Zwei Arten der Selbsttäuschung
Wenn ich von einem gerechten Zorn höre, staune ich über die Fähigkeit des Menschen zur Selbsttäuschung.
SRI AUROBINDO, Gedanken und Aphorismen
… Eigentlich gibt es zwei Arten sich selbst zu betrügen, die sehr unterschiedlich sind. Zum Beispiel kannst du von bestimmten Dingen wirklich sehr schockiert sein, nicht aus persönlichen Gründen, sondern wegen deinem guten Willen und aus Eifer, dem Göttlichen zu dienen, weil du siehst, wie die Menschen sich schlecht benehmen, selbstsüchtig sind, treulos und betrügerisch. Es gibt eine Stufe, auf der du diese Dinge überwunden hast, und nicht mehr erlaubst, dass sie von dir Besitz ergreifen, aber in dem Ausmaß, in dem du mit dem gewöhnlichen Bewusstsein verbunden bist, mit der gewöhnlichen Art zu denken, mit den gewöhnlichen Ansichten und dem gewöhnlichen Leben um dich herum, sind diese Eigenschaften immer noch möglich, sie existieren latent, weil sie das Gegenteil dessen darstellen, was du erreichen möchtest. Und diese Opposition existiert immer noch weiter – bis du über sie hinauswächst und nicht länger weder die Qualität der Eigenschaft noch ihren Defekt besitzt.
Deshalb entsteht die Art der Entrüstung, die du aus der Tatsache fühlst, dass du noch nicht völlig darüber stehst, du bist in dem Stadium, indem du es gänzlich missbilligst und es selbst nicht mehr tun könntest. Bis zu diesem Punkt ist dazu nichts weiter zu sagen, außer du verleihst deiner Ablehnung einen gewalttätigen äußeren Ausdruck. Wenn der Ärger dazwischenkommt, dann deshalb, weil zwischen dem Gefühl, das du erreichen möchtest, und der Art wie du auf andere Menschen reagierst, ein völliger Gegensatz herrscht. Denn Ärger ist eine Entstellung der vitalen Kraft, Ausdruck einer dunklen und gänzlich unregenerierten vitalen Kraft, die immer noch allen gewöhnlichen Aktionen und Reaktionen im Handeln unterworfen ist. Wenn diese vitale Kraft von einem unwissenden und egoistischen individuellen Willen benutzt wird und dieser Wille auf die Opposition von anderen individuellen Willenskräften um sich herum trifft, verändert sich diese Kraft unter dem Druck der Opposition in Ärger und versucht mit Gewalt, das zu erreichen, was durch den Druck der Kraft allein nicht erlangt werden kann. Außerdem ist, nebenbei gesagt, Ärger immer ein Zeichen von Schwäche, Impotenz und Unfähigkeit, so wie jede andere Art der Form von Gewalt.
Und hier entsteht die Selbsttäuschung, nur durch die Unterstützung, die man seinem Ärger gibt oder durch das schmeichelhafte Etikett, das man ihm verleiht, denn Ärger an sich kann nur etwas blindes, ignorantes, asurisches sein, das heißt, dem Licht entgegengesetzt.
Aber das ist noch der bessere von zwei Fällen.
Es gibt noch den anderen Fall. Das sind Menschen, die ohne es zu wissen – oder weil sie es ignorieren wollen – immer ihren persönlichen Interessen folgen, ihren Vorlieben, ihren Anhaftungen, ihren Auffassungen: Menschen, die nicht völlig dem Göttlichen geweiht sind, sondern die moralische oder yogische Ideen benützen, um ihre persönlichen Interessen zu verbergen. Diese Menschen betrügen sich doppelt; sie betrügen sich nicht nur in ihren äußerlichen Aktivitäten, in ihren Beziehungen zu anderen, sondern sie betrügen sich auch in ihren eigenen persönlichen Motiven; anstatt dem Göttlichen zu dienen, dienen sie ihrem eigenen Egoismus. Und das passiert andauernd, andauernd! Sie dienen ihrer eigenen Person, ihrem eigenen Egoismus, während sie vortäuschen, Gott zu dienen. Das ist dann nicht länger Selbsttäuschung sondern Heuchelei.
Diese Angewohnheit im Denken, immer alles, was man äußert, mit einem vorteilhaften Anschein auszustatten, ist manchmal eher subtil, aber manchmal ist es so plump, dass man niemanden täuschen wird, außer sich selbst. Zum Beispiel diejenigen, die keine Selbstkontrolle besitzen, und jemandem mit großer Entrüstung ins Gesicht schlagen und dann behaupten, sie hätten in beinahe göttlichem Zorn gehandelt! Erstaunlich, erstaunlich diese Macht der Selbsttäuschung und die Geschicklichkeit des Verstandes, eine bewundernswerte Rechtfertigung für jede Ignoranz und jede Dummheit zu finden!
Dies ist eine Erfahrung, die man nicht nur ab und zu macht. Es ist etwas, was man jede Minute beobachten kann. Und gewöhnlich erkennst du es viel leichter in anderen! Aber wenn du dich selbst genau betrachtest, erwischt du dich tausendmal am Tag dabei, wie du dich selbst ein klein wenig nachsichtig betrachtest: „Oh, aber das ist nicht dasselbe!“ Für dich ist es niemals dasselbe wie für deinen Nachbarn!
DIE MUTTER, CWM 10:80
