Das wahre Wesen und das Ego
Das wahre Wesen kann in einem oder in beiden dieser Aspekte verwirklicht werden – im Selbst oder Atman und in der Seele oder Antaratman, dem psychischen Wesen, dem Chaitya Purusha. Der Unterschied besteht darin, dass das eine, das Selbst oder der Atman, als universal empfunden wird und das psychische Wesen als individuelle Einheit, die das Denken, das Leben und den Körper unterstützt.
Wenn man den Atman realisiert, empfindet man ihn als von allen Dingen unabhängig, losgelöst in sich selbst existierend, man kann diese Verwirklichung mit dem Bild einer getrockneten Kokosnuss vergleichen, die von ihrer Schale gelöst ist. Wenn man das psychische Wesen in sich realisiert, ist es nicht so, denn diese Erfahrung bringt die Wahrnehmung der Vereinigung mit dem Göttlichen mit sich, das Gefühl einer Abhängigkeit und einer einzigen Hingabe allein an das Göttliche sowie die Kraft, die Natur zu ändern und das wahre Denken, das wahre Fühlen, und das wahre körperliche Selbst in sich zu entdecken. Beide Realisationen sind in diesem Yoga notwendig.
Das „Ich“ oder das kleine Ego wird durch die Natur bestimmt, es ist zugleich ein denkendes, fühlendes und ein körperliches Gebilde, das dazu geschaffen ist zu helfen, das äußere Bewusstsein und Handeln zu zentralisieren und zu individualisieren. Wenn das wahre Wesen entdeckt wird, ist die Nützlichkeit des Ego vorbei und es muss verschwinden, – das wahre Wesen wird an seiner Stelle gefühlt.
SRI AUROBINDO, CWSA 28:97

… der Mensch ist sich des Selbst oder des Jivatman nicht bewusst, er nimmt nur sein Ego wahr oder sich selbst als mentales Wesen, das sein Leben und seinen Körper kontrolliert. Aber viel tiefer in sich selbst, wird er sich seiner Seele oder seines psychischen Wesens als seines wahren Zentrums bewusst als den Purusha in seinem Herzen. Das psychische Wesen ist das zentrale Wesen in der Evolution, es entsteht aus dem Jivatman und repräsentiert ihn, den ewigen Teil des Göttlichen. Wenn das volle Bewusstsein erwacht ist, vereinen sich Jivatman und psychisches Wesen.
Das Ego ist eine Einrichtung der Natur, aber es ist nicht nur Ausdruck der physischen Natur und deshalb hört es nicht mit dem Körper auf. Es gibt auch ein Ego des Denkens und des vitalen Gefühls.
SRI AUROBINDO, CWSA 28:56

Auf gewisse Weise sind die unterschiedlichen psychischen, mentalen, vitalen und körperlichen Wesensteile in uns, die Purushas, Projektionen des Atman, aber an diese Wahrheit gelangen wir erst, wenn wir in unser inneres Wesen vordringen und unsere innere Wahrheit kennenlernen. An der Oberfläche unseres Wesens, in der Unkenntnis unserer selbst, ist es die denkende, die fühlende und die körperliche Natur, die durch uns handelt, und das Selbst oder der Purusha wird durch die Ausdrucksweise der Natur sozusagen entstellt. Es ist nicht einmal unser wahres mentales, unser wahres fühlendes und unser wahres körperliches Wesen, das wir wahrnehmen; diese bleiben verborgen und still im Hintergrund. Statt dessen halten wir unser mentales, vitales und unser körperliches Ego für uns selbst, bis wir Selbsterkenntnis erreichen.
SRI AUROBINDO, CWSA 28:56

Das wahre mentale, fühlende und subtil physische Wesen besitzt immer die höheren Eigenschaften seiner eigenen Ebene – es ist der Purusha und dem psychischen Wesen ähnlich oder anders, es ist die Projektion des Göttlichen. Deshalb steht es in Verbindung mit dem höheren Bewusstsein und reflektiert etwas davon und obwohl es sie nicht im Ganzen vollständig darstellt, ist es auch in Einklang mit der kosmischen Wahrheit.
Hinter der gesamten vitalen Natur des Menschen liegt verborgen und ruhig sein wahres Wesen des Gefühls, das ganz anders ist als das vitale Gefühl seiner oberflächlichen Persönlichkeit. Das vitale Gefühl an der Oberfläche seiner Natur ist eng, ignorant, begrenzt, voll von dunklen Wünschen, Leidenschaften und Gier, von Aufruhr, dem Wechsel von Vergnügen und Schmerz, von flüchtigen Freuden und Leiden, von Hochgefühlen und Depressionen. Das wahre Wesen seines Gefühls ist dagegen unermesslich weit und gelassen, stark, ohne Begrenzungen, sicher und unerschütterlich, aufnahmefähig für alle Macht, alles Wissen, alles Ananda (höchste göttliche Freude). Es ist zudem ohne Ego, denn es weiß, dass es eine Projektion und ein Instrument des Göttlichen ist: es ist der göttliche Kämpfer, rein und perfekt; in ihm ist eine dienende Kraft für alle göttlichen Verwirklichungen angelegt. Das wahre vitale Wesen muss in dir erwachen und in den Vordergrund kommen. Ebenso gibt es auch ein wahres mentales und ein wahres körperliches Wesen. Wenn sich diese zeigen, wirst du dir der Existenz eines zweifachen Wesens in dir bewusst: das im Hintergrund bleibt immer ruhig und stark, nur das an der Oberfläche ist besorgt und verworren. Aber wenn das wahre Wesen im Hintergrund stabil bleibt und du in ihm lebst, spielen sich Sorgen und Unklarheiten nur an der Oberfläche ab. In diesem Zustand kann man mit den nach außen orientierten Teilen seines Wesens viel besser und wirksamer umgehen und sie können auch freier und perfekter werden.
SRI AUROBINDO, CWSA 28:111
