Kapitel 10
Man muss ruhig sein
Eben hat mich jemand gefragt, was ich mit den folgenden Worten sagen wollte:
„Man muss ruhig sein.“
Es ist ganz klar, wenn ich zu jemandem sage: „Sei ruhig“, meine ich je nachdem viele verschiedene Dinge. Aber die erste unerlässliche Ruhe ist die mentale Ruhe [oder Stille], weil sie im Allgemeinen am meisten fehlt. Wenn ich zu jemandem sage: „Sei ruhig“, meine ich damit: Man sollte versuchen, keinen unruhigen, erregten, hektischen Gedanken zu haben; versuchen, den Kopf zur Ruhe zu bringen und aufzuhören, sich in allen Vorstellungen und Beobachtungen und gedanklichen Konstruktionen im Kreis zu drehen.
Man könnte mit Recht eine Frage hinzufügen: Es wird gesagt, „Sei ruhig“, aber was muss man tun, um ruhig zu sein? Die Antwort ist immer die gleiche: Man muss zuerst die Notwendigkeit dazu verspüren und es wollen, und dann danach streben, und dann probieren! Zum Probieren gibt es eine unübersehbare Menge von Hilfsmitteln, die von vielen Leuten empfohlen und versucht worden sind. Das sind meist langwierige, verzwickte, schwierige Mittel; und viele Leute lassen sich entmutigen, bevor sie das Ziel erreicht haben, denn je mehr sie probieren, umso mehr fangen ihre Gedanken an, aufgeregt in ihrem Kopf umherzujagen.
Für jeden sieht das Hilfsmittel anders aus, doch zuerst muss man aus irgendeinem Grund das Gefühl haben – sei es, weil man abgespannt ist, sei es, weil man überanstrengt ist, sei es, weil man wirklich den Zustand, in dem man lebt, überschreiten will –, man muss zuerst die Notwendigkeit dieser Ruhe, dieses Friedens im Mental verstehen, fühlen. Und danach kann man dann nacheinander alle Mittel ausprobieren, bekannte und neue, um zu einem Ergebnis zu kommen.
Jetzt merkt man recht schnell, dass es eine andere Ruhe gibt, die notwendig und sogar sehr dringend ist, das ist die vitale Ruhe, das heißt, die Wunschlosigkeit. Nur ist es bei dem Vital so: Wenn es nicht ausreichend entwickelt ist, schläft es entweder ein oder es streikt, sobald man zu ihm sagt, es solle ruhig sein; es sagt: „Ach nein! Ich gehe nicht weiter! Wenn du mir nicht die Nahrung gibst, die ich brauche, die Erregung, die Begeisterung, das Begehren, ja die Leidenschaft, rühre ich mich lieber nicht von der Stelle und tue nichts mehr.“ Da ist dann das Problem ein klein wenig heikler und vielleicht noch ein wenig schwieriger; denn wenn man von Erregung in Trägheit verfällt, ist das ganz sicher alles andere als ein Fortschritt! Man darf Ruhe nie mit Trägheit oder schläfriger Passivität verwechseln.
Die Ruhe ist ein sehr positiver Zustand; es gibt einen positiven Frieden, der nicht das Gegenteil des Konflikts ist – einen aktiven, ansteckenden, mächtigen Frieden, der herrscht und beruhigt, der Ordnung schafft, der organisiert. Von diesem spreche ich; wenn ich zu jemandem sage: „Sei ruhig“, will ich nicht zu ihm sagen, dass er schlafen gehen soll, träge und passiv sein und sich mit nichts mehr beschäftigen soll, weit gefehlt! … Die wahre Ruhe ist eine sehr große Kraft und eine sehr große Macht. Wenn man das Problem von der anderen Seite betrachtet, kann man tatsächlich sagen, dass alle die, die wirklich stark und machtvoll sind, immer eine große Ruhe haben. Nur die Schwachen sind aufgeregt; sobald man wirklich stark ist, ist man friedvoll, still, ruhig, und man hat die Widerstandskraft, den feindlichen Wogen zu trotzen, die sich von außen hereinstürzen, in der Hoffnung, uns durcheinander zu bringen. Diese wahre Ruhe ist immer ein Zeichen von Stärke. Ruhe gehört den Machtvollen.
Und dies ist sogar physisch wahr. Ich weiß nicht, ob du Tiere wie Löwen, Tiger und Elefanten beobachtet hast, doch es ist eine Tatsache, dass diese Tiere immer so vollkommen ruhig sind, wenn sie nichts tun. Ein ruhender Löwe, der einen anschaut, sieht immer so aus, als wollte er zu einem sagen: „Ach, wie aufgeregt bist du!“ Er schaut einen an mit einer Miene so voll Weisheit und Frieden! Und seine ganze Macht, seine Energie, seine materielle Kraft sind da, versammelt, vereinigt, konzentriert und – ohne die leiseste Aufregung – bereit zur Tat, wenn der Befehl gegeben wird.
Ich habe Leute erlebt, viele, die nicht eine halbe Stunde ruhig sitzen bleiben konnten, ohne dass sie anfingen zu zappeln. Sie mussten einen Fuß bewegen, ein Bein bewegen, einen Arm bewegen, ihren Kopf bewegen; sie mussten die ganze Zeit unruhig sein, weil sie nicht die Macht oder die Kraft hatten, ruhig zu bleiben.
Diese Fähigkeit, unbewegt zu bleiben, wann man will, alle seine Energien zu sammeln und sie auszugeben, wie man will, vollständig, wenn man will, oder sie beim Handeln zu dosieren, wie man will, mit einer vollkommenen Ruhe, auch bei der Handlung – das ist immer ein Zeichen von Stärke. Das kann eine physische Stärke, das kann eine vitale Stärke, das kann eine mentale Stärke sein. Aber wenn du nur im geringsten aufgeregt bist, kannst du sicher sein, dass da irgendwo eine Schwäche ist; und wenn deine Aufregung vollständig ist, ist auch deine Schwäche vollständig.
Wenn ich also zu jemandem sage: „Sei ruhig“, kann ich alles mögliche meinen, das kommt auf den Einzelnen an. Doch ist es natürlich am Häufigsten dies: den mentalen Geist zur Ruhe bringen, sich nicht die ganze Zeit im Kopf aufregen, die Vorstellungen nicht wie mit einer Schaufel umgraben, sondern still werden.
