Kapitel 3
Einheit in der Vielfalt
Worte Sri Aurobindos
Man muss sich vor Augen halten, dass eine umfassendere soziale oder politische Einheit nicht schon als solche eine Wohltat ist. Sie ist nur insoweit erstrebenswert, als sie die Mittel und den Rahmen für ein besseres, reicheres, glücklicheres und kraftvolleres individuelles und kollektives Leben bietet.
Worte Sri Aurobindos
Wir müssen ständig die fundamentalen Mächte und Wirklichkeiten des Lebens im Auge behalten, wenn wir nicht durch eigenwillige Herrschaft der logischen Vernunft und ihre Vorliebe für die streng begrenzende Idee zu Experimenten verführt werden wollen, die sehr wohl die Kraft des Lebens zerstören und es in seinen Wurzeln verdorren lassen könnten, wenn sie auch in der Praxis noch so bequem und noch so fesselnd für das vereinheitlichende symmetrische Denken sind. Denn was für das System der logischen Vernunft vollkommen und befriedigend ist, kann doch die Wahrheit des Lebens und die echten Bedürfnisse der Menschheit vernachlässigen. Das Einssein ist ganz und gar keine willkürliche oder unwirkliche Idee, denn die Einheit ist die wahre Grundlage des Daseins. Jenes Einssein, das im Geheimen allen Dingen zugrunde liegt, muss der Geist, der die Entwicklung in der Natur lenkt, an deren Ende und höchstem Ziel wieder bewusst verwirklichen. Die Evolution bewegt sich mittels der Vielgestaltigkeit vorwärts: von einem einfachen Einssein empor zu einem komplexen Einssein. Die menschliche Rasse ist auf dem Wege zur Vereinigung, und sie muss diese Einheit eines Tages verwirklichen.
Aber Uniformität ist nicht das Gesetz des Lebens. Das Leben existiert durch Vielfalt. Es besteht darauf, dass jede Gruppe und jedes Wesen zwar in seiner Universalität mit allen übrigen eins sein soll. Es soll aber auch durch ein gewisses Prinzip oder durch seine besondere Detailliertheit innerhalb der Ordnung stets etwas Einzigartiges bleiben. Die Überzentralisierung, die die Voraussetzung verwirklichter Uniformität ist, stellt keine gesunde Lebensmethode dar. Ordnung ist gewiss das Gesetz des Lebens. Sie darf aber nicht zu einer künstlichen Regulierung führen. Gesund ist eine Ordnung nur dann, wenn sie aus dem Inneren kommt. Sie bildet sich in einer Natur, die ihr eigenes Gesetz entdeckt und das Gesetz ihrer Beziehungen zu den anderen gefunden hat. Darum ist jene die wahre Ordnung, die auf größtmögliche Freiheit gegründet ist. Denn die Freiheit ist sowohl die Grundvoraussetzung für kraftvolle Vielgestaltigkeit wie auch die Grundbedingung dafür, dass man das eigene Selbst findet. Die Natur stellt die Variationen durch die Einteilung in Gruppen sicher und besteht auf der Freiheit durch die Kraft der Individualität in den Gliedern der Gruppe. Soll also die Einung der Menschheit eine völlig gesunde sein und mit den tiefsten Gesetzen des Lebens übereinstimmen, muss sie sich auf freie Gruppierungen gründen. Und diese Gruppierungen müssen wieder natürliche Zusammenschlüsse freier Individuen sein. Gewiss lässt sich ein solches Ideal unter den gegenwärtigen Bedingungen so wenig verwirklichen wie unter jenen der nahen Zukunft der Menschheit. Es ist aber ein Ideal, das man im Auge behalten muss. Denn je näher wir ihm kommen können, desto sicherer wissen wir, dass wir auf dem rechten Wege sind. Das Gekünstelte bei so vielen Dingen des menschlichen Lebens ist der Grund für seine tiefsten Krankheiten. Ein solches Leben ist sich selbst gegenüber nicht lauter und echt und auch nicht aufrichtig der Natur gegenüber. Deshalb strauchelt und leidet es.
Worte Sri Aurobindos
Heute liegt das erste dringende Bedürfnis des seelischen Lebens der Menschheit darin, mehr Einheit zu erreichen. Ihr Bedürfnis richtet sich aber auf lebendige Einung, nicht so sehr auf Vereinheitlichung in den äußeren Dingen der Zivilisation, in Kleidung, Gebräuchen, Lebensgewohnheiten, in Einzelheiten der politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Ordnung. Ihr hilft nicht Uniformität, jene Vereinigung, zu der das mechanische Zeitalter unserer Zivilisation immer noch hindrängt, vielmehr hilft ihr überall freie Entfaltung mit beständigem freundschaftlichen Austausch, innigem Verstehen, Gefühl für die gemeinsame Humanität, für die hohen gemeinsamen Ideale und Wahrheiten, nach denen sie verlangt, und mit einer gewissen Vereinigung und gegenseitigen Übereinstimmung im Ringen um gemeinsamen menschlichen Fortschritt.
Worte Sri Aurobindos
Ist also einerseits die Vielfalt für die Kraft und den reichen Ertrag des Lebens wesentlich, so ist andererseits die Einheit notwendig, damit das Leben richtig geordnet, harmonisch zusammengefügt und stabil ist. Wir müssen Einheit schaffen, aber nicht Einförmigkeit. Wenn der Mensch ein vollkommenes spirituelles Einssein verwirklichen könnte, wäre jede Einförmigkeit unnötig. Auf seiner Grundlage könnte sich das Spiel der verschiedenartigsten Kräfte sicher und gefahrlos entfalten. Wenn der Mensch prinzipiell gesicherte, klare und aufrecht erhaltene Einigkeit verwirklichen könnte, wäre auch eine reiche, ja unbegrenzte Verschiedenartigkeit möglich, ohne dass man Unordnung, Verwirrung oder Streit zu fürchten brauchte.
Worte der Mutter
Dabei fällt mir der Sohn Tolstois ein, den ich in Japan getroffen habe. Er reiste durch die Welt, in der Hoffnung, Einheit unter den Menschen stiften zu können. Seine Absichten waren vortrefflich, aber die Art, wie er es machte, erschien weniger gut! Er pflegte mit unerschütterlichem Ernst zu behaupten, wenn alle dieselbe Sprache sprächen, wenn alle sich gleich kleideten, gleich äßen und gleich handelten, würde zwangsläufig eine Einheit entstehen! Und wenn man ihn fragte, wie er glaube, das verwirklichen zu können, sagte er, es genüge, von Land zu Land zu gehen und den Leuten eine neue, aber allgemeingültige Sprache, eine neue, aber allgemeingültige Kleidung und neue, aber allgemeingültige Sitten zu verkünden. Das war alles … Und dies gedachte er zu tun!
(Lachend) Nun, jeder ist so in seinem kleinen Bereich. Jeder hat ein Ideal, eine Vorstellung vom Wahren, Schönen und Edlen und sogar Göttlichen, und das ist seine Vorstellung, die er den anderen aufzwingen will. Es gibt auch viele Leute, die eine Vorstellung vom Göttlichen haben und mit allen Kräften versuchen, ihre Vorstellung dem Göttlichen aufzuzwingen … und den Mut dazu meistens erst verlieren, wenn sie ihr Leben verloren haben!
Diese spontane und fast unbewusste Haltung hatte ich im Auge, denn wenn ich zu einem von euch sagte: „Genau dies oder das willst du tun“, würde er sehr heftig protestieren und sagen: „Was! Nie im Leben!“ Aber wenn man Meinungen über die Leute hat und vor allem Reaktionen auf die Art ihrer Lebensweise, macht man ihnen zum Vorwurf, dass sie nicht so sind, wie wir denken, dass sie sein sollen. Wenn man nie vergessen würde, dass es im Universum nicht zwei gleiche Dinge geben kann, geben darf, denn das zweite wäre überflüssig, da es vorher schon ein solches gegeben hätte, und weil das Universum für die Harmonie einer unendlichen Vielfalt geschaffen worden ist, wo nie zwei Bewegungen – und noch viel weniger zwei Bewusstseinsweisen – gleichartig sind, mit welchem Recht kann man dann eingreifen und wollen, dass jemand unserem eigenen Denken entsprechen soll? … Denn wenn man auf eine bestimmte Art denkt, wird der andere sicher nicht auf die gleiche Art denken können. Und wenn man eine bestimmte Art hat, wird der andere sicher nicht die gleiche Art haben können. Und ihr sollt lernen, alles, was in der Welt nicht zusammenpasst, in Einklang zu bringen, es zu einer Synthese zu vereinen und alles an seinen Platz zu stellen! Die totale Harmonie liegt überhaupt nicht in einer Identität, sondern in einer Harmonisierung, die nur kommen kann, wenn jedes Ding an seinen Platz gestellt wird.
Worte der Mutter
Nicht durch Vereinheitlichung erlangt man Einheit. Nicht durch die Vereinheitlichung von Programmen und Methoden wirst du die Einheit in der Erziehung erlangen.
Einheit erlangt man durch eine ständige Bezugnahme – je nach Erfordernis schweigend oder zum Ausdruck gebracht – auf das zentrale Ideal, die zentrale Kraft oder das zentrale Licht, den Zweck und das Ziel unserer Erziehung.
Die wahre, die höchste Einheit drückt sich in der Vielfalt aus. Nur die mentale Logik fordert Gleichartigkeit. In der Praxis muss jeder seine eigene Methode finden und anwenden, diejenige, die er versteht und fühlt.
Worte der Mutter
„Das spirituelle Leben enthüllt in allen das eine Wesen, aber ebenso auch dessen unendliche Vielfalt. Es arbeitet an der Vielfalt in der Einheit und an der Vervollkommnung in dieser Vielfalt.“ (Die Mutter, 4. August 1929)
Das ist der eigentliche Beweggrund der Schöpfung des Universums – alle sind eins, in seinem Ursprung ist alles eins, aber jedem Ding, jedem Element, jedem Wesen ist aufgetragen, diesem Einen einen Teil seiner selbst zu enthüllen. Diese Besonderheit gilt es in jedem Einzelnen auszubilden, während zugleich das Erwachen zur ursprünglichen Einheit gefördert wird. Das heißt „für Einheit in der Vielfalt zu arbeiten“. Und Vervollkommnung in dieser Vielfalt bedeutet, dass jeder vollkommen das wird, was er zu sein hat.