Kapitel 10
Freiheit
Wenn es einen Wert gibt, den die Mutter am meisten schätzte, ist es zweifellos die Freiheit. Schon von Kindheit an focht sie für Freiheit: Freiheit von Tradition, Konvention, Gewohnheit und Freiheit von der Natur, genau genommen Freiheit von allem, was die Evolution der Seele einschränkt. Sogar in spirituellen Angelegenheiten, die scheinbar für die Entwicklung des Individuums unter den Aspekten von Wahrheit, Liebe und Harmonie organisiert sind, war es ihr äußerst wichtig, dass nichts getan wurde, was die Freiheit der Person zu wachsen, wie sie wollte, beeinträchtigen konnte.
Sie war ganz Mitgefühl, ganz Liebe in ihrer Antwort auf Bitten um Hilfe, aber sie handelte immer nach einem einzigartigen Prinzip. Sie nannte es ein Eingreifen, ohne zu stören. Sie hätte nichts getan, was auf irgendeine Weise eine Person in der freien Ausübung ihres Willens behindert hätte. Wenn es für jene ein vermeidbares Leid bedeutet hätte, nun, sie musste auf diese Weise lernen. Sie weigerte sich, für die Sadhaks einen engen Rahmen an Regeln und Vorschriften zu schaffen, ihnen irgendeine Art starrer äußerer Disziplin aufzuerlegen. Nicht, dass sie das nicht gekonnt hätte, offen oder im Hintergrund, aber sie sagte, dass sie in so einem „guten Benehmen“ keinen Wert sah. Sie wollte, dass jeder die Notwendigkeit einer inneren Disziplin spürte und auf dieser Basis aus eigenem freiem Willen handelte.
Dieses Merkmal beobachtet man in allem, was sie schrieb, allem, was sie schuf. Freiheit von Angst, Freiheit von Zwang durch Autoritäten, Freiheit von jeder Art lästiger Pflicht war es, was sie neben anderen Dingen anstrebte. Inwieweit wir jenem Geist gerecht werden, in welchem Maß wir das Bewusstsein der Mutter in unserem persönlichen Leben und unserer kollektiven Existenz widerspiegeln, hängt vom Maß der von uns verwirklichten Freiheit ab.
Unter diesem Gesichtspunkt müssen wir die Qualität unseres Erfolges oder Scheiterns beurteilen. Wo es keine Handlungsfreiheit gibt, sind wir der Mutter nicht gerecht geworden. Freiheit zu denken, zu sprechen, zu fühlen und auf eine uns gemäße Weise zu handeln, selbstverständlich unter Berücksichtigung des Rechts einer gleichen Freiheit für andere, sollte das Kennzeichen von Mutters Königreich sein. Mein Frieden kann nicht mit eurem zusammengeraten, wenn er der Seelenebene und nicht dem Ego entspringt. Um dies zu erreichen, ist eine dazu befähigende Sadhana unverzichtbar. Und darum hat die Mutter eine Umgebung geschaffen, in der die Dinge für die natürliche Entwicklung des spirituellen Wesens jedes Einzelnen vorteilhaft sind. Spirituelles Wachstum und Freiheit sind sich gegenseitig beeinflussende und fördernde Faktoren. Wo die Freiheit wegen vermeintlicher Interessen einer Organisation beschnitten oder unterdrückt ist, kann die Seele nicht erblühen. Eine aufgezwungene Disziplin kann nur zu einer seelenlosen, mechanischen, lähmenden Ordnung führen, die dem angeborenen Charakter der evolvierenden Seele fremd ist.
Die Mutter respektierte nicht nur menschliche Freiheit, sondern in gleicher Weise die der Tiere und Vögel. Sie befürwortete niemals die Käfighaltung von Vögeln oder das Einsperren von Tigern und Löwen. Sie sah traurig aus, wenn jemand solche Exemplare vor ihr zur Schau stellte, obschon sie zu rücksichtsvoll war, etwas zu den stolzen Besitzern zu sagen. Jedem das Seine.
Veröffentlicht im November 1983
