Kapitel 9
Der Mensch – Sklave oder frei?
Die ausschließliche Ausübung des Yoga durch Menschen, die sich physisch oder mental vom Kontakt mit der Welt absondern, hat zu der irrigen Auffassung von dieser Wissenschaft als etwas Mystisches, Fernes und Unwirkliches geführt. Die Geheimhaltung, die in Bezug auf die yogischen Praktiken beobachtet wurde – eine notwendige Geheimhaltung in den früheren Stadien der menschlichen Evolution – hat diesen Irrtum verfestigt. Praktiken, die von Menschen befolgt werden, die geheime Zirkel bilden und die Unterweisung in den Mysterien strikt auf ein paar vorbereitete fähige Menschen beschränken, tragen für die Außenwelt stets den Stempel von Okkultismus. In Wirklichkeit gibt es im Yoga nichts an sich Verborgenes, Okkultes oder Mystisches. Yoga beruht auf bestimmten Gesetzen der menschlichen Psychologie, auf bestimmte Kenntnisse über die Macht des Mentals über den Körper und des inneren Geistes über das Mental, die nicht allgemein verwirklicht sind und bisher von den in das Geheimnis Eingeweihten für allzu folgenschwer für eine Enthüllung gehalten wurden, bis die Menschen für deren rechten Gebrauch ausgebildet wären. Gerade wie eine Forschergruppe, die die äußersten Möglichkeiten des Mesmerismus und Hypnotismus entdeckt und erprobt hatte, zögern mochte diese frei zu verbreiten, damit die hypnotische Kraft nicht von Unwissenheit und Verderbtheit missbraucht oder zum Nutzen von Eigensucht oder Verbrechen eingesetzt würde, so haben die Yogins gemeinhin die Kenntnis dieser noch viel größeren Kräfte in uns geheim gehalten, außer wenn sie der vorherigen ethischen und spirituellen Ausbildung des Neophyten und seiner physischen und sittlichen Eignung für die yogischen Praktiken sicher waren. Darum wurde es für den Lernenden feste Regel, die inneren Erfahrungen betreffend strenge Zurückhaltung zu üben, und für den entwickelten Yogin, sich als solcher möglichst zu verbergen. Das hat nicht verhindert, dass Abhandlungen und Handbücher mit den physischen, sittlichen oder intellektuellen Seiten des Yoga veröffentlicht wurden. Auch hat es große Geister, die ihren Yoga nicht durch die üblichen bedachtsamen und wissenschaftlichen Verfahren erworben hatten, sondern durch ihr eigenes Vermögen und die besondere Gnade Gottes, nicht daran gehindert, sich und ihr spirituelles Wissen der Menschheit zu enthüllen und in ihrer starken Liebe für diese etwas von ihrer Macht der Welt kundzutun. Solche waren Buddha, Christus, Mohammed, Chaitanya, und solche waren Ramakrishna und Vivekananda. Noch immer ist es die orthodoxe Meinung, dass die Erfahrungen des Yoga dem Uneingeweihten nicht enthüllt werden dürfen. Aber ein neues Zeitalter bricht an, wo die alten Gesetze verändert werden müssen. Schon beginnt der Westen die Geheimnisse des Yoga zu entdecken. Einige seiner Gesetze haben sich, wie trübe und unvollkommen auch immer, den europäischen Wissenschaftlern enthüllt, während andere durch Spiritismus, christliche Wissenschaft, Hellseherei, Telepathie und andere moderne Formen von Okkultismus gewissermaßen von im Dunkeln tappenden und über für sie unverständliche Wahrheiten stolpernden Menschen fast zufällig entdeckt werden. Die Zeit ist beinahe gekommen, wo Indien sein Licht nicht länger für sich behalten kann, sondern es auf die Welt ausgießen muss. Yoga muss der Menschheit enthüllt werden, weil sie ohne ihn den nächsten Schritt in der menschlichen Entwicklung nicht machen kann.
Die wahre Psychologie der Menschenart ist von der Wissenschaft noch nicht entdeckt worden. Die ganze Schöpfung ist wesenhaft dieselbe und geht nach gleichartigen, wenn auch nicht identischen Gesetzen vor. Sehen wir also in der äußeren materiellen Welt, dass sich alle Erscheinungen auf eine einzige Ursubstanz zurückführen lassen, woraus sie entstanden, worin sie sich bewegen und wohin sie zurückkehren, so dürfte die gleiche Wahrheit auch für die innere Welt gelten. Die Einheit des materiellen Weltalls wird nun vom wissenschaftlichen Verstand Europas anerkannt und die Hohepriester des Atheismus und Materialismus in Deutschland haben das ekam evadvitiyam [Eines ohne ein Zweites] in der Materie mit unmissverständlicher Stimme erklärt. Damit haben sie lediglich die von indischen Meistern der yogischen Wissenschaft vor Tausenden von Jahren gemachte Entdeckung bekräftigt. Aber die europäischen Wissenschaftler haben keine sicheren, zuverlässigen Verfahren entdeckt – wie bei ihrem Umgang mit dem Grobstofflichen –, um innere Erscheinungen zu untersuchen. Sie können nur die äußerlichsten Bekundungen des Mentals im Wirken beobachten. Aber dabei ist dieser so sehr dem Wirken äußerer Gegenstände ausgesetzt und scheint von ihnen derart abhängig zu sein, dass es dem Beobachter schwerfällt, die Beweggründe von dessen Tun oder irgendein Regelmaß in dessen Betätigungen festzustellen. Europäische Wissenschaftler sind daher zu dem Schluss gekommen, dass Anreize von außen die Ursache psychischer Phänomene seien, und selbst wenn das Mental aus eigenem Antrieb zu handeln und sich nach eigenem Material zu richten scheint, verbinde, gruppiere und bearbeite es doch nur die verzeichneten Erfahrungen aus äußerlich Gegenständlichem. Die eigentliche Natur des Mentals sei eine Schöpfung vergangener stofflicher Erfahrung, durch Vererbung so beharrlich übermittelt, dass wir aus dem Wilden mit seinem rudimentären Mental zum Zivilisierten des 20. Jahrhunderts herangewachsen seien. Als natürliches Ergebnis dieser materialistischen Theorien hat sich die Wissenschaft schwer damit getan, irgendeine wahre psychische Mitte für die mannigfaltigen Phänomene des Mentals zu finden und hat sich darum für das Gehirn, das stoffliche Denkorgan, als das einzig wahre Zentrum entschieden. Aus dieser materialistischen Philosophie haben sich gewisse für die sittliche Zukunft der Menschheit sehr gefährliche Theorien ergeben. Erstens, der Mensch ist Geschöpf und Sklave der Materie. Er kann sie nur meistern, indem er ihr gehorcht. Zweitens, das Mental selbst ist eine Form grober Materie und nicht unabhängig von den Sinnen und Meister über sie. Drittens, es gibt keinen wirklich freien Willen, weil unser gesamtes Handeln von zwei großen Kräften bestimmt wird, Vererbung und Umwelt. Wir sind Sklaven unserer Natur, und wo wir von ihrer Herrschaft frei zu sein scheinen, sind wir sogar noch mehr versklavt, nämlich durch unsere Umwelt, bearbeitet von Kräften, die uns umringen und handhaben.
Aus diesen falschen und gefährlichen Lehren des Materialismus, die des Menschen Zukunft zu untergraben und seine Entwicklung zu hemmen neigen, führt uns Yoga hinaus. Er steht im Gegenteil ein für die Freiheit des Menschen von der Materie und gibt ihm ein Mittel an die Hand, diese Freiheit zu behaupten. Die erste große fundamentale Entdeckung der Yogins war ein Mittel zur Analyse der Erfahrungen des Mentals und des Herzens. Durch den Yoga kann man das Mental isolieren, dessen Wirkensweisen wie unter einem Mikroskop betrachten, jede winzigste Betätigung der verschiedenen Teile des antahkarana, des inneren Organs, für sich nehmen, jedes mentale und sittliche Vermögen, dessen gesonderte Wirkensweisen wie auch die Beziehungen zu anderen Betätigungen und Vermögen; wir können die mentalen Vorgänge zurückverfolgen zu feineren und immer feineren Quellen, bis die yogische Analyse – der stofflichen entsprechend, die zu einer ursprünglichen Wesenheit gelangt, aus der alles entsteht – zu einer spirituellen Wesenheit kommt, von der alles ausgeht. Sie ist auch fähig, das seelische Zentrum zu orten und zu unterscheiden, worauf alle seelischen Phänomene bezogen sind, und somit die Wurzeln der Persönlichkeit festzustellen. Bei dieser Durchforschung wird als erstes entdeckt, dass der mentale Geist sich von äußeren Gegenständen völlig absondern und in und aus sich wirken kann. Das bringt uns zwar nicht sehr weit, weil es ja sein mag, dass er bloß das durch frühere Erfahrungen angesammelte Material verwendet. Doch die nächste Entdeckung ist, dass er, je weiter von Gegenständen entfernt, desto machtvoller, sicherer und rascher arbeitet, mit behänderer Klarheit, mit einer siegreichen und souveränen Losgelöstheit. Es ist eine Erfahrung – im Widerspruch zur wissenschaftlichen Theorie –, dass der mentale Geist die Sinne in sich selbst zurückziehen und sie auf eine Menge von Erscheinungen richten kann, deren er, wenn mit Äußerlichkeiten beschäftigt, keineswegs gewahr ist. Die Wissenschaft tut dies natürlich als Halluzination ab. Dazu ist zu sagen, dass diese Erscheinungen durch regelrechte, einfache und verständliche Gesetze miteinander verbunden sind und eine eigene Welt bilden, unabhängig von dem auf die materielle Welt einwirkenden Denken. Auch hier mag die Wissenschaft einwenden, diese angebliche Welt sei bloß ein imaginativer Reflex der materiellen Welt im Gehirn, und jedem Argument, das sich auf die Entschiedenheit und Unerwartetheit dieser subtilen Erscheinungen sowie ihre Unabhängigkeit von unserem Willen und unserer Vorstellung stützt, kann sie immer ihre Theorie unbewusster Gehirntätigkeit und, vermutlich, unbewusster Einbildung entgegensetzen. Die vierte Entdeckung ist, dass der mentale Geist nicht nur von der äußeren Materie unabhängig, sondern Herr über sie ist; äußere Anreize kann er zurückweisen und meistern, ja anscheinend so sich den allgemeingültigen materiellen Gesetzen wie dem der Schwerkraft widersetzen; sogenannte Naturgesetze, die eigentlich nur Gesetze der materiellen Natur sind, sind den psychischen Gesetzen untergeordnet, weil Materie Ergebnis des Mentals ist und nicht umgekehrt. Diese sogenannten Naturgesetze braucht er nicht zu beachten, kann sich über sie hinwegsetzen, sie aufheben. Dies ist die entscheidende Entdeckung des Yoga, seine endgültige Bestreitung des Materialismus. Darauf folgt die krönende Verwirklichung, dass sich in uns ein Quell unermesslicher Kraft, unermesslicher Intelligenz, unermesslicher Freude befindet, – weit oberhalb der Möglichkeit von Schwäche, oberhalb der Möglichkeit von Unwissenheit, oberhalb der Möglichkeit von Leid –, welchen wir mit uns in Berührung bringen und, unter anstrengenden, aber nicht unmöglichen Bedingungen, ständig benutzen und genießen können. Dies ist es, was die Upanishaden Brahman nennen, das ursprüngliche Sein und Wesen, woraus alle geboren wurden, worin sie leben und wohin sie zurückkehren. Dies ist Gott, und Gemeinschaft mit Ihm ist das höchste Ziel des Yoga – eine Gemeinschaft, die Wissen, bewusstes Wirken und beseligende Freude zeitigt.