Kapitel 2

Das spirituelle, das religiöse und das gewöhnliche Leben

Das spirituelle Leben (adhyatma jivana), das religiöse Leben (dharma jivana) und das gewöhnliche menschliche Leben, zu dem die Moral gehört, sind drei grundverschiedene Dinge, und man muss wissen, was man will, und darf diese drei nicht miteinander verwechseln. Das gewöhnliche Leben ist das des durchschnittlichen menschlichen Bewusstseins, von seinem wahren Selbst und vom Göttlichen getrennt und gelenkt von den üblichen Gewohnheiten des Mentals, Lebens und Körpers, von den Gesetzen der Unwissenheit. Das religiöse Leben ist eine Bewegung des gleichen unwissenden menschlichen Bewusstseins, das sich von der Erde abwendet oder abzuwenden versucht, dem Göttlichen zu, doch bislang ohne Erkenntnis und von den dogmatischen Lehren und Regeln einer Sekte oder eines Glaubensbekenntnisses gelenkt, die Anspruch darauf erheben, den Weg aus den Banden des Erdbewusstseins in irgendein glückseliges Jenseits gefunden zu haben. Das religiöse Leben mag die erste Annäherung an das spirituelle sein, doch sehr häufig ist es nur ein auswegloses Umherwandern in einem Kreis von Riten, Zeremonien und Praktiken oder von starren Ideen und Formen. Das spirituelle Leben hingegen schreitet direkt durch eine Bewusstseinsveränderung fort, eine Veränderung des gewöhnlichen Bewusstseins, das unwissend und von seinem wahren Selbst und Gott getrennt ist, in ein größeres Bewusstsein, in dem man sein wahres Wesen findet und zuerst mit dem Göttlichen in einen direkten und lebendigen Kontakt tritt und dann zu einer Einung mit ihm gelangt. Für den spirituellen Sucher ist diese Bewusstseinsveränderung das eine, das er sucht, und nichts anderes zählt für ihn.

Moral ist ein Teil des gewöhnlichen Lebens. Sie ist ein Versuch, das äußere Verhalten durch gewisse mentale Regeln zu lenken oder den menschlichen Charakter mit Hilfe dieser Regeln dem Vorbild eines gewissen mentalen Ideals anzupassen. Das spirituelle Leben überschreitet das Mental. Es tritt in das tiefere Bewusstsein des Geistes ein und handelt aus der Wahrheit des Geistes. Was die Frage des ethischen Lebens anbelangt und das Erfordernis, Gott zu erkennen, hängt das davon ab, was mit der Erfüllung der Lebensziele gemeint ist. Wenn das Erlangen des spirituellen Bewusstseins dazugehört, wird dir das die bloße Moral nicht geben.

Politik als solche hat nichts mit dem spirituellen Leben zu tun. Wenn der spirituelle Mensch etwas für sein Vaterland tut, geschieht es, um den Willen des Göttlichen zu erfüllen und als Teil einer göttlich ausgerichteten Arbeit und nicht aus einem üblichen menschlichen Motiv heraus. In keiner seiner Taten lässt er sich – wie die gewöhnlichen Menschen – von den üblichen mentalen und vitalen Motiven bewegen, sondern handelt aus der Wahrheit des Geistes und gehorcht einem inneren Befehl, dessen Ursprung er kennt.

Die Art der Anbetung, puja, von der in dem Brief die Rede ist, gehört dem religiösen Leben an. Sie kann, sofern sie in einem zutiefst religiösen Geist durchgeführt wird, Mental und Herz bis zu einem gewissen Grad vorbereiten, doch nicht mehr. Wenn jedoch die Anbetung Teil der Meditation ist oder mit wahrer Aspiration nach spiritueller Wirklichkeit und spirituellem Bewusstsein geschieht, in der Sehnsucht nach der Berührung und Einung mit dem Göttlichen, vermag sie spirituell wirksam zu sein.

Wenn du in Herz und Seele ein wahrhaftes Streben nach spiritueller Wandlung hast, wirst du den Weg und den Führer finden. Ein rein mentales Suchen und Fragen reicht nicht aus, um die Pforten des Geistes zu öffnen.

Am Anfang jeder Religion findet sich der Begriff einer Macht oder eines Seienden, das größer und höher ist als unser beschränktes, sterbliches Selbst, ein Gedanke und Akt religiöser Verehrung, die dieser Macht dargebracht werden, ein Gehorsam, den man ihrem Willen, ihren Gesetzen oder ihren Forderungen leistet. Doch die Religion setzt an ihren Anfängen auch eine unermessliche Kluft zwischen die so begriffene Macht, die man verehrt oder der man gehorcht, und den Anbetenden. Auf seinem Gipfelpunkt beseitigt der Yoga diese Kluft, denn Yoga ist Einssein. Durch Erkenntnis kommen wir zur Einheit mit dieser Macht. Sobald sich unsere ersten dunklen Auffassungen von ihr klären, ausweiten und vertiefen, erlangen wir die Erkenntnis, dass sie unser höchstes Selbst, der Ursprung und Erhalter unseres Seins und das Ziel ist, auf das sich unser Dasein ausrichtet. Wir kommen zum Einssein mit ihr durch Handeln. Indem wir ihr einfach gehorchen, einen wir schließlich unseren Willen mit dem Willen dieser Macht, denn unser Wille kann nur in dem Maße vollkommen und göttlich werden, wie er sich mit dieser Macht identifiziert, die sein Ursprung und sein Ideal ist. Auch durch Verehrung finden wir zur Einheit mit ihr, denn das Denken und Handeln einer äußeren Anbetung entfaltet sich notwendig weiter zur innerlichen Verehrung. Diese verwandelt sich in unmittelbare, innige Liebe. Höchste Steigerung dieser Liebe ist das Einssein mit dem Geliebten.

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