KAPITEL 17

DIE VITALE GEFÜHLSEBENE, DAS VITALE

Auf der physischen Ebene drückt sich das Göttliche durch Schönheit aus, auf der Ebene des Denkens durch Wissen, auf der Ebene der vitalen Gefühle durch Macht, und auf der psychischen Ebene durch Liebe. (80)

DIE MUTTER

Wille, Macht und Kraft ist die natürliche Substanz der Lebensenergie, und darin liegt die Rechtfertigung für das Leben, es abzulehnen, die alleinige Vorherrschaft von Wissen und Liebe anzuerkennen – und für seinen Drang nach Befriedigung einer weit unreflektierteren, eigensinnigeren, gefährlicheren Kraft, die sich trotzdem auch auf ihre eigene kühne und glühende Art an das Göttliche und Absolute heranwagen kann. Liebe und Weisheit sind nicht die einzigen Aspekte des Göttlichen, da ist auch noch sein Aspekt der Macht. (SRI AUROBINDO, Die Synthese des Yoga)

Sri Aurobindo sagt, dass der vitale Teil des Gefühls, das vitale Wesen das größte Hindernis ist, weil es nicht verbesserungswillig ist, und, dass die Möglichkeit bestehen würde, es umzuwandeln, wenn es sich gänzlich der Liebe und dem Wissen überantworten würde; aber da seine überwiegenden Eigenschaften, Kraft, Energie und Macht sind, gefällt es ihm nicht, sich anderen Teilen des Wesens zu fügen, und das rechtfertigt seine Ablehnung sich zu unterwerfen, denn diese Eigenschaften sind Qualitäten und in ihrem Kern ebenso hervorragend wie die anderen. Deshalb hat das vitale Wesen weder die gleiche Bereitschaft noch die gleichen Fähigkeiten wie die anderen Teile des Wesens, weil es nicht entwickelt ist, sich nicht überantwortet hat, und darin liegt das Dilemma: es fügt sich nicht, weil es diese Macht hat, aber die Macht kann nicht benützt werden.

Wenn das vitale Gefühlswesen mittelmäßig wäre, ohne fest umrissene Qualitäten, hätte es keine Schwierigkeiten sich dem Göttlichen zu überantworten, aber das wäre dann ganz und gar nutzlos. Aber im Gegenteil, das vitale Gefühlswesen ist eine Art Hochburg von Energie und Macht – von allen Arten von Kräften. Doch diese Macht hat sich im Allgemeinen vom Göttlichen abgewendet, sie dient nicht mehr dem Göttlichen, sondern sie steht im Dienst des vitalen Lebensgefühls selbst, zu dessen eigener Befriedigung. Solange das so ist, kann das vitale Gefühl für die Transformation nicht benützt werden.

Das vitale Wesen sollte verstehen lernen, dass diese Energie und Macht die es in sich selbst fühlt, nicht positiv nützlich werden kann, wenn sie nicht auf eine vollkommene Übereinstimmung mit dem Plan der göttlichen Verwirklichung auf der Erde eingeht. Wenn das vitale Gefühl das jedoch versteht, wird es ruhig, und erlaubt sozusagen, sich in der Gesamtheit des Daseins als Mitarbeiter engagieren zu lassen, und dann wächst es zu seiner vollen Stärke und seiner vollen Bedeutung. Aber sonst kann es nicht genützt werden. Und gewöhnlich bestehen alle seine Aktivitäten in Tätigkeiten, die die Dinge immer verkomplizieren, und ihnen die Einfachheit, die Reinheit, und oft ihre Schönheit und ihre Wirksamkeit nehmen, denn das Handeln des vitalen Gefühls ist meist blind, ignorant und sehr egoistisch. (81)

DIE MUTTER

Kommen Depressionen aus dem vitalen Gefühl?

Oh, ja. All deine Sorgen, Depressionen, Entmutigungen, aller Widerwillen, alle Wutanfälle kommen aus dem Vitalen. Das Vitale ist es, was Liebe in Hass verwandelt, es ist das Vitale, was einen Geist der Rache, des Grolls und der Bosheit hervorruft, sowie den Drang zu zerstören und zu verletzen. Es ist das, was entmutigt, wenn die Dinge schwierig werden, und nicht nach seinem Geschmack sind. Es hat eine außergewöhnliche Fähigkeit zu streiken! Wenn es nicht zufrieden ist, versteckt es sich in einer Ecke und rührt sich nicht von der Stelle. Und dann hast du keine Energie mehr, keine Stärke mehr, du hast keinen Mut mehr übrig. Dein Wille ist dann wie … eine vertrocknende Pflanze. Alles Übelnehmen, alle Arten von Abscheu, aller Jähzorn, alle Verzweiflung, aller Kummer, aller Ärger, all das kommt von diesem Gentleman. Denn das Ganze ist Energie in Aktion.

Deswegen hängt alles davon ab, welcher Seite das Vitale sich zuwendet. Und ich sage euch, es hat eine sehr starke Angewohnheit auf Streik zu gehen. Das ist seine stärkste Waffe: „Ah, du tust nicht was ich will, nun gut, dann werde ich mich nicht bewegen, ich werde mich tot stellen.“ Und es macht das bei dem kleinsten Anlass. Es hat einen sehr schlechten Charakter, es ist sehr reizbar und es ist sehr gehässig – ja, es ist ganz ungenießbar. Denn ich glaube, es ist sich seiner Macht sehr bewusst, und es fühlt ganz klar, dass wenn es sich selbst ganz gibt, dann gibt es nichts, was dem Impuls seiner Kraft standhalten kann. Und wie alle Leute die noch ein Ass im Ärmel haben, feilscht auch das vitale Gefühl: „Ich werde dir meine Energie geben, aber dann musst du tun, was ich will. Wenn du mir nicht gibst, was ich verlange, werde ich meine Energie zurückziehen.“ Und dann wirst du flach wie ein Pfannkuchen. Es ist wahr, so passiert das.

Es ist schwierig, vitale Energie zu steuern. Doch natürlich, wenn es dir gelungen ist, sie zu zähmen, hast du etwas sehr Mächtiges in der Hand für die spirituelle Realisation. Denn es ist das vitale Gefühl, das die größten Hindernisse im Sturm nehmen kann. Es ist das Vitale, das fähig ist, aus einem Idioten eine intelligente Person zu machen – nur das Vitale allein kann das schaffen; denn wenn man sich leidenschaftlich nach Fortschritt sehnt, wenn das Vitale es sich in den Kopf setzt, dass man weiterkommen muss, kann sogar der größte Idiot intelligent werden! Ich habe das gesehen, ich spreche nicht vom Hörensagen; ich habe es gesehen, ich habe Menschen gesehen, die waren abgestumpft, dumm, unfähig zu verstehen, sie verstanden nichts – du konntest ihnen monatelang etwas erklären, es ging nicht hinein, als ob man zu einem Holzklotz reden würde – und plötzlich war ihr vitales Gefühl von einer Leidenschaft gepackt, sie wollten einfach nur jemandem gefallen oder etwas bekommen, und dafür musste man verstehen, musste man etwas wissen, es war dafür notwendig. Nun, dann setzten sie etwas in sich in Bewegung, sie rüttelten den schlafenden Verstand wach, sie schütteten Energie in die Ecken des Verstandes in denen vorher keine war; und sie verstanden plötzlich, sie wurden intelligent. Ich kannte jemanden, der praktisch nichts wusste, nichts verstand, und der anfing, wundervolle Dinge zu schreiben als sein Verstand sich rührte, und die Leidenschaft für Fortschritt von ihm Besitz ergriff. Die Texte dieser Person habe ich bei mir. Und wenn der Moment vorüber war, sich zurückzog, wenn das Vitale streikte, (denn manchmal ging es auf Streik und zog sich zurück) wurde die Person wieder absolut dumpf.

Natürlich ist es sehr schwierig, einen dauerhaften Kontakt zwischen dem äußersten physischen Bewusstsein und dem psychischen Bewusstsein herzustellen, und oh! das physische Bewusstsein besitzt eine Menge guten Willen; es ist sehr regelmäßig, es bemüht sich sehr stark, aber es ist langsam und schwerfällig, es braucht lange, es ist schwierig es dazu zu bringen sich vorwärts zu bewegen. Es wird zwar nicht müde, aber es macht auch keine Anstrengung, es geht still seinen Weg. Es kann Jahrhunderte dauern, das äußere Bewusstsein mit dem psychischen in Kontakt zu bringen. Aber aus dem einen oder anderen Grund packt das vitale Gefühl das an. Es wird von einer Leidenschaft ergriffen. Es will diesen Kontakt (aus dem einen oder anderen Grund, der nicht immer spirituell sein muss), es will diese Beziehung zu seinem psychischen Wesen. Es will sie mit seiner ganzen Energie, mit seiner ganzen Stärke, seinem ganzen Enthusiasmus, all seiner Glut. Dann ist die Sache in drei Monaten gemacht.

Also, dann pass' sehr sorgfältig darauf auf. Behandle dein vitales Wesen mit Rücksicht, aber ordne dich ihm nie unter. Denn es wird dich sonst in alle Arten von unangenehmen und unglücklichen Experimenten hineinziehen; aber wenn du darin Erfolg hast, es in der einen oder anderen Weise zu überzeugen, wirst du mit Riesenschritten auf dem Weg vorwärtskommen. (82)

DIE MUTTER

Die Bestimmung verschiedener Formen des Selbst in uns ist die Ursache für die unterschiedlichen Entwicklungsstufen der menschlichen Persönlichkeit… In manchen Menschen ist eine dieser Ausdrucksformen des Selbst der physische Purusha, das körperliche Selbst, das den Verstand, den Willen und das Handeln dominiert; dadurch wird der physisch dominierte Mensch geschaffen, der hauptsächlich mit seinem sinnlichen, körperlichen Leben beschäftigt ist, mit seinen gewohnheitsmäßigen Bedürfnissen und Impulsen, mit festen Angewohnheiten in der Lebensführung, in seinem Denken und in seiner körperlichen Lebensweise, der sehr wenig oder überhaupt nicht über diese hinausschaut, und der all seine anderen Tendenzen und Möglichkeiten auf diese enge Anordnung der Struktur seiner Lebensführung beschränkt oder ihr unterordnet. Aber sogar im physisch orientierten Menschen gibt es andere Elemente, und er kann nicht ganz und gar wie das menschliche Tier leben, für das Geburt und Tod, Fortpflanzung und die Befriedigung allgemeiner Impulse und Wünsche, sowie die Unterhaltung von Leben und Körper das Wichtigste ist: das ist zwar der normale Typus seiner Persönlichkeit, aber diese wird von Einflüssen durchkreuzt, durch die er in eine höhere menschliche Evolution weiterkommen kann wenn sich diese Einflüsse in ihm entwickeln, selbst wenn sie schwach sind. Wenn der innere subtil-physische Purusha darauf besteht, kann in ihm die Idee eines verfeinerten, schöneren und perfekteren physischen Lebens erwachen, und er kann darauf hoffen oder versuchen, das für sich selbst oder in der Gemeinschaft oder Gruppe zu verwirklichen.

In anderen Menschen überwiegt das vitale Selbst, das Selbst des vitalen Gefühls, der Lebensenergie, das den Verstand, den Willen und das Handeln regiert und dominiert, dadurch wird der vitale Gefühlsmensch geschaffen, dem es um Selbstbehauptung geht, um Vergrößerung der Selbstbedeutung, um Erweiterung des Lebensgefühls, um die Befriedigung von Ambitionen und Leidenschaften, Impulsen und Verlangen, um die Forderungen des Ego, um Herrschaft, Kampf und Wettstreit, um inneres und äußeres Abenteuer: alles andere ist nebensächlich oder diesen Beweggründen, diesem Aufbau und diesen Ausdrucksformen des vitalen Egos untergeordnet. Und trotzdem kann es auch im vital orientierten Menschen andere Züge von zunehmend denkendem oder spirituellem Charakter geben, selbst wenn sie weniger ausgeprägt sind als seine Lebenskraft und seine aufs vitale Leben ausgerichtete Persönlichkeit. Die Natur des vitalen Menschen ist aktiver, stärker, beweglicher, oft chaotisch bis nicht regulierbar und turbulenter als die des mehr körperlich orientierten Menschen, der erdverbunden ist, und eine gewisse materielle Stabilität und Ausgeglichenheit besitzt. Dagegen ist die des vitalen Gefühlsmenschen kinetischer und kreativer: denn das Element des vitalen Wesens ist Luft und nicht Erde, es ist mehr in Bewegung und weniger festgelegt. Ein kraftvoller vitaler Verstand und Wille kann die kinetischen vitalen Energien erfassen und beherrschen, aber das geschieht mehr durch energische Beschränkung und Druck als durch eine Harmonisierung des Wesens. Wenn jedoch eine starke vitale Persönlichkeit mit ihrem Verstand und Willen die überlegende Intelligenz in sich dazu bringen kann, ihr entschlossene Unterstützung zu geben, und ihr Förderer zu werden, dann kann eine gewisse kraftvolle Formation der Persönlichkeit erzeugt werden, die mehr oder weniger ausgeglichen, aber immer machtvoll, erfolgreich und effektiv ist, die sich in der persönlichen Natur und der Umgebung durchsetzen kann, und zu einem starken Selbstausdruck im Leben und Handeln gelangt. (83)

SRI AUROBINDO