Kapitel 10
Yoga ist seiner Natur nach eine neue Geburt
Worte Sri Aurobindos
Aller Yoga ist seiner Natur nach eine neue Geburt; er ist eine Geburt aus dem gewöhnlichen, dem mentalisierten materiellen Leben des Menschen hinein in ein höheres spirituelles Bewusstsein und in ein größeres und göttlicheres Wesen. Man kann keinen Yoga erfolgreich unternehmen und ihm folgen, wenn es nicht zu diesem starken Erwachen der Notwendigkeit jenes umfassenderen spirituellen Daseins kommt. Die zu dieser tiefen und weiten Umwandlung aufgerufene Seele kann auf verschiedene Weise zum Ausgangspunkt des Weges gelangen. Sie mag durch ihre eigene natürliche Entwicklung, die sie unbewusst zum Aufwachen hinleitete, dorthin kommen. Sie kann das auch durch den Einfluss einer Religion oder die Anziehungskraft einer Philosophie erreichen. Sie nähert sich ihm etwa durch eine langsame Erleuchtung, oder sie schwingt sich infolge einer plötzlichen Berührung oder durch eine Erschütterung dorthin empor. Es kann auch sein, dass sie durch den Druck äußerer Umstände oder durch eine innere Notwendigkeit darauf gestoßen oder dorthin geführt wird, etwa durch ein einziges Wort, das die Siegel des Mentals zerbricht, oder es kann durch eine lange Reflektion geschehen, durch das ferne Beispiel eines Menschen, der diesen Pfad gegangen ist, oder durch täglichen Kontakt und Einfluss. Der Ruf zur neuen Geburt wird im Einklang mit der Natur und den Umständen kommen.
Auf welchem Wege er auch kommt, das Mental und der Wille müssen sich entscheiden; als Ergebnis davon muss eine völlige und effektive Weihung seiner selbst geleistet werden. Der entscheidende Akt, der wie in einem Samenkorn alle Resultate, die der Yoga zu geben hat, in sich trägt, ist die Annahme einer neuen spirituellen Ideenkraft, die Orientierung unseres Wesens nach oben hin, eine Erleuchtung, eine Hinwendung oder Umkehr, die man mit dem Willen und mit der Aspiration des Herzens festhält. Die bloße Idee oder ein intellektuelles Suchen nach etwas Höherem, Jenseitigem ist, so stark das auch mit dem Interesse des Mentals ergriffen wird, doch unwirksam, wenn das Herz es nicht als das festhält, was allein begehrenswert ist, und wenn der Wille dieses Einzige nicht als das annimmt, was getan werden muss. Denn die Wahrheit des Geistes soll nicht bloß gedacht, sondern muss gelebt werden. Sie zu leben erfordert aber die auf ein einziges Ziel hin zur Einheit zusammengefasste Konzentration unseres mentalen Wesens. Eine so große Umwandlung, wie sie durch den Yoga vorgesehen ist, kann nicht durch einen zerteilten Willen, durch einen kleinen Teil unserer Energie oder durch ein zögerndes Mental bewirkt werden. Wer das Göttliche sucht, muss sich ganz Gott weihen und nur Gott allein.
Wenn die Umwandlung durch einen überwältigenden Einfluss plötzlich und entscheidend eintritt, gibt es keine wesentliche oder dauernde Schwierigkeit mehr. Dann folgt die Entscheidung dem Gedanken oder fällt mit ihm zusammen, und die Selbst-Weihung bekräftigt die getroffene Wahl. Der Fuß ist nun bereits auf den Pfad gesetzt, auch wenn man anfänglich noch mit ungewissen Schritten geht, wenn man den Weg vielleicht zuerst nur dunkel sieht und wenn die Erkenntnis des Zieles noch unvollkommen ist. Der geheime Lehrer, der innere Lenker ist nun schon am Werk, wenn er sich vielleicht auch noch nicht offenbart oder noch nicht in der Person seines menschlichen Repräsentanten erscheint. Keine der Schwierigkeiten und Unschlüssigkeiten, die noch folgen mögen, können am Ende etwas gegen die Macht der Erfahrung ausrichten, die den Lauf des Lebens umgelenkt hat. Wenn die Berufung einmal zur Entscheidung führte, bleibt sie fest bestehen. Was geboren wurde, kann durch nichts mehr erstickt werden. Auch wenn die Macht der Umstände es anfänglich verhindert, dass man das Ziel regelmäßig verfolgt oder sich von Anfang an tatsächlich ganz darbringt, hat das Mental doch seine neue Richtung eingeschlagen und beharrt nun mit einer ständig zunehmenden Wirkungskraft auf seinem vordringlichen Anliegen oder kehrt zu ihm zurück. Mit einer unausweichlichen Beharrlichkeit besteht das innere Wesen darauf, und alle Umstände sind letztlich dagegen machtlos. Keine Schwäche in der Natur kann auf die Dauer zum Hindernis werden.
Der Anfang verläuft jedoch nicht immer auf diese Weise. Oft wird der Sadhaka nur schrittweise geführt. Dann liegt eine lange Zeitspanne zwischen der ersten Hinwendung des Mentals und der völligen Zustimmung der menschlichen Natur zu dem Ziel, dem es sich zuwendet. Zuerst mag da nur ein lebhaftes intellektuelles Interesse vorherrschen, durch das man mit aller Gewalt zu der Idee und zu einer unvollkommenen Form der Praxis hingezogen wird. Vielleicht handelt es sich auch um ein Bemühen, das nicht von der ganzen Natur begünstigt wird, um eine Entscheidung oder eine Wendung, die durch einen intellektuellen Einfluss auferlegt oder durch die persönliche Zuneigung und Bewunderung für jemand diktiert wird, der sich selbst dem Höchsten geweiht und ergeben hat. In solchen Fällen kann eine lange Vorbereitungszeit notwendig sein, bevor es zur unwiderruflichen Weihung seiner selbst kommt; in manchen Fällen mag sie gar nicht eintreten. Vielleicht macht man gewisse Fortschritte. Es kann eine mächtige Anstrengung und sogar eine weitgehende Läuterung vorhanden sein, auch viele Erfahrungen anderer Art als die zentralen und höchsten, aber das Leben verweilt entweder in der Vorbereitung, oder das Mental wird, wenn es eine gewisse Stufe erreicht hat, nur noch von einer ungenügenden Antriebskraft weitergedrängt und bleibt dann vielleicht zufrieden vor der Grenze der ihm möglichen Anstrengung stecken. Vielleicht sinkt es auch in das frühere niedrigere Leben zurück. In der gewöhnlichen Yoga-Sprache nennt man das „ein Hinunterfallen vom Pfad“. Dieses Abgleiten tritt deshalb ein, weil im eigentlichen Zentrum ein Fehler sitzt. Zwar war der Intellekt interessiert, das Herz angezogen, und der Wille hatte sich voll eingesetzt. Jedoch war nicht die ganze Natur vom Göttlichen zu seinem Gefangenen gemacht worden. Sie hatte sich nur eben in jenes Interesse, jene Hinneigung oder jenes Bemühen gefügt. Es war ein Experiment, vielleicht sogar ein eifrig betriebenes Experiment gewesen. Man hatte sich aber nicht total an ein zwingendes Bedürfnis der Seele oder an ein unaufgebbares Ideal hingegeben. Auch ein solcher unvollkommener Yoga ist gewiss nicht nutzlos vertan. Denn kein Bemühen, über sich hinauszukommen, wird vergebens unternommen. Selbst wenn es im Augenblick misslingt oder nur zu einer vorbereitenden Stufe oder einer vorläufigen Verwirklichung führt, hat es doch über die Zukunft der Seele entschieden.
Wollen wir aber die günstige Gelegenheit, die uns dieses Leben bietet, bestens nutzen, streben wir danach, den Ruf, den wir empfangen haben, in der angemessenen Weise zu beantworten und das Ziel, das wir flüchtig schauten, wirklich zu erreichen; und bewegen wir uns nicht nur ein wenig in der Richtung auf es hin, dann ist es wesentlich, dass ein völliges Sich-Selbst-Geben geleistet wird. Das Geheimnis des Erfolges im Yoga liegt darin, dass wir ihn nicht nur als eines der Ziele ansehen, die wir im Leben verfolgen, sondern als das eine und einzige Ziel, nicht als einen bedeutenden Teil des Lebens, sondern als das Ganze des Lebens.
