Kapitel 6
Integrale Befreiung vom Ego
Die Hinwendung zum Ego, jene sich absondernde Bewegung des Wesens, ist der Angelpunkt allen leidvollen Mühens der Unwissenheit und Gebundenheit. Solange man nicht vom Ego-Sinn frei ist, kann es keine wirkliche Freiheit geben. Nach allgemeiner Auffassung ist Buddhi der Sitz des Egos. Das ist aber die Unwissenheit des unterscheidenden Mentals und der Vernunft, die sich irren und fälschlich die Individualität des Mentals, Vitals und Körpers als Wahrheit einer gesonderten Existenz annehmen und sich dadurch von der höheren, die Gegensätze überwindenden Wahrheit der Einheit allen Seins abkehren. Die Ego-Idee stützt jedenfalls im Menschen die falsche Annahme, der Mensch habe eine gesonderte Existenz. Ein wirksames Gegenmittel liegt deshalb im Aufgeben dieser Idee und im Gewinnen eines festen Standes in der entgegengesetzten Idee des Einsseins, des einen Selbstes, des einen Geistes, des einen Wesens der Natur. Das ist allerdings noch nicht absolut wirkungsvoll. Denn das Ego findet, obwohl es sich auf die Ego-Idee stützt, aham-buddhi, die stärksten Mittel für sein hartnäckiges oder leidenschaftliches Beharren in der normalen Aktion des Sinnen-Mentals, im prana und im Körper. Die Ego-Idee auszuschalten, ist nicht möglich oder nicht völlig wirksam, ehe diese Instrumente nicht einer Läuterung unterzogen werden. Da ihr Wirken beharrlich egoistisch ist und sich absondert, wird die Buddhi von ihnen mitgerissen „wie ein Schiff auf See durch die Stürme“, sagt die Gita. Das Wissen der Intelligenz wird dabei dauernd verfinstert oder geht zeitweilig verloren und muss wiedererlangt werden, eine wahre Sisyphus-Arbeit. Wenn aber die niederen Instrumente von egoistischem Begehren, Wünschen, Wollen sowie von egoistischen Gefühlsregungen rein sind und wenn die Buddhi von der egoistischen Idee und ihren Vorlieben geläutert ist, kann das Wissen von der spirituellen Wahrheit des Einsseins feste Grundlage finden. Bis das erreicht ist, nimmt das Ego subtile Formen an. Wir bilden uns wohl ein, wir seien frei von ihm. In Wirklichkeit handeln wir als seine Instrumente. Was wir gewonnen haben, ist nur eine gewisse intellektuell ausgeglichene Haltung, die keine wahre spirituelle Befreiung ist. Überdies ist es nicht genug, das aktive Empfinden vom Ego loszuwerden. Das könnte uns einen inaktiven Zustand in unserem Mentalwesen einbringen. Dann würde eine passive träge Ruhe des abgesonderten Wesens die Stelle der kinetischen Ichhaftigkeit einnehmen. Auch das wäre keine wahre Befreiung. Der Ego-Sinn muss durch Einheit mit dem transzendenten Göttlichen und dem universalen Wesen ersetzt werden.
Diese Notwendigkeit rührt von der Tatsache her, dass Buddhi nur Hauptstütze, pratistha, für den Ego-Sinn, ahankara, in seinem mannigfachen Spiel ist. An seinem Ursprung ist er jedoch Erniedrigung oder Entstellung der Wahrheit unseres spirituellen Wesens. Die Wahrheit des Wesens besteht in seinem transzendenten Sein, seinem höchsten Selbst oder seinem Geist, seiner zeitlosen Seele, seinem Ewigen, Göttlichen. Von diesem können wir im Vergleich zu den üblichen mentalen Ideen über die Gottheit als von einem „Über-Göttlichen“ sprechen. Dieses ist hier immanent. Es umfasst alles, verursacht alles und regiert alles. Es ist ein erhabener universaler Geist. Das Individuelle ist eine bewusste Seins-Macht des Ewigen, der Beziehungen zu ihm ewig fähig, aber auch eins mit ihm im eigentlichen Kern der Wirklichkeit seiner ewigen Existenz. Das ist die Wahrheit, die die Intelligenz begreifen kann. Wenn sie einmal geläutert ist, kann sie diese Wahrheit widerstrahlen, übertragen und in abgeleiteter Gestalt festhalten. In ihrem ganzen Umfang kann sie aber nur im Geist erkannt, gelebt und wirksam gemacht werden. Wenn wir im Geiste leben, wissen wir nicht nur diese Wahrheit unseres Wesens, sondern sind wir auch diese Wahrheit. Dann erlebt das Individuum im Geist, in der Seligkeit des Geistes, sein Einssein mit dem universalen Sein, sein Einssein mit dem zeitlosen Göttlichen und allen anderen Wesen. Das ist erst eigentlich der Sinn spiritueller Befreiung vom Ego. Jedoch in dem Augenblick, da die Seele wieder zur mentalen Begrenzung neigt, tritt sofort ein gewisser Sinn spiritueller Trennung in das Bewusstsein. Diese bringt ihre Freuden mit sich, kann aber auch jeden Augenblick in den völligen Ego-Sinn, in Unwissenheit und das Vergessen des Einsseins absinken. Um von dieser Trennung frei zu werden, versucht man, in Idee und Verwirklichung des Göttlichen aufzugehen. In gewissen Formen spiritueller Askese wird daraus der Versuch, von allem individuellen Wesen frei zu werden und in Entrückung und Versunkenheit jede individuelle oder universale Beziehung zum Göttlichen abzulegen. Bei anderen Disziplinen geht man völlig darin auf, Gott innezuwohnen, und ist eigentlich nicht mehr in dieser Welt. Oder man ist immer mehr vom transzendenten Wesen absorbiert und drängt danach, in seiner Gegenwart zu leben, sayujya, salokya, samipya mukti. Im Integralen Yoga wird jedoch eine andere Methode vorgeschlagen. Wir heben unser ganzes Wesen zu ihm empor und überantworten es seiner Hand. Dadurch erlangen wir nicht nur das Einssein mit ihm in unserer spirituellen Existenz, sondern wir wohnen auch in ihm und er in uns. Unsere Natur wird von seiner Gegenwart erfüllt und in die göttliche Natur umgewandelt. Wir erreichen das Einssein mit dem Göttlichen in Geist, Bewusstsein, Leben und Substanz. Zugleich leben wir in jenem Einssein, bewegen uns in ihm und genießen vielfältige Freude daran. Wir sind integral aus dem Ego in den Geist und in die Natur des Göttlichen freigelassen. Sie kann jedoch auf unserer gegenwärtigen Ebene nur eine relative sein. Wir werden sie aber immer vollkommener erlangen, je mehr wir uns für die Gnosis öffnen und zu ihr aufsteigen. Das ist dann die befreite Vollkommenheit.