KAPITEL 18

DER VERSTAND

Auf einer höheren Stufe der Evolution der Persönlichkeit (über der des vitalen Selbst, mit seiner Natur der Lebenskraft), bestimmt das Wesen des Denkens die Persönlichkeit; dadurch wird der mental reflektierende Mensch geschaffen, der überwiegend in seinem Verstand lebt, wie die anderen in der vitalen oder physischen Natur. Der intellektuelle Mensch tendiert dazu, seinem gedanklichen Selbstausdruck, seinen logischen Zielen, seinen intellektuellen Interessen oder einem geistigen Ideal oder einer Idee den Rest seines Wesens unterzuordnen: wegen der Schwierigkeit, die diese Unterordnung einerseits mit sich bringt, und dem wirkungsvollen Resultat, das andererseits dadurch erreicht wird, ist es für ihn zugleich schwieriger und leichter zu einer Harmonisierung seiner Natur zu gelangen. Es ist leichter, weil die denkende Willenskraft, wenn sie die Kontrolle erreicht hat, durch die Macht ihrer argumentierenden Intelligenz die Lebensenergie und den Körper und dessen Forderungen überzeugen, und zugleich beherrschen, kontrollieren oder einschränken kann, um sie zu ordnen, in Einklang zu bringen, und dazu zu drängen, ihr als Instrument zu dienen, oder sie sogar auf ein Minimum reduzieren kann, damit sie das geistige Leben nicht stören, oder es aus seinem Ideen und Ideale bildenden Denken herunterziehen können. Es ist schwieriger, weil das vitale Leben und der Körper diejenigen Kräfte sind, die evolutionär zuerst existierten, und sich mit fast unwiderstehlicher Hartnäckigkeit der geistigen Führung aufdrängen können, wenn sie nur die leiseste Stärke besitzen. Der Mensch ist ein denkendes Wesen, und der Verstand ist der Führer, der sein Leben und seinen Körper leitet; aber es ist ein Führer, der anstatt zu führen, häufig von seinen Gefolgsleuten geleitet wird, und der manchmal keinen anderen Willen hat als den, den sie ihm aufdrängen.

Der Verstand ist trotz seiner Macht oft impotent gegenüber dem Unbewussten und Unterbewussten, die seine Klarheit verdunkeln, und ihn wegtreiben auf der Flut von Instinkten und Impulsen; trotz seines Durchblicks wird er von gefühlsmäßigen und emotionalen Suggestionen zum Narren gehalten und dazu gebracht, Ignoranz und Irrtümern, sowie falschen Gedanken und falschem Handeln zuzustimmen, oder er ist gezwungen zuzuschauen, wie seine Natur dem folgt was unrecht, gefährlich und böse ist, obwohl er es weiß. Selbst wenn er stark und klar und dominierend ist, kann der Verstand nicht das gesamte Wesen und die gesamte Natur integrieren, obwohl er ihnen eine gewisse, sogar beachtlich vernunftbetonte Harmonie auferlegt. Diese Harmonisierung durch eine untergeordnete Kontrollinstanz (wie die des Verstandes) ist jedoch, nebenbei bemerkt, deshalb unzureichend, weil nur ein Teil der menschlichen Natur dominiert und sich selbst erfüllt, während die anderen Teile unterdrückt werden, und ihnen ihr Reichtum vorenthalten wird.

Das können Stufen auf dem Weg, aber nichts Endgültiges sein; deswegen gibt es in den meisten Menschen keine solche Vorherrschaft effektiver Harmonie eines Teiles seiner Natur, sondern sie überwiegt höchstens, das übrige besteht aus dem instabilen Gleichgewicht einer halb geformten Persönlichkeit, die im Entstehen ist. Manchmal gibt es in der Persönlichkeit auch ein Ungleichgewicht oder eine Unausgeglichenheit wegen des Mangels einer zentralen Führung oder durch die Störung eines früher erreichten Gleichgewichtes. Alles kann nur ein Übergang sein, bis eine erste, aber noch nicht die endgültige wahre Harmonisierung dadurch erreicht wird, dass wir unser eigentliches Zentrum finden. (84)

SRI AUROBINDO

Es gibt Menschen, deren Verstand sofort völlig durcheinandergerät, sobald ihrem Körper das Leiseste zustößt. Dann gibt es Andere, die sehr krank sein mögen, und trotzdem ihren Verstand sehr klar halten können. Seltener trifft man auf einen Verstand, der aus der Fassung geraten ist, während der Körper gesund bleibt, das ist schwieriger – es ist nicht unmöglich, aber viel seltener, weil der Körper sehr stark vom Zustand des Verstandes abhängig ist. Der Verstand (ich habe darüber in diesem Buch geschrieben)1, ist der Meister des körperlichen Wesens. Und ich habe gesagt, dass der letztere ein sehr gelehriger und folgsamer Diener sei. Nur versteht man im Allgemeinen leider nicht, wie man den Verstand benutzen muss, eher das Gegenteil davon ist der Fall. Nicht nur, dass man nicht versteht, wie man ihn benutzen soll, sondern man benutzt ihn auch noch falsch – oder so schlecht wie möglich. Der Verstand hat eine beachtliche Gestaltungskraft, die direkt auf den Körper einwirkt, und gewöhnlich benutzt man diese Kraft um sich selbst krank zu machen, denn sobald die kleinste Sache schief geht, beginnt der Verstand, alle nur möglichen Katastrophen zu ersinnen und aufzubauen, und sich zu fragen, ob es dieses oder jenes sein könnte was man sich zugezogen hat, und wie sich die Sache entwickeln, und wie alles enden wird. Nun, wenn man, anstatt den Verstand diese verheerende Arbeit machen zu lassen, dieselbe Fähigkeit dazu benützen würde, positive Gedankenformationen zu gestalten – wie zum Beispiel, einfach dem Körper Vertrauen einzuflößen, und ihm zu sagen, dass es nichts weiter als eine vorübergehende Störung sei, und dass das Durcheinander genauso schnell verschwindet, wie es gekommen ist, wenn er sich in einen Zustand positiver Empfänglichkeit versetzen kann, und dass man ihn innerhalb von wenigen Sekunden heilen kann – wenn man versteht, Krankheit so zu behandeln, bekommt man wunderbare Resultate. (85)

DIE MUTTER

Der Verstand besitzt auch eine Macht der Wahrheit: er öffnet den Raum seiner Gedanken sowohl dem Licht (Vidya) als auch der Dunkelheit (Avidya), und wenn sein Ausgangspunkt auch Unwissenheit ist, wenn seine Reise auch über krumme Wege des Irrtums führt, ist sein Ziel doch immer das Wissen: es existiert in ihm ein Impuls der Wahrheitssuche – und sogar, obwohl zweitrangig und begrenzt – eine Kraft der Wahrheitsfindung und der Wahrheits-Erschaffung. Selbst wenn er uns nur Bilder oder Darstellungen oder abstrakte Ausdrucksformen der Wahrheit zeigen kann, sind dies trotzdem auf ihre eigene Weise Widerspiegelungen oder Formationen der Wahrheit, und die Realitäten, deren Formen sie darstellen, befinden sich in ihrer konkreteren Wahrhaftigkeit in einer innersten Tiefe oder auf einer höheren Ebene der Macht unseres Bewusstseins. (86)

SRI AUROBINDO

Eine gewisse fundamentale Unterwerfung des Verstandes unter das Leben und die Materie, und ein Akzeptieren dieser Unterwerfung, eine Unfähigkeit, durch das Gesetz des Verstandes direkt die blinderen Gesetze und Vorgänge dieser niedrigeren Kräfte des Wesens zu beherrschen und abzuändern, bleibt selbst inmitten unserer größten mentalen Meisterschaft über das Selbst und die Dinge bestehen; aber diese Begrenzung ist nicht unüberwindlich. Die Erkenntnis durch okkultes Wissen zeigt uns – und eine dynamische Kraft spirituellen Wissens erbringt das gleiche Beweismaterial – dass diese Unterwerfung des Verstandes unter die Materie, sowie die des spirituellen Geistes unter ein untergeordnetes Gesetz des Lebens, keine grundlegende Bedingung des Daseins oder ein unantastbares, unveränderbares Naturgesetz ist, wie es zunächst erscheint. Die größte, bedeutsamste natürliche Entdeckung, die der Mensch machen kann, ist die, dass der Verstand, und noch mehr die Kraft des spirituellen Geistes, auf vielen erprobten und noch unerprobten Wegen und auf allen Gebieten – die Naturgesetze des Lebens und der Materie überwinden und kontrollieren können, und zwar durch ihr eigenes Wirken und ihre eigene direkte Macht, und nicht nur durch den Einsatz von Apparaten und technischen Geräten der überragenden materiellen Instrumentierung, die von den Naturwissenschaften erfunden wurde. (87)

SRI AUROBINDO

Mind is a mediator divinity:

Its power can undo all nature’s work:

Mind can suspend or change earth’s concrete law.

Affranchised from earth-habit’s drowsy seal

The leaden grip of matter it can break;

Indifferent to the angry stare of Death,

it can immortalise a moment’s work:

A simple fiat of its thinking force,

The casual pressure of its slight assent

Can liberate the energy dumb and pent

Within its chamber of mysterious trance:

It makes the body’s sleep a puissant arm,

Holds still the breath, the beatings of the heart,

While the unseen is found, the impossible done,

Communicates without means the unspoken thought:

It moves events by its bare silent will,

Acts at a distance without hands or feet.

This giant Ignorance, this dwarfish life

It can illumine with a prophet’s sight,

Invoke the baccic rapture, the Fury’s goad,

In our body arouse the demon or the god,

Call in the Omniscient and the Omnipotent,

Awake a forgotten Almightyness within.

In its own plane a shining emperor,

Even in its rigid realm, mind can be king: (88)

SRI AUROBINDO

Das Mental ist ein göttlicher Vermittler:

Seine Mächte können das ganze Werk der Natur zunichte machen:

Das Mental kann der Erde konkretes Gesetz suspendieren oder wandeln.

Befreit vom schläfrigen Siegel der Erdgewohnheit

Kann es den bleiernen Griff der Materie brechen;

Gleichgültig gegenüber dem zornigen Starren des Todes

Kann es die Arbeit eines Augenblicks unsterblich machen:

Ein einfaches Gebot seiner Gedankenkraft,

Der beiläufige Druck seiner leisen Zustimmung

Kann jene Energie befreien, die stumm und eingesperrt ist

In ihren Kammern einer geheimnisvollen Trance:

Es macht den Schlaf des Körpers zu einer mächtigen Waffe,

Hält an den Atem, die Schläge des Herzens,

Während das Ungesehene entdeckt, das Unmögliche getan wird,

Vermittelt ohne Mittel den ungesprochenen Gedanken;

Es bewegt Ereignisse durch seinen bloßen schweigenden Willen,

Handelt aus Distanz ohne Hände oder Füße.

Diese gigantische Unwissenheit, dies zwergenhafte Leben,

Kann es mit einer prophetischen Schau erleuchten,

Anrufen bacchantische Verzückung, der Furie Ansporn,

In unserem Körper den Dämon oder den Gott wecken,

Hereinrufen den Allwissenden und den Allmächtigen,

Im Innern eine vergessene Allmächtigkeit erwecken.

Auf seiner Ebene ein strahlender Herrscher,

Kann das Mental selbst in solch starrem Reich ein König sein: (88)

SRI AUROBINDO

1 Die Wissenschaft des Lebens über Erziehung