Kapitel 10
Yoga und die Evolution des Menschen
Im Kern ist unser menschlicher Fortschritt insgesamt ein Versuch gewesen, der Knechtschaft an den Körper und die vitalen Impulse zu entkommen. Nach der wissenschaftlichen Theorie begann der Mensch als Tier, entwickelte sich durch den Wilden und gipfelte im modernen zivilisierten Menschen. Die indische Theorie ist von anderer Art. Gott schuf die Welt, indem er aus dem Einen das Viele und aus dem Spirituellen das Materielle entwickelte. Von Anfang an wurden die Objekte, die die physische Welt ausmachen, in ihren Ursachen von Ihm angeordnet, nach ihrem Wesensgesetz in der subtilen oder seelischen Welt entwickelt und dann in der groben oder materiellen Welt offenbart. Vom Ursächlichen, karana, zum Feinstofflichen, suksma, vom Feinstofflichen zum Groben, sthula, und wieder zurück, das ist die Formel. Einmal in der Materie offenbart, geht die Welt nach Gesetzen vor, die sich nicht verändern, von Zeitalter zu Zeitalter, durch regelmäßige Abfolge, bis alles wieder in den Quell zurückgezogen wird, aus dem es kam. Das Materielle geht in das Seelische zurück, und das Seelische wird in seine Ursache oder Saat eingefaltet. Wenn die Periode der Ausdehnung wiederkehrt, wird es abermals hinausgestellt, nimmt seinen Lauf auf gleichen Grundlinien, jedoch mit anderen Einzelheiten, bis die Zeit der Zusammenziehung erneut fällig wird. Der Hinduismus betrachtet die Welt als wiederkehrende Reihe von Erscheinungen, deren Bestimmungen sich ändern, doch deren allgemeine Formel dieselbe bleibt. Diese Theorie ist nur dann annehmbar, wenn wir die im Vishnu-Purana formulierte Wahrheit der Vorstellung von der Welt als vijnana-vijrmbhitani anerkennen – als Entfaltungen von Ideen in der Universalen Intelligenz, die allen materiellen Phänomenen zugrunde liegt und durch ihre innewohnende Kraft das Wachstum des Baumes und die Entwicklung der Scholle sowie die Entwicklung der Lebewesen und den Fortschritt der Menschheit prägt. Welche Theorie wir auch nehmen, die Gesetze der materiellen Welt sind nicht betroffen. Von Äon zu Äon, von kalpa zu kalpa, offenbart sich Narayan in einer sich ständig weiterentwickelnden Menschheit, die an Erfahrung zunimmt durch eine Folge von Ausdehnungen und Zusammenziehungen hin zu der ihr bestimmten Selbstverwirklichung in Gott. Diese Entwicklung wird von der Hindu-Theorie der Yugas nicht geleugnet. Jedes Zeitalter im Hindu-System hat seine eigene Linie sittlicher und spiritueller Entwicklung, und der Verfall des Dharma oder festgelegten Verhaltensgesetzes vom Satya-Yuga zum Kali-Yuga ist nicht eigentlich eine Verschlechterung, sondern eine Entkräftung der äußeren Formen und Stützen der Spiritualität, um eine tiefere spirituelle Intensität im Herzen vorzubereiten. In jedem Kali-Yuga gewinnt die Menschheit etwas an essentieller Spiritualität. Ob wir den modernen wissenschaftlichen oder den alten hinduistischen Standpunkt einnehmen, das Fortschreiten der Menschheit ist eine Tatsache. Das Rad Brahmas kreist auf alle Zeiten, dreht sich aber nicht auf der Stelle; seine Umläufe tragen es vorwärts.
Das Tier unterscheidet sich vom Menschen durch seine Versklavung an den Körper und die vitalen Triebe. Asanaya mrtyuh, Hunger, der Tod ist, hat die materielle Welt von alters her entwickelt, und physisches Hungern und Begehren sowie die mit dem Prana verbundenen vitalen Empfindungen und urtümlichen Gemütsregungen suchen sich im Tier und im Wilden, der dessen Befindlichkeit nahesteht, von der Welt zu ernähren. Aus diesem Tierzustand erhebt sich der Mensch – europäischer Wissenschaft zufolge –, indem er durch intellektuelle und sittliche Entwicklung in den gesellschaftlichen Verhältnissen den Tiger und den Affen hinausarbeitet und ablegt. Soll die Bestie abgelegt werden, dann gilt es natürlich über Körper und Lebenskraft Herr zu werden, und wie vollständig diese Meisterung erreicht wird, so weit entfaltet ist der Mensch. Den Fortschritt der Menschheit haben viele hauptsächlich der Entwicklung des menschlichen Intellekts zugeschrieben, und die intellektuelle Entwicklung ist zweifellos zur Selbstmeisterung unerlässlich. Das Tier und der Wilde sind durch den Körper deshalb gebunden, weil ihre Ideen vorwiegend auf die mit ihm verknüpften Empfindungen und Assoziationen beschränkt sind. Die Entwicklung des Intellekts befähigt einen Menschen, das tiefere Selbst im Inneren zu finden und teilweise das zu ersetzen, was unsere Philosophie dehatmaka-buddhi nennt, die Gesamtheit von Ideen und Empfindungen, die uns meinen lassen, wir seien der Körper – es abzulösen durch eine andere Gruppe von Ideen, die über den Körper hinausreichen und, indem sie für ihre eigene Wonne leben sowie intellektuelle und sittliche Befriedigung zu den Hauptzwecken des Daseins machen, das Getöse der niederen sinnlichen Begierden zu beherrschen, wenn sie es auch nicht völlig zum Schweigen bringen können. Jene tierische Unwissenheit, in Anspruch genommen von den Sorgen und Vergnügungen des Körpers und den vitalen Impulsen, Gemütsregungen und Empfindungen, ist tamasisch, Ergebnis des vorherrschenden dritten Prinzips der Natur, das zu Unwissenheit und Trägheit führt. Das ist die Verfassung des Tieres und der niederen Formen der Menschheit, in den Puranas die erste oder tamasische Schöpfung genannt. Die Entwicklung des Intellekts neigt dazu, diese Unwissenheit des Tieres zu vertreiben und nimmt daher einen äußerst wichtigen Platz in der menschlichen Evolution ein.
Aber nicht nur durch den Intellekt erhebt der Mensch sich. Wird der geklärte Intellekt nämlich nicht von geläuterten Gemütsregungen unterstützt, so neigt er wiederum dazu, vom Körper beherrscht zu werden und sich in seinen Dienst zu stellen, und die Herrschaft des Körpers über den ganzen Menschen wird noch gefährlicher als im natürlichen Zustand, weil dessen Unschuld verloren ist. Die Macht des Wissens stellt sich den Sinnen zur Verfügung, Sattwa dient Tamas, der Gott in uns wird zum Sklaven des Tieres. Der Schaden, den der wissenschaftliche Materialismus unbeabsichtigt der Welt zufügt, besteht darin, das er eine Rückkehr zu dieser Verfassung ermutigt; die jäh aufgeweckten Menschenmassen, nicht gewohnt verstandesmäßig mit Ideen umzugehen – zwar fähig, die weitläufigen, reizvollen Neuerungen freien Denkens zu erfassen, jedoch nicht imstande dessen feinsinnige Vorbehalte zu würdigen – sind dabei, in jenes Zurückwirbeln zum Tier zu geraten, jenes Absinken in das Barbarentum, das der Zustand des Römischen Reiches auf einer hohen Stufe materieller Zivilisation und intellektueller Kultur war und das ein bedeutender englischer Staatsmann vor kurzem als den Zustand bezeichnete, dem sich ganz Europa nähere. Die Entwicklung der Gemütsregungen ist darum die erste Voraussetzung für eine gesunde menschliche Entwicklung. Bevor die Emotionen über das äußerlich Körperliche nicht hinaustrachten und Nächstenliebe zunehmend den Platz grober Eigenliebe einnimmt, kann es keinen emporführenden Fortschritt geben. Die Gestaltung menschlicher Gesellschaft ist darauf gerichtet, das selbstlose Element im Menschen zu entwickeln, das, dem Leben dienlich, gegen asanaya mrtyuh [Hunger, der Tod ist] angeht und ihn überwindet. Nicht der Kampf um das Dasein, zumindest nicht der um das eigene Leben, ist das Wichtigste in der Evolution, vielmehr der Kampf für das Leben anderer – für unsere Kinder, für unsere Familie, für unsere Klasse, für unsere Gemeinschaft, für unser Volk, für unsere Menschenart, für die Menschheit. Ein sich ständig erweiterndes Selbst tritt an die Stelle des alten engen Selbstes, das auf unseren individuellen mentalen Geist und Körper beschränkt ist, und dieses sittliche Wachstum ist es, was von der Gesellschaft gefördert und gestaltet wird.
Soweit besteht kaum ein wesentlicher Unterschied zwischen unseren eigenen Ideen von Fortschritt und denen des Westens, außer in dem entscheidenden Punkt, dass dieser die Evolution für eine Entwicklung der Materie und die Befriedigung der Vernunft, des überlegenden und beobachtenden Intellekts, für den höchsten Begriff des Fortschritts hält. Hier ist unsere Religion nun anderer Meinung. Sie erklärt, dass die Evolution eine Meisterung der Materie durch das Zurückgewinnen des tieferen emotionalen und intellektuellen Selbstes sei, das im Körper eingefaltet und von Begierden der Lebenskraft umwölkt war. In der Sprache der Upanishaden sind manahkosa [Hülle des Sinnen-Mentals] und die buddhikosa [Hülle der mentalen Intelligenz] mehr als die pranakosa [vitale und nervliche Hülle] und annakosa [Nahrungs- oder grobkörperliche Hülle], und zu ihnen steigt der Mensch in seiner Evolution auf. Ferner sucht die Religion einen höheren Begriff für unsere Evolution als die geläuterten Gemütsregungen oder die geklärte Tätigkeit des beobachtenden und reflektierenden Intellekts. Der höchste Begriff der Evolution ist der Geist, worin Wissen, Liebe und Wirken, das dreifache Dharma der Menschheit, ihre Erfüllung und Vollendung finden. Dies ist der Atman im anandakosa [Hülle der Glückseligkeit], und durch Kommunion und Einswerdung des individuellen Selbstes mit dem universalen Selbst, das Gott ist, wird der Mensch völlig rein, völlig weise und völlig selig, und die Evolution erfüllt sich. Die Meisterung des Körpers und des vitalen Selbstes durch Läuterung der Gemütsregungen und Klärung des Intellekts war die Hauptarbeit der Vergangenheit. Die Läuterung wurde durch Sittlichkeit und Religion vollbracht, die Klärung durch Wissenschaft und Philosophie, wobei Kunst, Literatur sowie gesellschaftliches und politisches Leben die Hauptmedien waren, durch welche diese erhebenden Kräfte wirkten. Die Meisterung der Gemütsregungen und des Intellekts durch den Geist ist die Arbeit der Zukunft. Yoga ist das Mittel, mit dem diese Meisterung möglich wird.
Im Yoga wird der gesamte bisherige Fortschritt der Menschheit, der sich sehr unsicher aufrechterhält, rasch zusammengefasst, bestärkt und zum unveräußerlichen Besitz gemacht. Der Körper wird gemeistert, nicht unvollkommen wie beim gewöhnlichen zivilisierten Menschen, sondern ganz und gar. Das Vital wird geläutert und zum Werkzeug des höheren emotionalen und intellektuellen Selbstes für dessen Beziehungen zur Außenwelt gemacht. Die auswärtsgehenden Ideen werden durch Ideen ersetzt, die sich im Inneren bewegen, die niederen Qualitäten werden aus dem System hinausgearbeitet und durch höhere abgelöst, die niederen Gemütsregungen durch edlere verdrängt. Schließlich werden alle Ideen und Gemütsregungen besänftigt, und durch das vollkommene Erwachen der intuitiven Vernunft, die das Mental mit dem Geist in Verbindung bringt, wird letztlich der gesamte Mensch in den Dienst des Unendlichen gestellt. Alles falsche Selbst geht im wahren Selbst auf. Der Mensch wird Gott wesensgleich oder vereinigt sich mit Ihm. Dies ist mukti, der Zustand, in dem die Menschheit durch und durch die Freiheit und die Unsterblichkeit verwirklicht, welche ihr ewiges Ziel sind.