Kapitel 10
Der wahre Sinn unserer Geburt
Warum war eine fortschreitende Manifestation notwendig?
Der Zweck, für den diese ausschließliche Konzentration, die wir die Unwissenheit nennen, notwendig ist, ist, dass der Mensch den Zyklus der Selbst-Vergessenheit und Selbst-Entdeckung durchläuft. Für die Freude des verborgenen Geistes daran hat die Natur die Unwissenheit angenommen. Es ist nicht so, dass die ganze kosmische Manifestation sonst nicht möglich sein würde, aber es wäre eine ganz andere Manifestation als die, in der wir leben. Sie würde sich auf die höheren Welten des göttlichen Seins oder auf einen artspezifischen, sich nicht entwickelnden Kosmos beschränken, in dem jedes Wesen im vollen Licht seines eigenen Naturgesetzes lebte. Dann wäre diese jetzige Manifestation, dieser evolvierende Zyklus nicht möglich. Das, was hier das Ziel ist, würde dann der unaufhörliche Zustand sein, und was hier eine Stufe darstellt, wäre ein verewigtes Seinsmodell. Um sich in den scheinbaren Gegensätzen seines Wesens und seiner Natur zu finden, steigt Sachchidananda in die Nichtbewusstheit der Materie hinab und nimmt deren gewaltige Unwissenheit wie einen äußeren Schleier an, hinter dem er sich vor seiner eigenen bewussten Energie verbirgt und sie ihrer Selbstvergessenheit und Absorption in ihr Wirken und ihre Formen überlässt. In eben diesen Formen muss die sich langsam entwickelnde Seele das gewaltige Wirken einer Unwissenheit akzeptieren, welche in Wirklichkeit ein sich allmählich aus der originalen Unwissenheit erwachendes Wissen ist. Und in den neuen, durch dieses Wirken geschaffenen Bedingungen muss sie sich wiederentdecken und das Leben – welches auf diese Weise arbeitet, um das Ziel seines Herabstiegs in das Nichtbewusste zu erreichen – durch jenes Licht göttlich transformieren. Es ist nicht das Ziel dieses kosmischen Zyklus, so schnell wie möglich zu Himmeln, in denen für immer vollkommenes Licht und Freude herrschen, oder zur überkosmischen Seligkeit zurückzukehren oder bloß eine sinnlose Runde in einer langen unbefriedigenden Spur der Unwissenheit zu wiederholen, die nach Erkenntnis sucht, aber sie niemals völlig erreicht, [– in diesem Fall würde die Unwissenheit entweder ein unerklärliches Versehen des All-Bewussten oder eine schmerzhafte und sinnlose, ebenfalls unerklärliche Notwendigkeit sein]. – Stattdessen will er das Ananda des Selbstes unter anderen Bedingungen als den überkosmischen in einem kosmischen Sein verwirklichen. Ihren Himmel von Freude und Licht sogar in den Gegensätzen zu finden, die eine verkörperte materielle Existenz immer aufweist, welche um die Freude der Selbst-Entdeckung ringt, scheint das wahre Ziel der Geburt der Seele im menschlichen Körper und der Bemühungen der menschlichen Spezies während vieler aufeinanderfolgender Zyklen zu sein. Die Unwissenheit ist eine notwendige, obschon ziemlich untergeordnete Begrenzung, die das universale Wissen sich selbst auferlegt hat, damit diese Bewegung ermöglicht werden kann, – sie ist kein Missgriff, kein Sturz oder Fluch, sondern ein sinnvolles Herabsteigen und eine göttliche Möglichkeit. Die All-Freude in einer umfassenden Bündelung ihrer Vielfalt zu entdecken und zu verkörpern, eine Möglichkeit des unendlichen Seins zu erreichen, die unter anderen Bedingungen nicht erlangt werden könnte, aus der Materie einen Tempel des Göttlichen zu erschaffen, scheint die Aufgabe zu sein, die dem in das materielle Universum hineingeborenen Geist auferlegt worden ist.
Die einzige Frage ist, aus welchem Grund diese Art fortschreitender Manifestation notwendig war; dies ist für die Intelligenz der letzte unklare Punkt geblieben.
Eine Manifestation dieser Art, Selbst-Schöpfung oder Spiel, Lila, schiene nicht gerechtfertigt, wenn sie der unwilligen Kreatur auferlegt worden wäre; aber es ist wohl offensichtlich, dass die Zustimmung des verkörperten Geistes schon vorhanden gewesen sein muss, denn Prakriti kann nicht ohne das Einverständnis des Purusha handeln. Nicht nur der Wille des Göttlichen Purusha, die kosmische Schöpfung zu ermöglichen, sondern auch die Zustimmung des individuellen Purusha zur Bewerkstelligung der individuellen Manifestation musste schon vorhanden gewesen sein. Aber man kann sagen, dass die Ursache des Göttlichen Willens und der Freude in so einer schwierigen und gepeinigten fortschreitenden Manifestation als auch der Grund für die Zustimmung der Seele hierzu noch immer ein Mysterium ist. Aber es ist kein vollständiges Mysterium, wenn wir unsere eigene Natur anschauen und einen verwandten Wesenszug als anfängliche Ursache ihres kosmischen Ursprungs vermuten können. Im Gegenteil, ein Spiel des Selbstversteckens und Selbstfindens ist eine der strapaziösesten Freuden, die das bewusste Wesen sich bereiten kann, ein äußerst attraktives Spiel. Es gibt für den Menschen kein größeres Vergnügen als einen Sieg, der im Prinzip ein Überwinden von Schwierigkeiten ist, ein Sieg des Wissens, der Macht, ein Sieg über die fehlenden Möglichkeiten im Schaffensprozess, eine Freude an der Bezwingung qualvoller Anstrengung und schwerer Leidensprüfung. Am Ende der Trennung steht die intensive Freude der Vereinigung, die Freude eines Treffens mit einem Selbst, von dem wir getrennt waren. Sogar die Unwissenheit übt einen Reiz aus, weil sie uns die Freude des Entdeckens bietet, die Überraschung neuer und unvorhergesehener Schöpfung, ein großes Abenteuer der Seele. Es gibt eine Freude des Reisens, der Suche und des Findens, eine Freude von Krieg und Krone, von Mühe und Belohnung der Mühe. Wenn Daseinsfreude das Geheimnis der Schöpfung ist, ist auch dies eine Daseinsfreude; sie kann als die Ursache oder wenigstens als eine Ursache für diese scheinbar paradoxe und gegensätzliche Lila angesehen werden. Aber außer dieser Wahl des individuellen Purusha gibt es eine dem ursprünglichen Sein innewohnende tiefere Wahrheit, die ihren Ausdruck im Eintauchen in das Nichtbewusste findet. Das Resultat ist eine neue Bekräftigung des Sachchidananda in seinem offenbaren Gegensatz. Wenn man dem Recht des Unendlichen auf vielfältige Selbstmanifestation zustimmt, wird dies ebenfalls als eine Möglichkeit seiner Manifestation verständlich und hat seine profunde Bedeutung.
Wenn wir dieses Bewusstsein des Ananda Brahman in allen dreien dieser Manifestationen in uns gefestigt haben, oben, im Innern und Außen, sind wir vollkommen eins mit ihm und umarmen alles Seiende in seiner Seligkeit, seinem Frieden, seiner Freude und Liebe. Dann werden alle Welten zum Körper dieses Selbstes. Aber wir haben nicht die umfassendste Kenntnis dieses Ananda, wenn wir nur eine unpersönliche Gegenwart, Größe oder Immanenz fühlen, wenn unsere Verehrung nicht innig genug gewesen ist, damit dieses Wesen uns aus seiner weitgespannten Freude das Antlitz und den Körper enthüllen und uns die Hände des Freundes und Geliebten spüren lassen kann. Seine Unpersönlichkeit ist die selige Größe des Brahman, aber von dort aus kann die Süße und innige Leitung der göttlichen Persönlichkeit auf uns achtgeben. Denn das Ananda ist die Gegenwart des Selbstes und Meisters unseres Wesens und sein Verströmen kann die ungetrübte Freude seiner Lila sein.