Mentale Ehrlichkeit
Es scheint, dass in der gewöhnlichen psychologischen Verfassung des Menschen sein Verstand fast ständig die Funktion ausübt, eine annehmbare Begründung für das zu liefern, was sich im „Wunsch-Wesen“, dem vitalen Gefühl, den sinnlichsten Bereichen des Denkens und den subtilsten Regungen seines Körpers abspielt. Es gibt eine allgemeine Art der Komplizenschaft in allen Teilen unseres Wesens, eine Erklärung oder sogar eine bequeme Rechtfertigung für alles abzugeben, was wir tun, um so weit wie möglich die schmerzhaften Eindrücke zu vermeiden, die durch die Erinnerung an frühere Fehler und falsche Handlungen entstehen. Wenn man sich nicht trainiert hat, es anders zu machen, liefert einem der Verstand immer eine günstige Erklärung für alles, was man macht, sodass man sich nicht beunruhigt. Nur unter dem Druck äußerer Umstände oder Reaktionen oder durch Äußerungen von anderen Menschen willigt man allmählich ein, das, was man macht, etwas weniger begünstigend zu betrachten, und fängt an sich zu fragen, ob man es nicht besser machen könnte.
Spontan ist die erste Reaktion die einer Selbstverteidigung. Man verteidigt sich und braucht sofort eine Rechtfertigung… für die kleinsten, nichtigsten Angelegenheiten – es ist eine normale Haltung im Leben.
Dann liefert man sich selbst die Erklärungen. Nur durch den Druck äußerer Umstände fängt man an, sie auch anderen zu geben, aber zuerst macht man es sich bequem und sagt als erstes: „Es war so, weil es so sein musste, es ist deshalb passiert und… und“, und es ist immer der Fehler der Umstände oder von anderen Leuten. Und es erfordert wirklich eine Bemühung zu sehen, dass es vielleicht nicht so ist, sondern dass man in einer bestimmten Situation vielleicht nicht genau das gemacht hatte, was nötig gewesen wäre oder dass es besser gewesen wäre, anders zu reagieren. Wenn man sich nicht darauf trainiert hat, sich selbst zu fragen und es sozusagen automatisch macht, erfordert das eine Anstrengung. Und selbst wenn man beginnt, es einzusehen, erfordert es eine noch größere Anstrengung, es… öffentlich einzugestehen.
Wenn man anfängt zu sehen, dass man einen Fehler gemacht hat, ist die erste Reaktion des Denkens, ihn in den Hintergrund zu drängen und zu verdecken und mit dem Deckmantel einer sehr feinen kleinen Erklärung zuzudecken, und so lange man nicht verpflichtet ist, ihn zu zeigen, versteckt man ihn. Das ist es, was ich „Mangel an mentaler Aufrichtigkeit“ nenne.
Zuerst täuscht man sich selbst aus Gewohnheit und selbst wenn man anfängt, sich selbst nicht mehr zu täuschen, bleibt doch noch der Versuch, sich selbst zu betrügen, um sich gut zu fühlen. Und deshalb, wenn man einmal verstanden hat, dass man sich selbst getäuscht hat, ist ein noch größerer Schritt nötig, um ehrlich einzugestehen: „Ja, ich habe mich selbst betrogen.“
All das läuft so gewohnheitsmäßig, sozusagen automatisch ab, dass du es nicht einmal wahrnimmst; aber wenn du anfängst eine Disziplin in dir zu etablieren, wirst du Entdeckungen machen, die wirklich erstaunlich interessant sind. Wenn du das entdeckt hast, wirst du feststellen, dass du andauernd in einer Art Selbsttäuschung lebst, in einem Zustand willkürlicher Täuschung, das heißt, du betrügst dich spontan. Du musst gar nicht darüber nachdenken, sondern deckst ganz spontan einen hübschen Deckmantel über das, was du gemacht hast, sodass es nicht wirklich sein wahres Gesicht zeigt… und all das wegen Dingen, die so unwichtig sind und so wenig Bedeutung haben! Man könnte es verstehen, wenn es ernsthafte Konsequenzen für dein eigenes Leben hätte, wenn du einen Fehler zugibst, nicht wahr – dann würde der Instinkt der Selbsterhaltung dich als Schutzmaßnahme dazu bringen – aber das ist nicht der Fall, es betrifft Dinge, die absolut unwichtig sind, mit keiner anderen Konsequenz als dir selbst sagen zu müssen: „Ich habe einen Fehler gemacht.“
Das heißt, dass man eine Anstrengung unternehmen muss, um mental ehrlich zu sein. Man braucht eine Bemühung, eine Disziplin. Natürlich spreche ich nicht von denen, die Lügen erzählen, damit sie nicht erwischt werden, denn jeder weiß, dass das nicht gemacht werden sollte. Nebenbei sind die dümmsten Lügen auch die nutzlosesten, denn sie sind so auffällig, dass sie niemanden täuschen können. Das geschieht andauernd; du siehst wie jemand etwas Falsches tut und sagst ihm: „So ist das“ und er gibt eine dumme Erklärung ab, die niemand verstehen oder akzeptieren kann, aber er liefert sie in der Hoffnung, sich selbst abzuschirmen. Aber das ist offensichtlich Lügen und er weiß, dass es nicht gelingt, jemanden zu täuschen.
Aber die andere Art von Täuschung ist viel spontaner und so gewohnheitsmäßig, dass man sie nicht wahrnimmt. Wenn wir also von mentaler Ehrlichkeit sprechen, meinen wir etwas, das durch eine sehr andauernde Bemühung erreicht wird.
Du erwischt dich, nicht wahr, du erwischt dich plötzlich dabei, wie du dir irgendwo im Kopf oder hier (Mutter zeigt aufs Herz) – hier ist es schlimmer – dir selbst eine günstige kleine Erklärung gibst. Und nur, wenn du dich fest im Griff hast und dir selbst klar ins Gesicht schaust und sagst: „Denkst du, dass es wirklich so ist?“ und dabei sehr mutig bist und einen starken Druck machst, sagst du dir schließlich: „Ja, ich weiß ganz bestimmt, dass es nicht so ist.“
Diese Entwicklung dauert manchmal Jahre. Die Zeit vergeht und man muss sich innerlich sehr verändert haben, und wie man die Dinge betrachtet, muss sich geändert haben, man muss in einem anderen Zustand seines Bewusstseins sein und zu den Umständen eine andere Beziehung haben, um klar und vollständig zu sehen, wie weit man sich selbst getäuscht hat – und in dem Moment davon überzeugt war, man sei ehrlich gewesen.
DIE MUTTER, CWM 9:327
