Kapitel 8

Das Prinzip des Bösen

Das Problem des Bösen hat das menschliche Denken stark beschäftigt, und verschiedenartige, einander widerstreitende Lösungen sind entwickelt worden. Für den Rationalisten, der an nichts Unstoffliches glaubt, existiert das Problem nicht. Alles in der Natur ist Ergebnis der Evolution. Die Natur ist blind und unintelligent und hat daher keine Vorstellung von Gut und Böse; die Vorstellung gehört dem menschlichen Verstand und ist das Ergebnis des sozialen Empfindens und der Vorstellungen von Lust und Schmerz, die sich in den Menschen durch einen völlig einsichtigen natürlichen Prozess entwickelt haben. Doch für Menschen, die an eine Intelligenz, eine Einsichtskraft glauben, die über der Welt waltet und sie entwickelt, gibt es das Problem. Warum ist das Böse entstanden und was ist sein Zweck?

Die Unwilligkeit der frommen Seele, zuzugeben, dass das Böse in Gott existieren kann, hat zu Variationen der manichäischen Theorie geführt, die eine doppelte Herrschaft in der Welt sieht, nämlich Gott als das Prinzip des Guten und Satan als das Prinzip des Bösen. Die den Glauben an das bestehen einer intelligenten bösen Macht als Aberglauben betrachten, finden den Ursprung des Bösen im Menschen, der seine Freiheit missbraucht und durch seine Auflehnung und seinen Eigenwillen die Sünde hervorbringt. Diese Lösung löst aber gar nichts, weil sie nicht erklärt, warum es überhaupt eine Möglichkeit zum Bösen gegeben haben sollte. Sofern wir unsere Vorstellung von Gott als dem Ursprung und Schöpfer von allem, als das, von dem alles ausgeht, nicht einschränken, müssen wir gelten lassen, dass das Böse als Teil des Haushalts der Welt nicht weniger als das Gute aus Ihm hervorgegangen sein muss. Selbst wenn wir gewaltsam eine andere schöpferische Kraft in der Welt annehmen, die seine Universalität einschränkt, müssen wir davon ausgehen, dass Er, der die Macht hat, das Böse zu verhindern, es zulässt; denn Er ist allmächtig, und ohne die Erlaubnis Seiner allweisen übermächtigen Vorsehung vermag keiner irgendetwas zu tun. Beschränken wir jedoch die Allmacht Gottes, so setzen wir Ihn zu einem bloßen Demiurgen herab, einem großen Schöpfer von Dingen, der sich inmitten von Kräften abmüht, über die Er nicht die volle Gewalt hat. Eine solche Auffassung ist unphilosophisch und widerspricht der universellen spirituellen Erfahrung der Menschheit. Das Problem bleibt, warum Er, wenn Er Gott, die All-Liebe, sarvamangalam, ist, dann das Böse erschafft, oder wenn Er es nicht erschafft, warum Er es zulässt.

Unserer Meinung nach gibt es keinen Ausweg aus dem Glauben, dass Gott, wenn es Ihn gibt, alles ist. Alles geht von Ihm aus; von welcher anderen Quelle kann es ausgehen? Alles existiert in Ihm; in welchem anderen Wesen oder Kontinent kann es existieren? Deshalb muss das Böse von Ihm ausgehen, das Böse muss in Ihm existieren. Da Er der All-Weise ist, weil alles Wissen das Seinige ist, muss es zu irgendeinem weisen und vollkommenen Zweck existieren. Da Er die All-Liebe ist, muss es für das Gute existieren und nicht für etwas, das dem Guten widerspricht. Nur, Seine Weisheit ist eine unendliche Weisheit, unsere Weisheit ist eine endliche, Seine ist vollkommen, unsere unentwickelt. Seine ist eine unendliche und allweise Liebe, unsere eine endliche und unweise Liebe, eine Liebe, die unvollkommen von Wissen geprägt ist, voller Maya, Anhänglichkeit an vergängliches Glück und Vergnügen. Gottes Liebe blickt weithin, unsere Liebe richtet ihre Augen auf den Augenblick.

Erfahrung muss immer die Grundlage wahren Wissens sein, aber sie muss von wahrer Wahrnehmung erhellt sein, nicht eine von oberflächlichen Eindrücken dominierte Erfahrung. Einzig jene Erfahrung des Mentals ist erstrebenswert, die Ruhe erlangt hat und unter heftigsten Angriffen von Schmerz, Unglück und Bösem gelassen zu bleiben vermag. Das Mental, das nicht unerschütterlich, dhira, ist, das Kummer empfindet und unter dem Einfluss von Zuneigung und Leidenschaft denkt – sei es auch eine edle Zuneigung und Leidenschaft –, kann nicht zu samyag jnanam, der vollständigen und vollkommenen Wahrheit gelangen. Gemütsregung ist für das Herz und sollte nicht den Verstand bedrängen; denn des Verstandes eigentliche Aufgabe ist beobachten und verstehen, ohne sich vom geringsten Vorurteil, der leisesten Spur von Gefühl verdunkeln zu lassen. Wer dhira ist, wird jedes Geschehen gründlich anschauen, und, wenn er nicht sogleich sehen kann, auf Erhellung des Kerns und der letztendlichen Absicht warten; so wartend, so ruhig betrachtend, dämmert dem Verstand der Sinn des Lebens, entschleiert sich ein unendlicher Zweck in kleinen und großen Dingen, in guten und schlechten Vorkommnissen: allwissende Vorsehung enthüllt sich im Sturz des Sperlings und im Tod der Ameise wie auch im Erdbeben, das große Städte zerstört, und in den Fluten, die Tausende heimat- und mittellos machen. Rudra und Shiva erweisen sich als eins. Der Yogin sieht Gott in allen Dingen, in allen Wesen und allen Geschehnissen. Er ist die Sturmflut, Er ist das Erdbeben, Er ist der Tod, der zu höherem Leben führt, Er ist der Schmerz, der uns für höhere Seligkeit vorbereitet. Darüber lässt sich nicht streiten – es muss gesehen werden Paripasyanti dhirah [Weise nehmen überall wahr]. Und Sehen ist nur dem ruhigen Herzen und dem gelassenen Verstehen möglich.

Der Materialist hat nicht Unrecht, wenn er gut und böse lediglich für Vorgänge der Natur hält, die diese unparteiisch und unterschiedslos verwendet, und Unterscheidung erst als Entwicklung des menschlichen Mentals betrachtet. Das Böse ist das Gute, das verfallend ein höheres Gutes vorbereitet. Das, was heute Tyrannei ist, war einst notwendig, um die menschliche Gesellschaft zu festigen. Was einst ein idealer Zustand der Gesellschaft war, wäre jetzt barbarisch und böse. Die Moral schreitet voran, die Religion erweitert sich mit der wachsenden Offenbarung dessen, was in der Menschenart göttlich ist. Wie beim Einzelwesen, so in der Menschenart und der Welt, trägt das Böse zum Guten bei; es tritt auf, damit die Menschen das mindere Gute ablehnen und zum höheren Guten aufsteigen mögen.

Bleibt die Frage des Schmerzes. War es notwendig, dass der Entwicklungsprozess mit Schmerzen für den Einzelnen einhergeht? Es gab eine Zeit, wo die Schmerzkapazität, physisch wie mental, unendlich viel geringer war als heute, so gut wie nicht vorhanden. Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass Krankheit, Schmerz und Kummer mit der zunehmend feineren Ausgestaltung des Menschen heftiger geworden sind. Das kann nur eine zeitweilige Entwicklung sein, notwendig zur Vorbereitung einer höheren Art, die sich über Schmerz und Leid hinaus zu einem höheren Vermögen für Vergnügen und Freude erheben wird. Die niedrigere Gestaltung widerstand dem samskara von Schmerz und Leid durch die Grobheit ihrer Anlage, sie entging dem Schmerz insofern, als sie ihn kaum kannte. Die höhere Gestaltung in der Zukunft wird nicht unterhalb davon sein, sondern sich darüber erheben. Erkenntnis von Gut und Böse brachte Leid und Sünde in die Welt; wird diese Kenntnis überstiegen, dann erhebt der Mensch sich über Leid und Sünde hinaus. Bevor er die verbotene Frucht aß, hatte er die Unschuld des Tieres; hört er auf davon zu essen, dann erhält er die Unschuld des Gottes. Ist es nicht so, dass in der Natur Schmerz eine Möglichkeit ist, die erschöpft werden muss, und dass der Mensch als Werkzeug erwählt wurde, ihn in das Dasein zu bringen, auf beschränktem Raum, für begrenzte Zeit, und ihn aus dem Kosmos hinauszuarbeiten? Im Lichte dieser Idee gewinnt die christliche Lehre vom Menschensohn am Kreuz eine neue Bedeutung, und der Mensch selbst wird zum Christus des Weltalls.

Da stellt sich eine weitere Frage. Ist Schmerz real oder ein Schatten? Der Vedantist glaubt, dass die Seele ein Teil Gottes oder eins mit Gott selbst ist und nicht Schmerz oder Leid, sondern nur Ananda, Seligkeit, empfinden kann. Der Jiva, die Seele, nimmt den rasa [Geschmack, essentielle Empfindung] auf, die Wonne der Dualitäten, und diese wandelt sich in seiner Natur zu Seligkeit, was aber durch die Unwissenheit verhüllt ist, die den Jiva in seiner Eigengestalt, swarupa, von dem Mental und dem Herzen sondert. Schmerz ist eine negative Entstellung, vikara, der wahren Erfahrung im Mental, Vergnügen eine positive. Die Wahrheit ist Ananda. Doch für dieses Wissen ist die Menschheit noch nicht bereit. Nur der Yogin verwirklicht sie und wird sama, gleichmütig gegenüber Schmerz und Freude, Gut und Böse, Glück oder Unglück. Er nimmt den rasa von beiden auf, und sie geben ihm Stärke und Seligkeit, denn der Schleier zwischen seinem Mental und seiner Seele hat sich gelüftet, und der scheinbare Mensch in ihm ist eins geworden mit dem wirklichen Menschen, svarupa. Erlangte die Menschheit insgesamt dies Wissen zu früh, dann würde die Entwicklung des vollkommen Guten verzögert. Die äußerste Süße von daya und prema, Erbarmen und Liebe, würde vielleicht nie aus dem Spiel, lila, gewonnen.