind vom Verlag zum Teil mit Kapiteln und Überschriften versehen worden, um ihre Themen hervorzuheben. Sofern es möglich war, wurden sie in Anlehnung eines Satzes aus dem Text selbst gewählt.
Sri Aurobindo und die Mutter machen von der in der englischen Sprache gegebenen Möglichkeit, Wörter groß zu schreiben, um ihre Bedeutung hervorzuheben, häufig Gebrauch. Mit dieser Großschreibung bezeichnen sie meist Begriffe aus übergeordneten Daseinsbereichen, doch auch allgemeine wie Licht, Friede, Kraft usw., wenn sie ihnen einen vom üblichen Gebrauch abweichenden Sinn zuordnen. Diese Begriffe wurden in diesem Buch kursiv hervorgehoben, um dem Leser zu einer leichteren Einfühlung in diese subtilen Unterscheidungen zu verhelfen.
Eckige Klammern bezeichnen Einfügungen des Übersetzers, die um des besseren Verständnisses willen angebracht erschienen. Einige wenige Sanskritwörter wie Sadhana, Sadhaka, Yoga usw. wurden eingedeutscht, da sie durch ihren häufigen Gebrauch bereits als Bestandteil der deutschen Sprache angesehen werden können. Alle anderen Sanskritwörter sind kursiv hervorgehoben, wobei auf diakritische Transkriptionszeichen verzichtet wurde.
Die kursiv geschriebenen Textpassagen vor den Worten Sri Aurobindos und der Mutter sind Fragen bzw. Antworten von Schülern oder sonstige erläuternde Texte.

Alles wird von der Höchsten Göttin, der Höchsten und Ursprünglichen Mahashakti, geschaffen, alles geht von ihr aus, alles lebt durch sie, alles lebt in ihr, so wie sie in allem lebt. Alle Weisheit und alles Wissen sind ihre Weisheit und ihr Wissen; alle Macht ist ihre Macht, aller Wille und alle Kraft ihr Wille und ihre Kraft, alles Wirken ist ihr Wirken, alle Bewegung ihre Bewegung. Alle Wesen sind Teile ihrer Macht des Seins.
– Sri Aurobindo

SRI AUROBINDO DIE MUTTER UND DER INTEGRALE YOGA
Einführung
Wer ist die Mutter?
Zu Häuptern steht sie von Geburt und Mühsal und Schicksal,
Auf ihr Gebot hin kreisen langsam die Zyklen;
Einzig ihre Hände können die Drachenbasis der Zeit verändern.
Ihr ist das Mysterium, das die Nacht verbirgt;
Des Geistes Alchemisten-Energie ist ihr zu eigen;
Sie ist die goldne Brücke, das wundervolle Feuer.
Das leuchtende Herz des Unerkennbaren ist sie,
Eine Macht des Schweigens in den Tiefen Gottes;
Sie ist die Kraft, das unausweichliche Wort,
Der Magnet unseres schwierigen Aufstiegs,
Die Sonne, an der wir alle unsere Sonnen zünden,
Das Licht, das sich aus den unverwirklichten Weiten neigt,
Die Freude, die aus dem Unmöglichen zu sich winkt,
Die Macht von allem, das noch nie herniederkam.
Die ganze Natur ruft stumm nach ihr allein,
Damit sie mit ihren Füßen das schmerzende Pochen des Lebens heilt
Und die Siegel auf des Menschen verdunkelter Seele bricht
Und in den verschlossenen Herzen der Dinge ihr Feuer entfacht.

Drei Seinsweisen der Mutter
Die Eine, die wir als die Mutter verehren, ist die göttliche Bewusstseinskraft, die über alles Dasein herrscht, eine und dennoch so vielseitig, dass es selbst dem gewandtesten Verstand und der freiesten und weitesten Intelligenz unmöglich ist, ihrer Bewegung zu folgen. Die Mutter ist das Bewusstsein und die Kraft des Höchsten und steht hoch über allem, was sie erschafft. Doch etwas von ihrer Art und Weise lässt sich an ihren Verkörperungen erkennen und fühlen, und an dem Greifbareren, weil definierteren und begrenzteren Temperament und Wirken der Gottheitsformen, in denen sie ihren Geschöpfen sich zu offenbaren einwilligt.
Es gibt drei Seinsweisen der Mutter, deren du gewahr werden kannst, wenn du dich mit der Bewusstseinskraft zu einen beginnst, die uns und das Universum erhält. Transzendent, als die ursprüngliche und höchste Shakti, steht sie über den Welten und verbindet die Schöpfung mit dem ewig ungeoffenbarten Mysterium des Höchsten. Universal, als die kosmische Mahashakti, erschafft sie all diese Wesen und enthält in sich all diese Millionen Prozesse und Kräfte, tritt in sie ein und trägt und lenkt sie. Individuell, verkörpert sie die Macht dieser beiden umfassenderen Weisen ihres Seins, macht sie uns lebendig, bringt sie uns nah und vermittelt zwischen der menschlichen Persönlichkeit und der göttlichen Natur.

Die transzendente Mutter
Als die ursprüngliche transzendente Shakti steht die Mutter über allen Welten und hält das Höchste Göttliche in ihrem ewigen Bewusstsein. Allein, birgt sie in sich die absolute Macht und die unbeschreibliche Gegenwart; die zu offenbarenden Wahrheiten in sich tragend oder rufend, bringt sie diese aus dem Mysterium, wo sie verborgen waren, herab in das Licht ihres unendlichen Bewusstseins und gibt ihnen eine Form der Kraft in ihrer allvermögenden Macht und ihrem grenzenlosen Leben und einen Körper im Universum. Der Höchste ist in ihr auf ewig manifestiert als das immerwährende Sachchidananda, ist durch sie in den Welten offenbart als das eine und das duale Bewusstsein von Ishwara-Shakti und als das duale Prinzip von Purusha-Prakriti, ist verkörpert durch sie in den Welten und auf den Ebenen und den Göttern und in deren Energien, und dargestellt durch sie als alles, was es in den bekannten Welten und in anderen unbekannten gibt. Alles ist ihr Spiel mit dem Höchsten; alles ist ihre Offenbarung der Mysterien des Ewigen, der Wunder des Unendlichen. Alles ist sie, denn alles ist Teil und Bestand der göttlichen Bewusstseinskraft. Nichts kann es hier oder sonstwo geben, was sie nicht bestimmt und der Höchste nicht gutgeheißen hat; nichts kann Gestalt annehmen, was sie nicht, bewegt durch den Höchsten, wahrgenommen und geformt hat, nachdem sie es in ihrem schöpferischen Ananda ausgesät hat.

Die universale Mutter
Die Mahashakti, die universale Mutter, arbeitet aus, was immer ihr vom Höchsten durch ihr transzendentes Bewusstsein übermittelt wird und tritt in die Welten ein, die sie erschaffen hat; ihre Gegenwart erfüllt und erhält diese mit dem göttlichen Geist und der göttlichen allerhaltenden Kraft und Wonne, ohne die nichts existieren könnte. Das, was wir Natur oder Prakriti nennen, ist nur ihr äußerster, ausführender Aspekt; sie lenkt und ordnet die Harmonie ihrer Kräfte und Prozesse, treibt die Natur zu ihren Werken an und bewegt sich verborgen oder offenbar in allem, was gesehen oder erfahren oder im Leben ausgedrückt werden kann. Jede dieser Welten ist nichts anderes als ein Spiel der Mahashakti dieses Weltensystems oder Universums, die sich dort als kosmische Seele und Persönlichkeit der transzendenten Mutter befindet. Eine jede hat sie in ihrer Vision gesehen, in ihr Herz der Schönheit und Macht aufgenommen und in ihrem Ananda erschaffen.

Die individuelle Mutter
Die Mutter lenkt nicht nur alles von oben her, sondern steigt auch in diese mindere dreifache Welt herab. Alle Dinge sind hier, sogar die Bewegungen der Unwissenheit, auf unpersönliche Weise sie selbst in verhüllter Macht und ihre Schöpfungen in verminderter Substanz, sind ihr Natur-Körper und ihre Natur-Kraft, und sie bestehen, weil sie veranlasst durch das geheimnisvolle „Es werde“ des Höchsten, etwas von den Möglichkeiten des Unendlichen herauszuarbeiten, in das große Opfer eingewilligt und sich wie eine Maske die Seele und Formen der Unwissenheit angelegt hat. Aber auch persönlich hat sie sich herniedergebeugt, hier in die Dunkelheit herniederzusteigen, um sie in das Licht zu führen, in die Falschheit und den Irrtum, um sie zur Wahrheit zu bekehren, in diesen Tod, um ihn in ein gottgleiches Leben zu wandeln, in diesen Weltschmerz und seine widerspenstigen Sorgen und Leiden, um ihnen ein Ende zu setzen in der alles verwandelnden Ekstase ihres sublimen Ananda. In ihrer tiefen und großen Liebe zu ihren Kindern hat sie eingewilligt, den Mantel dieser Dunkelheit umzulegen, hat sie es auf sich genommen, die Angriffe und die quälenden Einflüsse der Mächte der Finsternis und der Falschheit zu ertragen, durch die Tore der Geburt, die ein Tod ist, zu gehen, hat die Schläge und Schmerzen und Leiden der Schöpfung auf sich genommen, da es schien, dass sie nur auf diese Weise in das Licht, die Freude, die Wahrheit und das ewige Leben hinaufgehoben werden konnte. Das ist das große Opfer, das manchmal das Opfer des Purusha genannt wird, das aber zutiefst der Holocaust der Prakriti ist, das Opfer der Göttlichen Mutter.
