Kapitel 9
Der Weg zu einer neuen Geburt
Worte Sri Aurobindos
Bei unserem Yoga nehmen wir uns vor, das begrenzte, nach außen schauende Ego zu verbannen und an seiner Stelle Gott als den regierenden Bewohner der Natur auf den Thron zu erheben. Das bedeutet in erster Linie, dass wir das Begehren enterben und den Genuss der Begierden nicht länger als das vorherrschende menschliche Motiv anerkennen. Das spirituelle Leben muss das, was es zu seiner Förderung benötigt, nicht aus dem Begehren beziehen, sondern aus einer reinen selbstlosen spirituellen Wonne eines wesenhaften Daseins. Einer neuen Geburt und Umgestaltung muss sich nicht nur die vitale Natur in uns unterziehen, die durch das Begehren geprägt wird, sondern ebenso das mentale Wesen. Unser zerteiltes, egoistisches, begrenztes und unwissendes Denken mit seiner Intelligenz muss verschwinden. An seine Stelle muss das allumfassende fehlerlose Spiel einer schattenlosen göttlichen Erleuchtung einströmen, die schließlich ihre Vollendung in einem natürlichen, aus dem Selbst existierenden Wahrheitsbewusstsein finden muss, das von der tastenden Halbwahrheit und dem strauchelnden Irrtum frei ist. Aufhören muss dann unser verworrenes und gehemmtes, im Ego zentriertes, von kleinlichen Motiven getriebenes Wollen und Handeln. Es muss einer göttlich motivierten und gelenkten Kraft Platz machen, damit diese total, rasch, mächtig und lichtvoll automatisch wirken kann. Es muss in all unser Tun ein höchster, apersonaler, unerschrockener und unbeirrbarer Wille eingepflanzt und dort aktiviert werden, der in spontanem und harmonischem Einklang mit dem Willen des Göttlichen steht. Das unbefriedigende oberflächliche Spiel unserer schwachen egoistischen Gemütsbewegungen muss ausgeschaltet werden. Statt den Gemütsbewegungen muss sich ein weites seelisches Herz aus seinen geheimen Tiefen offenbaren, das im Inneren, hinter jenen Gefühlen, auf seine Stunde wartet. Dann werden alle unsere Empfindungen, die von diesem innersten Herzen, dem Sitz des Göttlichen, angeregt werden, in die ruhigen, intensiven Regungen einer Zwillingsleidenschaft der göttlichen Liebe und des vielfältigen Ananda umgewandelt werden. Auf diese Weise lässt sich eine göttlich gewordene Menschheit oder ein supramentales Menschentum definieren. Das – und nicht eine auf die Spitze getriebene und stark sublimierte Energie menschlichen Intellekts und Handelns – stellt den Typus des Übermenschen dar, dessen Evolution wir durch unseren Yoga zu bewirken berufen sind.
Im gewöhnlichen menschlichen Dasein macht ein auf die Außenwelt gerichtetes Handeln offensichtlich drei Viertel oder noch mehr unseres Lebens aus. Überwiegend in sich selbst können nur die Ausnahmemenschen leben: der Heilige und der Seher, der ungewöhnliche Denker, der Dichter und Künstler. Diese gestalten sich, zumindest in den wesenhaften Teilen ihrer Natur, mehr in einem inneren Denken und Fühlen als in einem Wirken nach außen. Doch sind diese beiden Seiten nicht voneinander getrennt, sondern eher ist die Harmonie des Inneren und die des äußeren Lebens in Fülle eins geworden und umgestaltet in ein Spiel dessen, das über beiden liegt und das die Form vollkommenen Lebens schaffen wird. Darum ist der Yoga des Wirkens ein unerlässliches, unvergleichlich wichtiges Element eines Integralen Yoga: das Einswerden mit dem Göttlichen in unserem Wollen und Handeln, nicht nur im Wissen und in den Gemütsbewegungen. Wir hätten nur Stückwerk vollbracht, wenn wir allein unser Denken und Fühlen umgestaltet hätten ohne entsprechende Verwandlung von Geist und Körper unseres Wirkens.
Wenn aber diese totale Umkehrung geleistet werden soll, muss es zu einer Darbringung an das Göttliche ebenso sehr unserer Handlungen und äußeren Betätigungen wie auch unseres Mentals und unseres Herzens kommen. Wir müssen es akzeptieren und fortschreitend leisten, dass wir unsere Befähigung zum Wirken einer hinter uns waltenden höheren Macht überantworten. Dabei muss das Empfinden, wir seien der Handelnde und Täter, verschwinden. Alles muss zu einer direkten Verwendung in die Hand des göttlichen Willens gelegt werden, der durch diese Erscheinungen im Vordergrund noch verdeckt ist. Unser Handeln ist ja erst dadurch möglich, dass jener Wille es zulässt. Eine verborgene Macht ist der wahre Herr und souveräne Beobachter unserer Handlungen, und sie allein besitzt das Wissen von ihrem vollständigen Sinn und letzten Zweck, mitten in all unserer Unwissenheit, Verkehrtheit und Entstellung, die durch das Ego hereingebracht wird. Wir müssen also eine vollständige Transformation unseres begrenzten, entstellten, egoistischen Lebens und Wirkens zustande bringen, so dass in breitem und direktem Strömen ein höheres göttliches Leben mit seinem Willen und seiner Energie hervortreten kann, das uns jetzt insgeheim fördert und erhält. Dieser höhere Wille und diese größere Energie müssen in uns bewusst und beherrschend werden. Diese Kraft darf nicht, wie bisher, nur eine überbewusste, unser Dasein erhaltende und zulassende Kraft bleiben. Wir müssen es erreichen, dass die allweise Absicht und das Verfahren einer jetzt noch verborgenen allwissenden Macht und eines allmächtigen Wissens ohne Entstellung durch uns hindurchgeleitet werden kann. Diese wird unsere ganze umgewandelte Natur zu ihrem Übermittler machen, der dieser Macht geläutert und ohne Widerstand freudig zustimmt und an ihr teilnimmt. Die grundlegenden Mittel und das letzte Ziel eines integralen Karma-Yoga sind also diese totale Darbringung und Hingabe sowie die daraus sich ergebende völlige Transformation und freie Transmission.
