Kapitel 8
Die Mutter und die Natur ihres Werkes
Es scheint, dass ich euch etwas über die Mutter erzählen soll, – ein bisschen aus ihrem Leben, ein bisschen über ihre Aktivitäten.
Nun, wie ihr alle wisst, hat die Mutter den ersten Teil ihres Lebens in Frankreich verbracht; sie wurde in Frankreich, in Paris geboren. Deshalb wurde sie natürlich oft darauf hingewiesen, dass sie Französin, Europäerin war. Dagegen hat sie aber immer protestiert und gesagt: „Ich bin keine Europäerin, ich bin keine Französin.“ Ihre Familie kam in der Tat aus Ägypten. Ihre Eltern, ihr Vater und ihre Mutter kamen gerade ein Jahr, bevor sie geboren wurde, nach Frankreich, nur ein Jahr vorher. Und in Ägypten, so scheint es, gehörte ihre Familie zu einer sehr alten ägyptischen Familie – vielleicht sogar zu einer königlichen Familie Ägyptens, den Pharaonen. Deshalb ist sie nicht europäischer oder französischer Abstammung, obschon sie erzogen wurde, als wäre es so. Genau genommen würde sie zum Mittleren Osten gehören, das heißt, dem Teil, der den Osten Europas und den Westen Asiens verbindet. Das bedeutet die Vereinigung von Europa und Asien, beide in Einklang gebracht, und es reflektiert den Charakter von Mutters Leben und dessen Bestimmung.
Wie ich sagte, verbrachte sie den ersten Teil ihres Lebens in Frankreich. Aber warum Frankreich? In dieser Wahl liegt ein Sinn. Wir kennen jetzt die Bedeutung, die fundamentale Bedeutung ihres Lebens, ihrer Mission und ihres Wirkens. Sie kam, um ein neues Licht zu bringen. Sie wollte eine neue Welt, nicht die alte Welt mit ihrer alten Kultur, sondern eine neue Welt, eine neue menschliche Spezies. Sie brachte das neue Licht mit sich, um den Menschen und die Welt neu zu schaffen und umzuformen. Was war das für eine Beziehung zwischen dem neuen Menschen und Frankreich? Um das neue Licht kommen und sich manifestieren zu lassen, muss man es zuerst in seinem Mental empfangen. Das bedeutet, dass man es als neues Licht sehen und erkennen und darum bitten muss. Und das Mental des Menschen ist dazu am besten geeignet. Ihr könnt euch an die Anfangszeile des Dhammapada erinnern, die den Inbegriff von Buddhas Lehre enthält: „Manopubbangama dhamma“: Das Mental ist die beste aller menschlichen Funktionen. Das Mental übertrifft alles, umfasst alles. Wenn nun das Licht herabkommt und einfließt, berührt es zuerst den Kopf, das heißt das Mental: Man sieht es und ist sich seiner bewusst. Frankreich repräsentiert heute am besten diesen mentalen Geist der Menschheit, das Erblühen ihrer Kultur und Zivilisation. Sie wurde dort geboren, damit der am weitesten entwickelte mentale Geist der Menschheit das Licht durch sie empfangen kann. Sie verbrachte ihr Leben dort in der Gesellschaft der Elite, den kultiviertesten Menschen ihrer Zeit, Wissenschaftlern, Künstlern, Dichtern, alle von höchstem und gebildetsten Format. Sie war dort, damit sie durch ihren Kontakt, ihre Gesellschaft das neue Licht in sie hineinbringen konnte. Mit diesem Ziel vor Augen trat sie einer Gesellschaft bei, eher einer Gruppe, die Le cosmique genannt wurde. „Kosmisch“ bedeutet: die ganze Welt. Mit anderen Worten: Was sie tat, was sie gab, war für die ganze Welt, für alle Menschen, für den Osten und den Westen, für jedermann. Es bedeutet auch: ein kosmisches oder weltumfassendes Bewusstsein. Sie schuf einen neuen Typus mentaler Welt, um durch die höchste mentale Entwicklung ein noch umfassenderes Mental zu erzielen – jenseits des individuellen egoistischen Mentals.
Wie ich gesagt hatte, dem Mental, dem Kopf fällt es am leichtesten, das neue Licht zu empfangen. Vielleicht erinnert ihr euch in diesem Zusammenhang an Sri Aurobindos Gedicht „Das Goldene Licht“: wie es von oben kommt und zuerst in den Kopf, das Gehirn einfließt. Es erleuchtet eure Gedanken, entwickelt euer Verstehen, weitet es, vertieft und schärft es. Aber Verstehen ist nicht genug, ihr müsst es lieben, nur dann ist es wirklich euer Eigen. So betritt das goldene Licht euer Herz. Dann setzt es sich weiter nach unten fort auf eine konkretere und aktivere Ausdrucksform hin; es dringt in den vitalen Bereich, wie wir ihn nennen, ein. Zuletzt strömt es in eure Füße. Das bedeutet, es ergreift eure körperlichen Glieder; es wird in eurem Körper konkret materiell und gegenwärtig, wie konsolidiert: Es gestaltet den schönen Körper. Die Mutter bringt auf diese Weise das Licht in den Kopf der Menschheit, in die höchste Ebene ihres Bewusstseins. Und dieses Werk der Initiation, dikshā, in das Göttliche Leben begann in Frankreich.
Von Frankreich aus ging sie für die nächste Stufe ihres Wirkens nach Japan. In Japan betrat sie den Fernen Osten. Sie verbrachte fünf Jahre, fünf lange Jahre in jenem Land. Japan ist das Land der Zen-Meditation, eines speziellen Weges, um in ein inneres Bewusstsein einzutreten, – kein rationales mentales Bewusstsein, sondern ein Blick nach innen in eine verborgene und sensitivere Region. Die Japaner zeigen als Nation tatsächlich eine sehr feinfühlige Vitalität, eine künstlerische Vitalität, die im Leben und in der Lebensart nach Ordnung und Harmonie strebt. Damit sich das goldene Licht in der physischen Welt manifestieren und wirken, sozusagen über einen Körper verfügen kann, ist eine Vitalität dieser Art notwendig, um es zu erlangen und zu halten. Die japanischen Ringer sind wohlbekannt für ihre vitale Stärke, ihre selbstbeherrschte Kraft. Gewöhnlich haben sie (fast alle von ihnen, ihr müsst es bemerkt haben, wenigstens auf den Bildern) einen dicken Bauch, und dieser ist nach ihrem Glauben der Speicher vitaler Kraft. Das bedeutet nicht, dass ich euch rate, einen dicken Wanst zu entwickeln, im Gegenteil. Aber sogar bei körperlichen Aktivitäten ist vitale Stärke nötiger als bloße physische Kraft.
Ja, die Japaner besitzen ein Vital, das stark, kontrolliert, geordnet und sensibel ist. Erinnert euch an ein oder zwei Gebete der Mutter in ihren „Gebeten und Meditationen“. Sie spricht von der Kirschblüte, die das Sinnbild des japanischen künstlerischen Empfindens ist, des Gefühls für Schönheit, für ein gereinigtes Sinnesempfinden: nicht ein raues, grobes und brutales (niederes) Vital, sondern ein feines, wohltuend inniges Gefühl und ein friedliches Glück. Das ist es, was die Kirschblüte symbolisiert. Die Mutter beschreibt auch eine ihrer Visionen, – es war ein schönes Bild, eine japanische Mutter und ihr Kind. Es war ein Bild des neuen Kindes, das in der Menschheit geboren wurde. Eine neue Welt ist so im Land der Kirschblüte eingeläutet worden, eine neue vitale Welt, für die ganze Welt.
Die Mutter ist schöpferisches Bewusstsein: Wo immer sie auch ist, wo immer sie herbeigerufen wird, setzt sie einen Schöpfungsprozess in Gang und erschafft eine neue Welt und, den Notwendigkeiten von Zeit und Ort entsprechend, eine neue Dimension von Sein und Bewusstsein. Es ist eine ganze Welt, die sie erschafft, und ihre Schöpfung dauert fort, denn sie ist eine weitere Errungenschaft in der menschlichen Evolution. Zu diesem Zweck braucht die ordentliche, starke und friedliche vitale Welt, von der wir gesprochen haben, einen fähigen Körper, um sie zu unterstützen und zu manifestieren. Das goldene Licht muss in die Füße herabkommen. Und dies war das Werk, das sie hier tat, und zu diesem Zweck hat sie den Ashram aufgebaut. Ihr alle wisst, dass sie besonderen Wert auf den Sportunterricht legte, um den Körper und die Sinne darauf vorzubereiten, das goldene Licht zu empfangen. Sie sagte immer, dass Körpererziehung uns die Basis für das neue Bewusstsein, das neue Licht gibt. Wir müssen einen starken Körper, einen schönen Körper haben, einen Körper, der ausdauernd ist: denn das neue Licht ist machtvoll, es ist nicht nur Licht, es ist Kraft. Man muss fähig sein, es zu ertragen und seine Forderungen zu erfüllen. Sie kam in der Tat hierher, um diesem Göttlichen Licht eine Gestalt, eine konkrete und physische Form, einen irdischen Körper zu geben.
Nun ist der schöne Körper nicht an sich ein Ziel und eine Erfüllung; um ihn zu erlangen, muss man ein schönes Vital haben. Nicht nur das: Für eine Erfüllung von Körper und Vital muss man ein schönes Mental haben. Die Körpererziehung, die die Mutter hier für uns arrangiert hat, soll uns auf den schönen Körper vorbereiten. Und die Schule, die sie errichtet hat, hat die Kultivierung des Mentals zum Ziel. Die Kultivierung des Mentals bedeutet aber nicht nur, ihn mit Informationen über vielerlei Dinge zu versorgen, das Bücherstudium. Es bedeutet auch die Reinigung und Klärung des Mentals, des mentalen Materials selbst, eine Hebung des Bewusstseins, damit es das Licht suchen und erkennen kann.
Ich habe gesagt, dass ihr das neue Licht zuerst durch den Kopf empfangen müsst, aber auch durch das Herz, und dann dynamisch durch eure vitale Energie. Ihr müsst nicht nur das Licht sehen und erkennen, sondern es auch hingebungsvoll lieben. Und hier kommt die zentrale Arbeit der Mutter, ihre besondere Gabe, ihre Gnade zu uns. Wenn ihr etwas liebt, liebt ihr, so sagt man, mit dem Herzen. Aber es gibt viele Arten von Liebe und ein Herz mitten im Herzen. Wirkliche Liebe, die Liebe, die göttlich ist, liegt in diesem inneren Herzen, welches eure Seele ist, das wahre Wesen oder die wahre Person in euch. Und die Seele, die sich zeigt, nach vorne kommt, wie wir sagen, ist die besondere Gnade der Mutter hier, ihr Geschenk an euch alle, an jeden von euch hier. Sie hat euch eure Seele gegeben. Ich habe oft gesagt, dass es hier unser aller besonderes Privileg ist, euer aller Privileg, dieses Wesen, dieses innere Wesen, diese vertraute Person in euch zu tragen, das Göttliche Kind, das ihr seid. Es ist dies, das eure göttliche Persönlichkeit aufbaut, es ist dies, das euch letzten Endes ein schönes Mental, ein schönes Vital und einen schönen Körper geben wird – alles, was ihr braucht, alles, was vollkommen und makellos in eurem Leben hier in dieser Welt ist.
Vielleicht erinnert ihr euch, viele von euch, an die berühmte Zeile in „Savitri“, ihr müsst sie aus Mutters eigenem Mund gehört haben:
Erbaut ist der goldene Turm, geboren ist das Flammen-Kind.
Sie hat diesen Turm neuen Lebens errichtet, und das Kind ist hier, das goldene Kind. Dieses goldene Kind ist jeder einzelne von euch. Ihr müsst es finden, es erkennen: Dies ist das Ziel eures Lebens, der Auftrag und die Erfüllung von allem, was ihr auf Erden tun und sein wollt. Einige von euch müssen die Gegenwart dieses Kindes in sich gespürt haben. Einige mögen es sogar als das Göttliche Kind in sich gesehen haben. Diese Dinge, – sie werden Erscheinungen genannt, – ereignen sich normalerweise in Träumen. Ich weiß wenigstens von einigen, die herkamen, die es gesehen und mir von ihrem wundersamen Erlebnis berichtet haben. Diese Möglichkeit besteht für alle, und wenn ihr es vielleicht seht, müsst ihr es erkennen, halten, es mit aller Liebe und Zuneigung festhalten. Die Mutter ist immer noch lebendig und aktiv unter uns, und ihre Gegenwart ist noch hier, sogar konkret, denn jeder von euch trägt das Göttliche Kind in sich.
Ich schließe mit einem Gebet, das ich vor einiger Zeit im Namen der kleinen Kinder unseres Playground an die Mutter gerichtet habe:
Süße Mutter, Deine Playground-Kinder sind Engel. Sie sind nicht himmlisch oder göttlich geworden, aber sie sind Engel, irdische Engel. Behalte sie immer in Deinem Blick, wiege sie in Deinem liebenden Bewusstsein.
Das war das Gebet, das ich euretwegen an die Mutter gerichtet habe, und ich bin sicher, Mutter hat „Ja“ geantwortet.
Veröffentlicht im November 1973

Kapitel 9
Sie ist immer hier
Gnade ist das Göttliche in irdischer und menschlicher Form. Und das ist unsere Mutter.

Sie ist immer hier in jenem Bereich der Erdatmosphäre, von dem aus sie auch früher immer wirkte, – heute genauso wie zu der Zeit, als sie in unserer Mitte war. Sie ist auf die gleiche Weise für uns zugänglich. Wir müssen nur verstehen, wie wir uns ihr nähern und uns auf sie einstimmen können.

Sie ist für unser Gebet auf die gleiche Weise erreichbar, sogar für unser noch so unreifes und törichtes Gebet, – wenn es echt, spontan, einfach und aufrichtig und mit der Unschuld eines Kindes gesprochen ist. Sie hat sogar ein offenes Ohr für unseren Unsinn.

Mutters Antwort auf ein Gebet:
„Ich bin immer bei dir. Ich werde dich weder in Wohlergehen noch in Not verlassen. Sogar wenn du untergehst, bin ich bei dir, – ich gehe mit dir unter. Ich stehe nicht nur am Ufer und sehe dir von weitem zu. Ich gehe mit dir unter. Ich bin in dir: Denn ich bin du.“
Veröffentlicht in 1977

Kapitel 10
Eine Vision
Die Mutter sagt:
„Schau nur. Sie mich an. Ich bin hier, wiedergekommen in meinem neuen Körper – göttlich, transformiert und wunderbar. Und ich bin dieselbe Mutter, immer noch menschlich. Mache dir keine Sorgen. Sei weder um dein eigenes Selbst, deinen Fortschritt und deine Verwirklichung, noch um andere besorgt. Ich bin hier, schau mich an, schau in mich hinein, komm in mich hinein, verschmelze mit meinem Wesen, verliere dich in meiner Liebe, mit deiner Liebe. Du wirst alle Probleme gelöst und alles getan sehen. Vergiss alles andere, vergiss die Welt. Erinnere dich nur an mich, sei eins mit mir, mit meiner Liebe…“1
Veröffentlicht im Februar 1978

1 Man wird an Rabindranath Tagores Zeilen erinnert:
Sehet, vom Inneren unseres Herzens, O Mutter, seid Ihr gekommen in dieser Eurer Wunder-Gestalt.
Ich schau und schaue, und meine Augen wenden sich nicht ab.
Sehet! Das Tor Eures goldenen Tempels ist weit geöffnet, O Mutter!
Welch` eine Wunder-Gestalt erblicke ich vor mir!
Ich schau und schaue, und meine Augen wenden sich nicht ab.
Teil 2 DER ASHRAM

Eine Kraft, eine Gegenwart ist nahe zu uns auf die Erde gekommen und formt die irdische Substanz definitiv zu etwas um, nach dem diese sich immer gesehnt, es aber bis jetzt nie in einem bemerkenswerten Maß erreicht hat. Heute liegt diese Möglichkeit als Tatsache vor uns.
Wir haben uns hier versammelt, so dass eine vereinte Anstrengung aller Individuen, die ihr Scherflein an Aufrichtigkeit und Effizienz beitragen, eine weite und sichere Öffnung für die neue Kraft und Gegenwart schaffen kann, damit diese voll zur Geltung kommt und sich im materiellen Leben hier unten etabliert.
– Nolini Kanta Gupta

Kapitel 1
Ein Überblick über unser Ashram-Leben
In seinen ersten Tagen, ziemlich am Anfang, wir können jetzt sagen vor langer, langer Zeit, denn es ist nun fast ein halbes Jahrhundert her, entwickelte sich der Ashram gleich von Beginn an ziemlich spontan und zwangsläufig zu einem Gemeinschaftsleben. Zuallererst hörten die Personen auf, irgendwelchen persönlichen Besitz zu haben. Was immer sie besaßen, gehörte nicht ihnen selbst, sondern der Gruppe oder besser dem Meister der Gruppe, dem Guru, der Mutter und Sri Aurobindo. Was immer sie hatten, betrachteten sie als von der Mutter nur für den Gebrauch Erhaltenes. Sie waren keine Eigner oder Besitzer irgendwelcher Dinge: Um alles, was sie brauchten oder meinten zu brauchen, mussten sie fragen und die Mutter entschied, ob sie es haben sollten oder nicht. Es war ein frohes Hingeben der Besitztümer und ein dankbares Annehmen der Gaben. Man kann sich noch an die schöne Regung erinnern, die alle antrieb, welche das Glück hatten, zu der Zeit dort zu sein. Man wird an eine gleichartige Regung, obschon in einem anderen Bereich, erinnert, die von Tagore in seinen bekannten Zeilen beschrieben wurde:
Es gab ein Geraufe und Gerangel,
Eine große Eile, wer denn der Erste wäre
Sein Leben wegzuwerfen.
Nun, das ist ein Bild, über das man nachdenken sollte. Hier ist jemand, der seinen Koffer, seine Reisetasche oder Portemonnaie bei sich trägt und es der Mutter gibt, alle seine Besitztümer vor ihr offenlegt und sie als ihre Gabe von ihr zurückbekommt. Sie hat nichts als überflüssig oder unnötig weggenommen! Es war uns überlassen zu entscheiden, was wirklich notwendig, und was ein Luxus war. Wir mussten aufrichtig sein. Sie war die Großzügigkeit selbst.
Das Leben jedes Einzelnen war direkt mit der Mutter verbunden. Die Beziehung zwischen Individuen gründete auf der Beziehung, die jeder zur Mutter hatte. Sie hing nicht vom eigenen Mögen oder Nicht-Mögen, eigener Anziehung oder Abneigung ab, sondern wurde durch die Erfordernisse des von der Mutter arrangierten Gemeinschaftslebens bedingt.
Aus zwei Gründen war so ein Leben möglich: einem physischen und einem psychologischen Grund. Der physische Grund war, dass die Anzahl der Leute, die den Ashram bildeten, sehr klein war. Statt der zweitausend oder mehr, die wir heute sind, gab es zu jener Zeit (der Zeit, von der ich spreche) kaum fünfzig. Und es gab keine Kinder. Und von den Männern und Frauen wurden nur jene zugelassen, die einen wirklichen Ruf zum spirituellen Leben hatten; nur sie wurden von der Mutter und Sri Aurobindo ausgewählt und durften hier leben. Und hier ist der natürliche psychologische Grund: es war eine ausgewählte Gruppe, die schon ein inneres Leben und spirituelles Streben hatte, deshalb waren sie auf ein Leben der Überantwortung und Selbst-Hingabe, des Gehorsams und der Treue zum Guru vorbereitet. Sie kamen nicht ahnungslos, ohne etwas von den grundlegenden Elementen des spirituellen Lebens zu wissen.
Die Arbeit, die Mutter dann tun konnte und tat, hat sie selbst beschrieben und uns erklärt. Es war die Schaffung einer Welt – eines Bereichs wenigstens – von höherem Bewusstsein, in dem jeder mit einem genügend entwickelten Seelen-Wesen, der daran teilnahm, seinen eigenen Platz hatte. Dieses Wesen konnte sie mit einem Wesen der höheren Ebene verbinden oder vernetzen – einem Gegenüber, einer Über-Seele sozusagen für jede Seele. Es war eine Art Herabkunft, eine feinstoffliche Inkarnation der Götter auf der gehobenen und verfeinerten menschlichen Ebene, die die Mutter ermöglichte oder bewirkte.
Wir können anmerken, dass der Boden schon vorbereitet war durch die Herabkunft am 24. November 1926, die Herabkunft des Obermentals oder Krishna-Bewusstseins in Sri Aurobindos Körper-Bewusstsein, welches sich von hier in die allgemeine Erdatmosphäre ausbreitete und ihr natürlicher und dauernder Besitz wurde.
Aber an einem Punkt machte Sri Aurobindo dann eine Beobachtung, die ein Halt! bedeutete. Die Mutter berichtet uns die Geschichte auf eine lustige Art. Eines Tages sagte Sri Aurobindo zur Mutter: „Was Du tust, ist sehr schön und sehr großartig. Es wird Dir einen Namen verschaffen und Dich berühmt machen, Du wirst weltberühmt werden und Deine Arbeit ein Wunderwerk. Es wird ein großer Erfolg werden.“ Nun, das hat gereicht. Mutter ließ die ganze Sache fallen. Die neue Schöpfung verschwand gewissermaßen in einem Moment, es war ein Pralaya. Die Götter zogen sich zurück, wir kamen mit einem Bums wieder auf die Erde zurück – herunter auf die Erde, Erde zu Erde. Wir sind immer noch dort und krabbeln – ich hoffe vorwärts – so gut wir können.
Dieser Versuch der Mutter, eine leuchtende Welt auf einer höheren Sphäre des Mentals zu erschaffen, konnte nicht gänzlich realisiert werden, weil die Grundlagen nicht richtig vorbereitet, die Fundamente nicht stabil waren. Jedes höhere Bauwerk des Mentals und des Obermentals muss auf dem vitalen Wesen und physischen Leben des Menschen aufgebaut sein. Die neue Schöpfung ließ diese tatsächlichen Grundlagen außer Acht, deshalb mussten wir für den Moment die höhere Verwirklichung vergessen und wieder in diese dunkleren Regionen herunterkommen und hier eine gründliche Reinigung vornehmen. Die Bereiche des vitalen und physischen Bewusstseins sind, wie wir alle wissen, voller menschlicher Verfehlungen und gefährlicher Komplikationen. Man musste die Himmel verlassen, auf die niederen Ebenen herunterkommen und die wesentlichen Probleme hier angehen, deren Lösung allein ein starkes Fundament für die letztendliche Verwirklichung, die höchste Transformation legen konnte. Man musste der ganzen Wirklichkeit hier ins Auge sehen und sie meistern, bevor man an einen himmlischen Aufstieg denken konnte. So wurden wir alle wieder gewöhnliche Menschen mit gewöhnlichen Schwächen und vielleicht einem Funken Aspiration. Dies war die uns allen gestellte Aufgabe – uns durchzukämpfen und hier unten siegreich zu sein. Der Schauplatz änderte sich völlig. Ein Mitsommernachtstraum wandelte sich fast zu einer düsteren Hamlet-Tragödie.
Das erste Anzeichen der Rückkehr, der Wiederaufnahme des Lebens, wie es ist, war eine Wiederbehauptung des Individuums, der Freiheit des Einzelnen. Wegen der zunehmenden Mitgliederzahl und des Einmarsches von Kindern, konnte die frühere Gestalt des Ashrams nicht länger bestehen bleiben. Die bereitwillige Hingabe der Persönlichkeit ist eine Lektion, die erarbeitet und gelernt werden muss: Sie ist nicht einfach ein Geschenk Gottes für die Vielen. Die Vielen müssen wachsen, Stufe um Stufe, mit Mühe und durch Schwierigkeiten, und langsam in die Mysterien der höheren Verwirklichung von Überantwortung und Selbst-Hingabe geleitet werden. Und hierfür ist Unabhängigkeit, Freiheit der erste Schritt. Aber wenn das Herabsteigen erst einmal beginnt, lässt es kein Anhalten zu; es wird zu einem Hinabgleiten, einem fortdauernden Sinkflug, bis du den untersten Felsengrund des Tals der Tränen erreichst. Der römische Dichter sprach über den leichten Abstieg von den Klippen zum Fluss hinunter: Facilis descensus Averni. Leicht ist der Abstieg zum Avernus. (Vergil: Aeneas, II, 126)
Die angestrebte Verwirklichung verlangt einen umfassenden Wandel, eine integrale Transformation; sie gibt sich nicht mit einem Teilerfolg, einer Verwirklichung auf nur einer Ebene, in nur einem Teil des Wesens zufrieden. Deshalb gibt es ein globales Beben. Nichts darf unbemerkt in seinem alten Zustand verbleiben, alle Dinge müssen hervorkommen und sich dem Licht aussetzen. Deshalb die ganze Dunkelheit. Alle Unreinheiten, Unvollkommenheiten und Widerwärtigkeiten zeigen sich, – die Graswurzeln, wie sie es nennen, die ausgerissen, und der Boden, der gründlich gepflügt und für die neue Saat vorbereitet werden muss. Es ist eine schwierige Zeit. Die heldenhafte Seele muss sie ertragen und durchhalten, wissen, was geschieht und mutig vorwärtsgehen.
Ich sprach vom Gemeinschaftsideal, das anfangs bei uns galt; es brach in Stücke. Individualismus hob seinen schauerlichen Kopf mit allen unvermeidlichen Konsequenzen: Egoismus herrschte unkontrolliert; statt zu Unterordnung, Hingabe und Gehorsam führte Freiraum zu kompletter Ungebundenheit, Freiheit zu Freibrief.
Wie den Individuen wurde Solidargemeinschaften (in puncto Arbeit und Unternehmen) die Freiheit gegeben, unabhängig zu wachsen oder auch nicht zu wachsen. Jede Gruppe oder Abteilung, jedes Unternehmen versuchte, sich nur auf sich selbst zu stützen, seine eigene persönliche Ausstattung zu beschaffen und seine Ressourcen zu sichern. Ihre Gewinne gehörten ihnen, und natürlich konnten die Verluste nur größer sein als die Gewinne. Der wirkliche Gewinn war vielleicht die Erfahrung. Die Erfahrung sollte dazu dienen, das Bewusstsein zu entwickeln, und man hofft, dass das Bewusstsein einen Gewinn davongetragen hat.
Die Freiheit, die Dezentralisierung oder das Abrücken von Kontrolle durch das Zentrum ging so weit, dass sie fast einen wirklichen Bruch zwischen den Gruppen und dem Zentrum verursachten; dieselbe Tendenz können wir heute übrigens im Spiel der Weltpolitik beobachten.
Die Glieder erklärten ihre Unabhängigkeit und arbeiteten und kämpften um diese Unabhängigkeit, aber das konnte nur auf Kosten des Herzens gehen. Das Golgatha des Göttlichen lag genau hier: Es beruht auf diesem Gefühl der Trennung und einer individuellen, exklusiven Eigenexistenz in seinen Kindern, dem Spross seines eigenen Körpers. Die Teile des kosmischen Körpers des Göttlichen in der Unwissenheit sind tatsächlich unwissend, und die Kraft, die sie treibt, zusammen zu sein, ist offenbar die aufgezwungene Fessel der Unwissenheit. Äußerlich scheinen sie auf eine unvermeidliche Desintegration und ein unvermeidliches Chaos hinzudrängen.
Aber in Wirklichkeit beherbergt diese Bewegung der Streuung aus Schranken hinaus, einer Flucht vom Zentrum fort, eine umgekehrte Bewegung in sich, eine selbst-bewusste Wiederannäherung an das eine zentrale Bewusstsein, das in allen und gleichzeitig alles ist. Dies ist eine Zwischenstufe, auf der die Mängel und Unvollkommenheiten der Schöpfung, die falschen Kräfte, welche der ursprünglichen Unwissenheit und Trennung entsprangen und zu ihr gehörten, aufgespürt und bearbeitet werden mussten. Sie durften nicht ewig schlummern. Deswegen erhoben und zeigten sie sich, damit das Licht sich um sie kümmert und sie schluckt.
Man erinnert sich an die Legende des vedischen Rishis Agastya und seiner Gemahlin, die einst versuchten, eine neue und bessere Schöpfung ins Leben zu rufen. Sie unternahmen eine gewaltige übermenschliche Anstrengung, um die Wurzeln des Bösen auf der Erde zu entdecken: Sie gruben sie um, öffneten ihre Eingeweide, gingen tiefer und tiefer durch Schichten um Schichten sich widersetzender Dunkelheit, bis sie den eigentlichen Urgrund der Nacht erreichten. Dann brachten sie mit sich ein Licht dort hinein, das eine Umkehrung des Bewusstseins hervorrufen und Dunkelheit in strahlenden Glanz verwandeln konnte.
Die niedere Ebene des Vitals und Physischen ist eine Masse unwissender Natur (Prakriti), alles bewegt sich hilflos und mechanisch umeinander, miteinander unauflösbar an ein erbarmungsloses Schicksal gebunden. Dieser Bereich steht auf dem Felsen äußersten Nichtbewusstseins, welches die eigentliche Basis und den Stoff dieser Ebene bildet. Bewusstsein, das bewusste Wesen, muss herabkommen und dort eindringen, den harten Block träger Materie zerbrechen, seine Myriaden verschiedener Teilchen zerschlagen, zerstreuen und wegschleudern und sie in Partikel aus Licht und Bewusstsein verwandeln. Diese ungebundenen Funken, die Erstgeborenen des Bewusstseins, wurden anfangs unberechenbare, unkontrollierte bewusste Teilchen. Sie waren frei, kämpften aber gegeneinander, jedes in seinem zentralistischen Bewusstsein. Doch dies ist der Weg zu einem reineren, höheren, weiteren und integrierenden Bewusstsein. Während das Bewusstsein arbeitet und sich entwickelt, werden die Schlacken, der Grieß weggeblasen, und es wirkt auf ein klareres Licht und ein harmonisches Zusammenweben aller Teilelemente hin.
Wir befinden uns so in einer Übergangsphase; es ist eine Übergangsherrschaft mit vielen Schwierigkeiten, die aber gleichzeitig große Möglichkeiten darstellen. Dieser Kreuzweg ist nicht bloß eine Passage voller Schmerz und Leid; er ist ein Fegefeuer, nämlich eine Zone, ein Prozess, in dem sich das Wesen und Bewusstsein reinigt. Es streift seine Schuppen und seine alte Haut ab und wird im Laufe der Zeit in einem verjüngten Körper und einer harmonisierten Fassung hervorkommen. Das verlorene Paradies wird eines Tages wiedererlangt werden und das vervollkommnete zurückgewonnene Paradies sein fester Besitz sein.
Veröffentlicht im November 1973
