Kapitel 1
Die verkörperte Mutter
O starker Vorläufer, ich vernahm deinen Ruf.
Eine wird herniederkommen und brechen das eiserne Gesetz,
Wandeln das Verhängnis der Natur allein durch des Geistes Macht.
Ein grenzenloses Mental, das die Welt in sich enthalten vermag,
Ein liebliches und stürmisches Herz von glühender Gemütsruhe
Wird kommen, bewegt von den Leidenschaften der Götter.
Alle Mächte und Größen werden sich in ihr vereinen;
Himmlisch wird Schönheit auf Erden wandeln,
Wonne wird schlafen im Wolkennetz ihres Haares,
Und in ihrem Körper wird wie auf seinem heimatlichen Baume
Der unsterbliche Gott der Liebe seine glorreichen Flügel schlagen.
Eine Musik von sorglosen Dingen wird ihren Zauber weben;
Die Harfen der Vollendeten werden ihre Stimme begleiten,
Die Ströme des Himmels werden in ihrem Lachen plätschern,
Ihre Lippen werden Honigwaben Gottes sein,
Ihre Glieder seine goldnen Gefäße der Ekstase,
Ihre Brüste die Verzückungsblumen des Paradieses.
Weisheit wird sie tragen in ihrem stimmlosen Busen,
Stärke wird bei ihr sein wie ein Schwert des Siegers
Und aus ihren Augen wird die Seligkeit des Ewigen blicken.

„Unsere Mutter“
Ist es nicht so, dass Du Dich auf die Mutter (unsere Mutter) beziehst, in Deinem Buch „Die Mutter“?
Ja.
Ist sie nicht die ‚Individuelle‘ Göttliche Mutter, welche „die Macht dieser beiden unermesslicheren Weisen ihres Seins“ verkörpert – das Transzendente und das Universelle?
Ja.
Ist sie nicht zu uns hier herabgekommen in die Dunkelheit, in die Falschheit, den Irrtum und Tod, kraft ihrer tiefen und großen Liebe für uns?
Ja.
Es gibt viele, die der Ansicht sind, dass sie menschlich war, nun aber die Göttliche Mutter verkörpert, und ihre „Gebete“, so wird gesagt, erklären diese Sichtweise. Aber in meiner mentalen Vorstellung und meinem seelischen Gefühl nach ist sie die Göttliche Mutter, die bereit war, den Mantel der Dunkelheit, des Leidens und der Unwissenheit anzulegen, so dass sie uns menschliche Wesen wirkungsvoll zum Wissen, zur Glückseligkeit und zum Höchsten Herrn führen kann.
Das Göttliche erscheint im Gewand der Menschheit und nimmt die äußerliche menschliche Natur an, um den Weg zu gehen und ihn den menschlichen Wesen zu zeigen, hört aber nicht auf das Göttliche zu sein. Es ist eine Manifestation, die stattfindet, eine Manifestation eines wachsenden Göttlichen Bewusstseins, nicht etwas Menschliches, das sich in Göttliches wandelt. Die Mutter stand schon als Kind innerlich über dem Menschlichen – daher ist diese Ansicht ‚vieler‘ falsch.

Es gibt eine Göttliche Kraft, die sowohl im Universum als auch im Individuum wirkt – und die auch jenseits von Individuum und Universum ist. Die Mutter steht für diese Kräfte, aber sie arbeitet hier im Körper, um etwas herabzubringen, das in dieser materiellen Welt noch unausgedrückt blieb, um das Leben hier zu transformieren. Du solltest sie daher als die Göttliche Shakti sehen, die hier für dieses Ziel arbeitet. Das ist sie im Körper; in ihrem Gesamtbewusstsein ist sie jedoch ebenfalls mit allen anderen Aspekten der Göttlichen Kraft identifiziert.

Aufrichtigkeit gegenüber der Mutter erfordert die Mitteilung aller geheimen Gedanken. Zwischen der Mutter und dem Kind darf es keine Geheimnisse geben. Aber gibt es noch einen anderen Nutzen der Beichte?
Die physische Annäherung an die Mutter ist von Nutzen – die Annäherung des inkarnierten Mentals und Vitals an ihre inkarnierte Macht. Im Rahmen ihrer universellen Aktion handelt die Mutter gemäß dem Gesetz der Dinge; ihre verkörperte physische Aktion bietet die Gelegenheit für das Wirken einer ständigen Gnade – dazu findet die Verkörperung statt.

Warum handelt die Mutter in ihrer universellen Aktion gemäß dem Gesetz der Dinge, in ihrer Inkarnation dagegen durch immerwährende Gnade?
Es ist die Arbeit der Kosmischen Macht, den Kosmos und das Gesetz des Kosmos zu erhalten. Die größere Transformation kommt vom Transzendenten oberhalb des Universalen, und es ist diese transzendente Gnade, die durch die Verkörperung der Mutter zur Wirkung gebracht wird.

Habe ich Recht, wenn ich annehme, dass sie als Individuum alle göttlichen Kräfte verkörpert und die Gnade immer mehr auf die physische Ebene lenkt und herabbringt…
Ja.
…und dass ihre Verkörperung eine Gelegenheit für das gesamte physische Bewusstsein ist, sich zu wandeln und transformiert zu werden?
Ja. Ihre Verkörperung ist eine Chance für das Erdbewusstsein, das Supramental in sich zu empfangen und dazu zunächst die Transformation zu durchlaufen, die das ermöglicht. Danach wird eine weitere Umwandlung durch das Supramental geschehen, das gesamte Erdbewusstsein wird jedoch nicht supramentalisiert werden – erst wird es eine neue Menschenart geben, die das Supramental repräsentiert, ähnlich wie der Mensch das Mental repräsentiert.

Gibt es irgendeinen Unterschied zwischen der Manifestation der Mutter und der Herabkunft des Supramentals?
Die Mutter kommt, um das Supramental herabzubringen, und es ist die Herabkunft, die ihre volle Manifestation hier möglich macht.

Ist die Haltung „Ich bin Brahman“ nicht notwendig im Integralen Yoga?
Es genügt nicht, um die ganze Natur umzuwandeln. Sonst bestünde keine Notwendigkeit für das Hiersein der Mutter. Es könnte getan werden, indem man sich einfach selbst als Brahman versteht. Die Präsenz der Mutter oder die Kraft der Mutter wären nicht notwendig.

Die Mutter als göttlich erkennen
Als ich heute Abend die Mutter ansah, fand ich in ihr die höchste Schönheit. Sie strahlte. Mir war, als sei eine große Göttin vom Himmel herabgestiegen. Darf ich wissen, was das war?
Es war nur so, dass du die Göttlichkeit bei ihr gespürt hast, die immer da ist.

Ich habe nicht bei jeder Gelegenheit einen aktiven Glauben daran, dass die Mutter göttlich ist oder dass ihr Umgang mit uns göttlich ist. Wie erlangt man da eine feste Überzeugung?
Nur wenn man die Göttlichkeit der Mutter sieht, kann es eine feste Überzeugung geben – es ist eine Frage des inneren Bewusstseins und der inneren Schau.

Wie überzeugt man den Verstand, dass die Mutter göttlich und ihr Wirken nicht menschlich ist?
Dies kann geschehen, indem man das seelische Wesen öffnet und zulässt, dass es das Mental und das Vital regiert – weil das seelische Wesen weiß und sehen kann, was das Mental nicht vermag.

Es gibt Leute, die das sofort können, bei anderen dauert es länger.
X nahm auf den ersten Blick die Mutter als göttlich wahr und ist seither glücklich gewesen; andere, die zu Mutters Anhängern gezählt werden, brauchten Jahre, um es zu entdecken oder zuzugeben, aber sie gelangten alle dahin. Es gibt Leute, die in den ersten fünf, sechs, sieben oder mehr Jahren der Sadhana nichts als Schwierigkeiten und Revolten hatten, aber das seelische Wesen erwachte letztendlich doch. Die Zeit, die es dazu braucht, ist sekundär: Das einzig Wichtige ist, – früher oder später, auf leichte Weise oder mit Schwierigkeiten –, dahin zu kommen.

Die Mutter und Sri Aurobindo
Das Bewusstsein der Mutter ist das göttliche Bewusstsein und das Licht, das von ihr ausgeht, ist das Licht der göttlichen Wahrheit; die Kraft, die sie herabbringt, ist die Kraft der göttlichen Wahrheit. Wer das Licht der Mutter empfängt, annimmt und darin lebt, wird beginnen, die Wahrheit auf allen Ebenen zu sehen, der mentalen, der vitalen und der physischen. Er wird alles Ungöttliche zurückweisen; das Ungöttliche ist die Falschheit, die Unwissenheit, der Irrtum der dunklen Mächte; das Ungöttliche ist alles, was obskur und nicht bereit ist, die göttliche Wahrheit und ihr Licht und ihre Kraft anzunehmen. Das Ungöttliche ist also all das, was nicht bereit ist, das Licht und die Kraft der Mutter anzunehmen. Deshalb sage ich dir immer, dass du mit der Mutter und ihrem Licht und ihrer Kraft in Kontakt bleiben sollst, denn nur so kannst du aus der Verwirrung und der Dunkelheit herauskommen und die Wahrheit, die von oben kommt, empfangen. …
Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Pfad der Mutter und meinem; wir haben und hatten stets denselben Pfad, den Pfad, der zur supramentalen Wandlung und göttlichen Verwirklichung führt; nicht nur am Ende, sondern von Anfang an waren sie derselbe.
Der Versuch, eine solche Trennung und Gegensätzlichkeit zu schaffen, indem man die Mutter auf die eine Seite stellt und mich selbst auf eine andere, entgegengesetzte oder ganz andere Seite, war schon immer ein Trick der Kräfte der Falschheit, wenn sie einen Sadhaka daran hindern wollen, die Wahrheit zu erreichen.
Wisse, dass das Licht und die Kraft der Mutter das Licht und die Kraft der Wahrheit sind; bleibe immer in Kontakt mit dem Licht und der Kraft der Mutter, nur dann kannst du in die göttliche Wahrheit hineinwachsen.

Der Widerspruch zwischen dem Bewusstsein der Mutter und meinem Bewusstsein war eine Erfindung der alten Zeit (vor allem von X, Y und anderen aus dieser Zeit) und entstand zu einer Zeit, als die Mutter von einigen derer, die am Anfang hier waren, nicht vollständig erkannt oder akzeptiert wurde. Selbst nachdem sie sie erkannt hatten, hielten sie an diesem sinnlosen Widerspruch fest und fügten sich selbst und anderen großen Schaden zu. Das Bewusstsein der Mutter und mein Bewusstsein sind dasselbe, das eine Göttliche Bewusstsein in Zweien, weil dies für das Spiel notwendig ist. Nichts lässt sich vollbringen ohne ihr Wissen und ihre Kraft, ohne ihr Bewusstsein. Wenn jemand wirklich ihr Bewusstsein spürt, sollte er wissen, dass ich dahinter stehe, und wenn er mich fühlt, gilt dasselbe für ihres. Wenn eine Trennung vorgenommen wird (ich lasse hier einmal die Deutungen außer acht, die sie diesen Dingen geben), wie kann sich dann die Wahrheit etablieren? Aus der Sicht der Wahrheit gibt es keine solche Trennung.

…du glaubst, die Mutter kann dir nicht helfen…
Wenn du aus ihrer Hilfe keinen Nutzen ziehen kannst, dann kannst du aus meiner Hilfe noch weniger Nutzen ziehen. Jedenfalls habe ich nicht die Absicht, die Regelung zu ändern, die ich für alle Sadhaks ohne Ausnahme getroffen habe, dass sie das Licht und die Kraft von ihr und nicht direkt von mir erhalten und dass sie in ihrem spirituellen Fortschritt von ihr geführt werden. Ich habe diese Regelung nicht für irgendeinen vorübergehenden Zweck getroffen, sondern weil es der einzige Weg (in Anbetracht dessen, was sie und ihre Kraft ist – vorausgesetzt, der Sadhak ist immer offen und empfänglich), der wahr und wirksam ist.

Was auch immer von der Mutter kommt, kommt auch von mir – da gibt es keinen Unterschied. Wenn ich also etwas gebe, ist es die Kraft der Mutter, die es dem Sadhak gibt.

Ist es dasselbe, ob wir an Sri Aurobindo schreiben oder an die Mutter? Manche sagen, dass beide eins sind. Schreiben wir also an Sri Aurobindo oder an die Mutter, dann sind wir offen für die Mutter; ist das richtig?
Es stimmt, dass wir eins sind, aber es gibt auch eine Beziehung, die es notwendig macht, für die Mutter offen zu sein.

Mutter praktizierte Yoga, bevor sie Sri Aurobindo kannte oder traf, aber ihre Richtungen der Sadhana folgten unabhängig voneinander demselben Weg. Als sie sich trafen, halfen sie sich gegenseitig, die Sadhana zu vervollkommnen. Das, was als Sri Aurobindos Yoga bekannt ist, ist die gemeinsame Schöpfung von Sri Aurobindo und der Mutter; sie sind jetzt völlig identisch – die Sadhana im Ashram und alle Vorkehrungen werden direkt von der Mutter getroffen, Sri Aurobindo unterstützt sie aus dem Hintergrund. Alle, die hierher kommen, um Yoga zu praktizieren, müssen sich der Mutter hingeben, die ihnen immer hilft und ihr spirituelles Leben fördert.

Die Mutter ist keine Schülerin von Sri Aurobindo.1 Sie hat die gleiche Verwirklichung und Erfahrung gemacht wie ich selbst.
Die Sadhana der Mutter begann, als sie noch sehr jung war. Als sie zwölf oder dreizehn Jahre alt war, kamen jeden Abend viele Lehrer zu ihr und unterrichteten sie in verschiedenen spirituellen Disziplinen. Unter ihnen war auch eine dunkle asiatische Gestalt. Als wir uns das erste Mal trafen, erkannte sie mich sofort als die dunkle asiatische Gestalt, die sie vor langer Zeit gesehen hatte. Es war wie eine göttliche Fügung, dass sie hierher kommen und mit mir an einem gemeinsamen Ziel arbeiten sollte.
Die Mutter war eine Kennerin des buddhistischen Yoga und des Yoga der Gita, schon bevor sie nach Indien kam. Ihr Yoga bewegte sich auf eine große Synthese zu. Danach war es ganz natürlich, dass sie hierher kam. Sie half und hilft mir, meinem Yoga eine konkrete Form zu geben. Ohne sie wäre das nicht möglich gewesen.
Einer der beiden großen Schritte in diesem Yoga ist die Hinwendung zur Mutter.2

1 Dieser Brief wurde von Sri Aurobindo diktiert, der von sich selbst in der dritten Person sprach. – Herausgeber
2 Als Sri Aurobindo später gefragt wurde, was der zweite große Schritt sei, antwortete er: „Das Streben des Sadhaks nach dem göttlichen Leben“. – Herausgeber