Kapitel 1

An der Schwelle

1

Wenn er auffliegt aus den Wassern

hebt der Schwan eins seiner Beine nicht;

falls er vielleicht auch dieses heben würde,

dann gäbe es weder Heute noch Morgen,

noch würden da sein weder Tag noch Nacht,

auch keine Morgendämmerung gäbe es mehr.

Atharva Veda 11.4.21

So sprach der vedische Rishi.

Als die Mutter sich physisch von dieser Erde zurückzog, nahmen wir gleichermaßen an, dass sie es nur mit einem Fuß tun würde; den anderen Fuß ließ sie hier unten eingepflanzt zu unserer Verehrung zurück. Nun, war das nur eine Vermutung oder haben sich die Dinge seitdem geändert?

Wir wissen, hier auf dieser Erde tobte ein Kampf – und tobt immer noch – zwischen den Göttern und Asuras mit Menschen als ihren Agenten und Instrumenten. Der Kampf wird das Schicksal der Erde und der Menschheit bestimmen. Mutter war hier die Anführerin der göttlichen Armee. Nun sind menschliche Wesen eine sehr unsichere Größe. Sie wissen selbst nicht, auf welcher Seite sie sich bewegen. Einige mögen es vielleicht wissen, aber das scheint nach der aktuellen Einschätzung der Lage nicht viel zu zählen.

Ja, es ist leider so, dass der Mensch es nicht weiß, und doch hängt so viel, wenn nicht alles, von ihm ab. Denn der Mensch, wie er jetzt ist, ist so weit von Göttlichkeit entfernt und den Asuras so nah, dass der Kampf zwischen Göttern und Asuras auf der Erde wie ein ungleiches Spiel erscheint. Der Mensch ist in seiner momentanen Natur asurisch; durch Streben versucht er gottgefällig zu sein, aber es scheint, dass er jetzt mit seinem Bemühen außer Atem gekommen und in seine normale asurische Natur zurückgefallen ist.

Der Mensch beherbergt in sich die individualisierte Gottheit, das persönliche Göttliche: Die Möglichkeit der Inkarnierung des Göttlichen liegt in ihm allein. Daher der Kampf der Götter und Asuras um den Besitz des menschlichen Gefäßes.

Es war Mutters Plan, das Göttliche in den trüben Boden der gewöhnlichen Menschheit einzupflanzen, ihn vom Unrat zu befreien und mit dem himmlischen Atem zu erfüllen. Wenn das nicht geschieht, dann wird sie keine andere Wahl haben, als den Asuras - in welchem Lager oder welcher Gestalt sie auch immer auftauchen - das Feld ganz zu überlassen, damit sie den Kampf zwischen sich ausmachen und sich schließlich dabei selbst zerstören wie einst die Yadavas nach Krishnas Abschied. Einige Asuras können vorgeben göttlich zu sein, eben um die bestimmende Kraft des menschlichen Wesens, welches vielleicht noch eine Voreingenommenheit oder Vorliebe für die göttlichen Dinge hat, quasi gefangen zu nehmen. Doch die Wahrheit wird zutage treten, und die Heuchler werden gezwungen sein, ihre Natur zu offenbaren.

Nur dann, als Folge der Selbstzerstörung der Asuras, kann diese Erde frei und offen für das Kommen der neuen Art von Wesen sein, die göttlich geboren und nicht erst nach ihrer Geburt göttlich gemacht wurden. Ob irgendwelche Reste der menschlichen Spezies übrigbleiben, und in welchem Zustand, und ob irgendein Teil von ihr in die neue Ordnung eingebracht und integriert werden kann, wird ein Geheimnis bleiben, bis die Gegebenheiten es enthüllen.

Aber ich sollte es nicht dabei belassen, denn es gibt immer Hoffnung und Fröhlichkeit, neue Ausblicke. Der Tunnel ist irgendwann zu Ende, und an seinem Ende ist immer das Licht. Der Herr sagt zwar: Ich bin die Zeit, der Zerstörer der Welten – kālo’smi lokakshayakrit – aber er teilt auch auf unmissverständliche Weise sein Versprechen mit durch das weithallende Signal seines pāncajanya, des Göttlichen Muschelhorns:

Du, der du in diese vergängliche und unglückliche Welt gekommen bist, liebe Mich und wende dich Mir zu… Suche Zuflucht in Mir allein. Ich werde dich von aller Sünde und allem Übel befreien. Anityam asukham lokam imam prāpya bhajasva mām. …māmekam sharanam vraja aham tvā sarvapāpebhyo mokshayiṣyāmi mā shucaḥ. (Gita 9.33; 18.66)

2

Ein Gott ist ein einziges ungeteiltes Wesen, genauso wie ein Asura ein einziges ungeteiltes Wesen ist. Aber der Mensch ist ein geteiltes zweifaches Wesen; auf einer Seite ist er eine Seele, auf der anderen Seite ist er hauptsächlich eine körperliche Funktionseinheit. Aber seine Seele ist den Göttern verwandt, durch sein äußeres Wesen steht er den Asuras nahe. Der Mensch ist deshalb das Bindeglied zwischen Himmel und Erde. Er ist der Zweimalgeborene, dvija: Er ist in den Schlamm der Erde gepflanzt – er hat sprichwörtlich „keine weiße Weste“ – und sein Haupt ragt in die Höhe, es badet im Licht der Sonne. Er ist aus der Erde hervorgegangen, ein Wesen der Evolution; er ist auch einer, der in die Erde eingetaucht ist, eine Herabkunft vom Himmel auf die Erde. Ein Teil von ihm ist gottgleich, der andere asurisch. Als das Göttliche ist er Brahman, als der Asura Aham.

So hat der Mensch einen zentralen Platz im universellen Plan. Über ihm sind die Götter in der Region des höheren Mentals und Herzens beheimatet; unter ihm auf der Erde regieren die Asuras, die Kräfte des niederen Mentals und Vitals. Dazwischen steht der Mensch, das intermediäre Wesen.

Die Götter und Asuras liegen in ewigem Kampf um die Herrschaft über die drei Welten, und es ist seltsam, dass beide die Hilfe und Unterstützung des Menschen suchen. Wir kennen Legenden, in denen menschliche Wesen, Könige und Krieger, von den Göttern eingeladen werden, im Kampf auf ihre Seite zu wechseln. Wir haben von den Raghus gehört, deren Kutschen von der Erde direkt in den Himmel auffuhren, um den Göttern zu Hilfe zu eilen – ānākam ratham vartamanām (Kalidasa). Die Asuras haben aber auf natürliche Weise auf den Menschen wegen seiner irdischen Konstitution einen größeren Einfluss. Denn naturgemäß wird der Mensch hauptsächlich von seinem äußeren Mental und Vital beherrscht; die Schwerkraft der Erde beeinflusst ihn fast völlig. Die Welt und die Menschen sind in ihrem äußeren Leben und Handeln die Lehen und die Domäne des Asuras. Sie müssen zurückerobert und umgeformt werden. Die Möglichkeit dazu liegt in der Tatsache, dass es mit den Gravitationskräften zugleich Kräfte der Regeneration und Erhöhung gibt; nur scheinen sie in ihrem Wirken langsam und unter den gegenwärtigen Umständen nicht effektiv genug zu sein.

Aber das Schicksal des Menschen ist nicht auf die Sphäre dieser dreifachen Welt begrenzt. Er hat ein höheres Schicksal, welches die niederen Welten übersteigt. Es wird irgendwo tief in seinem Inneren ausgearbeitet. Er hat ein Schicksal, um das ihn sogar die Götter beneiden, denn er trägt den Wohnsitz des Göttlichen in sich. Es ist Gott selber, der in ihn eingepflanzt ist, in der Höhle seines Herzens, – es ist seine Seele.

Ich möchte es hierbei belassen. Wir sind an der Tür des höchsten Mysteriums angelangt. Dort ist die Grotte, in der das große Wesen installiert ist – guhāhitam gahvareshtham, – der höchste Schlüssel zur Klärung und Lösung aller Probleme und zum Erlangen göttlicher Vollendung. Es liegt an euch, dort einzutreten und selbst den endgültigen Zuspruch zu erhalten. Trotzdem erinnere ich mich an den großen Dichter und Seher Dante, der von Virgil zu dem furchtbaren Tor geführt wurde, in das mit flammenden Buchstaben die schreckliche, herzzerreißende Zeile eingraviert war:

Ihr, die ihr hier eintretet, gebet alle Hoffnung auf.

Es ist das Tor zur Hölle. Aber ich bringe euch zu dem leuchtenden Tor, auf dem in goldenen und schimmernden Lettern die herrliche Zeile geschrieben steht:

Ihr, die ihr hier eintretet, haltet all eure Hoffnung hoch.

3

Es gibt zwei Ebenen – die körperliche Ebene des Handelns und die feinstoffliche Ebene des Fühlens (bhāva). Es ist nicht so, dass das Physische der einzige reale Bereich ist und das Feinstoffliche unwirklich oder weniger wirklich. Der feinstoffliche Bereich kann ebenso real, sogar wirklicher und konkreter, gewissermaßen sogar körperlicher sein. Ein physischer Schlag ist schmerzhaft, aber König Lear wurde durch einen subtilen Schlag verrückt, den Schlag der Undankbarkeit, der ihn stärker traf als die Peitschenhiebe heulender wilder Winde. Man mag die Freude körperlicher Umarmung vergessen, aber es gibt eine Freude absoluter Liebe, reiner ungeteilter Liebe, ein exquisites Erlebnis, das unauslöschlich stark im Gedächtnis bleibt. Die Liebe Dantes zu Beatrice besteht aus reinem konzentrierten Bewusstsein und enthält nichts Körperliches, aber sie trug Dante (man sagt, in und mit seinem physischen Körper) bei seinen Wanderungen durch alle Welten hindurch sogar bis in die Gegenwart Gottes im Himmel, in die Gegenwart seiner vergöttlichten Geliebten.

Ihr müsst die feinstoffliche Welt des Fühlens erschaffen: Sie mag in euch wohnen oder euch umhüllen, euch umgeben; sie mag in oder um euch herum sein, beides ist in jener Seins- oder Bewusstseinsebene gleich. Die äußere Welt existiert mehr oder weniger unabhängig von euch, ihr habt nicht viel Kontrolle über sie, aber das Feinstoffliche ist nachgiebiger und formbarer und gehorcht eurem Willen und Ziel besser. Inmitten aller Schwierigkeiten und Kümmernisse, sogar dem größten Elend könnt ihr diese andere Ebene zu einem großen Teil nach eurem Herzen formen und sie zu einer Quelle eures Lebens und eurer Freude machen. Sie kann euer glückliches Heim und eure himmlische Zuflucht sein. Die Basis dieser Ebene wird die Liebe zur Mutter sein und der Gipfel das Streben nach ihrem Bewusstsein. Sie wird vom Fundament bis zum Gipfel ganz aus Mutters Frieden und Liebe bestehen.

Ihr könnt es selbst schaffen, die Fähigkeit ist euch gegeben worden, – denn die Fähigkeit ist nichts anderes als Mutters Gegenwart.

Veröffentlicht im November 1976

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