Kapitel 6
Das Problem der Falschheit und des Bösen
Worte Sri Aurobindos
Hier greift aber die zweite Bedingung der Evolution, ihr anderer Faktor ein. Denn dieses Suchen nach Wissen ist kein apersonaler mentaler Prozess, der nur durch die allgemeinen Begrenzungen der Mental-Intelligenz beeinträchtigt ist. Da ist das Ego, das physische Ich, das Lebens-Ich, das einen Hang zur vitalen Selbst-Durchsetzung hat und nicht auf die Selbst-Erkenntnis und die Entdeckung der Wahrheit der Dinge und der Wahrheit des Lebens eingestellt ist. Und da ist ein mentales Ich, das ebenso auf eine personale Selbst-Behauptung aus ist und weithin vom vitalen Drang seines Lebens-Begehrens und seiner Lebens-Absicht verwendet wird. Denn im gleichen Maß, wie sich das Mental entwickelt, entfaltet sich auch eine mentale Individualität mit einem personalen Antrieb von Mental-Tendenz, mentalem Temperament und eigener Mental-Gestaltung. Diese vordergründige Mental-Individualität ist egozentrisch. Sie betrachtet die Welt, die Dinge und Ereignisse von ihrem Standpunkt aus. Sie sieht sie nicht so, wie sie sind, sondern so, wie sie auf sie selbst einwirken: Bei ihrer Beobachtung der Dinge gibt sie ihnen die Richtung so, wie es ihrer eigenen Tendenz und ihrem Temperament entspricht, wählt aus oder verwirft und stellt die Wahrheit so dar, wie sie zu dem passt, was sie selbst mental bevorzugt oder was ihr bequem ist. Beobachtung, Beurteilung und Vernunft werden durch diese Mental-Personalität bestimmt oder beeinflusst. Sie werden den Bedürfnissen der Individualität und des Egos angepasst. Sogar dann, wenn das Mental ganz besonders nach einer reinen Apersonalität von Wahrheit und Vernunft strebt, ist ihm gänzliche Apersonalität unmöglich. Auch der am meisten trainierte, strenge und wache Intellekt versagt bei der Beobachtung der Entstellungen und Verdrehungen, die das Ego der Wahrheit bei der Annahme von Tatsachen und Ideen und bei der Konstruktion ihrer mentalen Erkenntnis aufzwingt. Hier haben wir eine fast unerschöpfliche Quelle der Entstellung der Wahrheit, eine Ursache der Verfälschung, einen bewussten oder halb-bewussten Willen zum Irrtum, so dass Ideen und Tatsachen nicht durch eine klare Erkenntnis des Wahren und des Falschen aufgenommen werden, sondern durch Vorliebe, persönliche Nützlichkeit, durch Auswahl je nach Temperament und durch Vorurteil. Auf diesem Saat-Beet wird eine reiche Ernte von Falschheit erzielt. Hier sind eines oder viele Tore, durch die sie heimlich, mit List oder mittels ihrer tyrannischen, aber zugelassenen Gewalttätigkeit eindringen kann. Zwar kann auch die Wahrheit hier hereinkommen und ihre Wohnung aufschlagen, jedoch nicht aus eigener Vollmacht, sondern nur, wenn es dem Mental beliebt.
In den Begriffen der Sankhya-Psychologie können wir drei Typen mentaler Individualität unterscheiden: Der vom Prinzip der Finsternis und Trägheit beherrschte, der erstgeborene aus der Nichtbewusstheit, ist der des Tamas. Der von Leidenschaft und Aktivität regierte, kinetische, ist der Typus von Rajas. Der im Prinzip von Licht, Harmonie und Ausgeglichenheit geprägte Typus ist der des Sattwa. Die Intelligenz nach der Art des Tamas hat ihren Sitz im physischen Mental. Sie ist stumpf den Ideen gegenüber – außer gegen solche, die sie träge, blind und passiv von anerkanntem Ursprung oder einer Autorität übernimmt, – verdüstert in ihrer Annahme, unwillig, sich selbst auszuweiten, widerspenstig einer neuen Anregung gegenüber, konservativ und unbeweglich. Die Intelligenz von Tamas klammert sich an die überkommene Wissens-Struktur. Ihre einzige Macht ist eine wiederholende praktische Tüchtigkeit. Sie ist aber in dieser Macht durch das beschränkt, was gewohnt, alltäglich, festgelegt, vertraut und dadurch gesichert ist. Sie verwirft alles, was neu ist und darum wahrscheinlich beunruhigen wird. Die Intelligenz von Rajas hat ihren Sitz hauptsächlich im vitalen Mental und erscheint in zwei Formen: Die eine ist mit Heftigkeit und Leidenschaft defensiv. Sie setzt ihre mentale Individualität durch und erzwingt alles, was damit in Übereinstimmung steht, von ihren Wissenstendenzen bevorzugt wird und ihren Anschauungen gemäß ist. Sie ist aber aggressiv gegen alles, was ihrer mentalen Ego-Struktur entgegengesetzt oder für ihre persönliche Intellektualität unannehmbar ist. Die andere Art ist enthusiastisch für alles Neue, leidenschaftlich, hartnäckig, stürmisch, oft maßlos beweglich, unbeständig und immer ruhelos, von ihrer eigenen Idee, aber nicht von Wahrheit und Licht beherrscht, sondern vom Eifern im intellektuellen Streit für Bewegung und Abenteuer. Die Intelligenz von Sattwa strebt eifrig und so aufgeschlossen, wie sie dafür sein kann, nach Wissen. Sie ist sorgfältig darauf bedacht, zu erwägen, die Wahrheit zu sichern, auszugleichen, anzupassen und mit ihrer Anschauung alles in Einklang zu bringen, was sich als Wahrheit bestätigt. Sie nimmt alles an, was sie sich assimilieren kann, ist geschickt, eine Wahrheit in einer harmonischen intellektuellen Struktur aufzubauen. Da aber ihr Licht begrenzt ist wie alles mentale Licht, ist sie unfähig, sich auszuweiten, um in gleicher Weise alle Wahrheit und alles Wissen aufzunehmen. Sie hat ein mentales Ich, sogar ein erleuchtetes Ich, und wird durch dieses in allem bestimmt: in ihrer Beobachtung, Beurteilung, Schlussfolgerung, mentalen Entscheidung und Bevorzugung. Bei den meisten Menschen findet sich ein Übergewicht einer dieser Eigenschaften, aber auch Vermischung. Dasselbe Mental kann in der einen Richtung offen, formbar und harmonisch sein; in einer anderen ist es kinetisch und vital, voreilig, von Vorurteilen beherrscht und unausgeglichen. In noch einer anderen kann es verfinstert und unempfänglich sein. Diese Begrenzung durch die Ich-Personalität, diese Verteidigung der persönlichen Individualität und die Weigerung dieses Wesens, etwas anzunehmen, das von ihm nicht assimiliert werden kann, ist für es notwendig, da es in seiner Evolution, auf der erreichten Stufe, eine gewisse Art erlangt hat, sich auszudrücken, einen gewissen Typus seiner Erfahrung und der Verwendung seiner Erfahrung, der, zumindest in Bezug auf Mental und Leben, seine Natur beherrschen muss. Für den Augenblick ist das sein Wesens-Gesetz, sein Dharma. Diese Begrenzung des Mental-Bewusstseins durch die Personalität und die Beschränkung der Wahrheit durch das mentale Temperament und dessen Bevorzugungen muss so lange das Gesetz unserer Natur bleiben, als das Individuum noch nicht Universalität erreicht hat und noch nicht darauf vorbereitet ist, das Mental zu transzendieren. Es ist aber offensichtlich, dass dieser Zustand unvermeidlich eine Quelle des Irrtums ist. Er kann in jedem Augenblick die Ursache für eine Verfälschung der Erkenntnis werden und unbewusst oder halb-willentlich zur Selbst-Täuschung führen, zur Weigerung, wahres Wissen anzuerkennen, und zur Bereitschaft, eine ihm zusagende falsche Erkenntnis als wahr durchzusetzen.
Dieses Gesetz herrscht auf dem Feld der Erkenntnis. Dasselbe gilt aber auch für Willen und Handeln. Aus der Unwissenheit entsteht ein unrichtiges Bewusstsein, das eine falsche dynamische Reaktion auf den Kontakt zu Personen, Dingen und Ereignissen hervorruft. Das äußere Bewusstsein entwickelt die Gewohnheit, die Anregungen für oder gegen ein Handeln nicht zu beachten, sie misszuverstehen oder zurückzuweisen, wenn sie aus dem geheimen innersten Bewusstsein, aus der psychischen Wesenheit kommen. Statt dessen reagiert es positiv auf unerleuchtete mentale oder vitale Suggestionen, oder es handelt in Übereinstimmung mit den Forderungen und Impulsen des vitalen Egos. Hier tritt die zweite Grundbedingung der Evolution, das Gesetz eines abgesonderten Lebens-Wesens, das sich in einer Welt durchsetzt, die für es ein Nicht-Selbst ist, bestimmend hervor und gewinnt große Bedeutung. Die vordergründige vitale Personalität, das Lebens-Selbst, setzt hier seine Vorherrschaft durch. Diese übermacht des unwissenden vitalen Wesens ist eine wichtige aktive Quelle für Zwist und Disharmonie, Ursache der inneren und äußeren Verwirrungen des Lebens, Haupt-Triebfeder für falsches Handeln und für das Böse. Soweit das natürliche vitale Element in uns ungezügelt und ungeübt ist oder seinen primitiven Charakter beibehält, kümmert es sich nicht um Wahrheit, um richtiges Bewusstsein oder um richtiges Handeln. Ihm geht es allein um die Durchsetzung seines Egos, um das Wachsen des Lebens, um Besitz, Befriedigung seiner Impulse, um Erfüllung seiner begehrlichen Wünsche. Dieses Haupt-Bedürfnis und diese Forderung des Lebens-Egos scheint ihm über alles wichtig zu sein. Es möchte das ausführen, ohne dabei auf die Wahrheit, das Rechte, das Gute oder eine andere Erwägung Rücksicht zu nehmen. Weil aber das Mental da ist und diese Begriffe besitzt und weil die Seele existiert und diese Seelen-Wahrnehmungen hat, versucht das gesonderte Lebens-Wesen, das Mental zu beherrschen und aus ihm durch Diktat die Zustimmung und Durchführungs-Ordnung für seinen eigenen Willen der Selbst-Behauptung zu erlangen, einen Urteilsspruch über die Wahrheit, das Richtige und Gute zugunsten seiner eigenen vitalen Ansprüche, Impulse und Wünsche. Ihm liegt die Selbst-Rechtfertigung am Herzen, um Raum dafür zu haben, sein Ego voll durchzusetzen. Wenn es die Zustimmung des Mentals erlangen kann, ist es vollauf dazu bereit, alle diese Maßstäbe zu missachten und nur den einzigen Maßstab aufzustellen, die Befriedigung, das Wachsen, die Stärke und Größe des vitalen Egos. Das Lebens-Individuum braucht Platz, Ausdehnung, Besitz der Welt, Herrschaft und Kontrolle über die Dinge und Wesen. Es benötigt Lebensraum, einen Platz an der Sonne, Selbstbehauptung und überleben. Es braucht diese Dinge für sich selbst und für die, mit denen es vergesellschaftet ist, für sein eigenes Ego und für das kollektive Ich. Es benötigt sie für seine Ideen, Überzeugungen, Ideale, Interessen und für seine Fantasien. Denn es muss diese Formen von Egoismus und Besitz-Anspruch des Egos durchsetzen und seiner Umwelt aufzwingen. Oder es muss, wenn es dazu nicht stark genug ist, sie zumindest gegen andere verteidigen und sie, soweit es in seiner Macht und List steht, aufrechterhalten. Es kann das mit Methoden tun, die es für richtig hält oder die es für richtig zu halten oder so darzustellen versucht. Es kann das aber auch durch die Anwendung von nackter Gewalt unternehmen, durch List, Falschheit, destruktive Aggression, das Zerschmettern anderer Lebensformen: Welche Mittel oder moralische Haltung es auch verwendet, das Prinzip ist immer das gleiche. Das vitale Wesen des Menschen hat nicht nur im Bereich der Religion diesen Geist und diese Haltung von Ich-Behauptung, von Kampf und die Verwendung von Gewalt, Unterdrückung und Vergewaltigung, von Intoleranz und Aggression eingeführt. Es hat das Prinzip der Lebens-Ichsucht dem Bereich der intellektuellen Wahrheit und dem Bereich des Geistes aufgezwungen. In seine Ich-Behauptung bringt das sich so durchsetzende Leben den Hass und die Ablehnung gegen alles, was seiner Ausdehnung im Wege steht oder was sein Ego verletzt. Als Mittel oder als Leidenschaft oder als Reaktion der Lebens-Natur entwickelt es Grausamkeit, Verrat und alle Arten des Bösen: Die Befriedigung seines Begehrens und seines Impulses nimmt keine Rücksicht auf Recht und Unrecht, sondern nur auf die Erfüllung von Begehren und Impuls. Um dieser Befriedigung willen ist es bereit, das Risiko der Zerstörung und tatsächliches Leiden auf sich zu nehmen. Denn das Ziel, zu dem es durch die Natur getrieben wird, ist nicht allein, sich selbst zu bewahren, sondern das Leben durchzusetzen, zu befriedigen und die Lebens-Kraft und das Lebens-Wesen klarzulegen.
Daraus folgt aber nicht, dass die vitale Personalität dies alles in ihrer ursprünglichen Zusammensetzung ist oder dass eigentlich das Böse ihren Charakter bildet. Primär kümmert sie sich überhaupt nicht um die Wahrheit und das Gute. Sie kann aber auch eine Leidenschaft für das Wahre und Gute haben, wie sie, noch spontaner, die Leidenschaft für Freude und Schönheit besitzt. In allem, was durch die Lebens-Kraft entfaltet ist, findet sich auch irgendwo gleichzeitig im Wesen entwickelt ein geheimes Entzücken, eine tiefe Freude am Guten wie am Bösen, eine Wonne wegen der Wahrheit und wegen der Falschheit, eine Seligkeit über das Leben und über den Tod, eine Wonne in der Lust wie im Schmerz, im eigenen Leiden und im Leiden anderer, aber auch an der eigenen Freude, dem eigenen Glück und Guten und ebenso an Freude, Glück und Gutem anderer. Denn die Kraft der Lebens-Behauptung bejaht in gleicher Weise das Gute wie das Böse: Sie hat ihre Impulse zur Hilfe und zur Gemeinschaft, zum Edelmut, zur Zuneigung, Loyalität und Selbst-Hingabe. Die vitale Personalität verwendet den Altruismus ebenso wie den Egoismus. Sie opfert sich ebenso, wie sie andere zerstört. Und in allen diesen Handlungen ist dieselbe Leidenschaft für Lebens-Bejahung, dieselbe Kraft zur Aktion und Erfüllung. Dieser Charakter des vitalen Wesens und seine Haltung zum Dasein, zu dem, was wir mit Gut und Böse bezeichnen, sind Nebenerscheinungen, nicht Haupttriebfedern. Das wird im Leben unterhalb des Menschen offenbar. Da sich im menschlichen Wesen ein mentales, moralisches und psychisches Unterscheidungsvermögen ausgebildet hat, ist hier das vitale Wesen der Kontrolle oder Tarnung unterworfen. Es verändert aber dadurch nicht seinen Charakter. Das Vital-Wesen, seine Lebenskraft und ihr Drang nach Selbst-Behauptung sind, da ein offenes Wirken der Seelen-Kraft und der spirituellen Kraft, atmashakti, fehlt, die Hauptmittel der Natur, um Wirkungen auszuüben. Ohne ihre Unterstützung können weder Mental noch Körper ihre Möglichkeiten ausnützen oder ihr Ziel im Dasein verwirklichen. Nur wenn das innere oder wahre vitale Wesen die äußere Lebens-Personalität ersetzt, kann das Drängen des vitalen Egos völlig überwunden und die Lebenskraft zum Diener der Seele und zu einer machtvollen Instrumentation für das Wirken unseres wahren spirituellen Wesens werden.