Kapitel 9

Setze dein Wissen in die Praxis um

Worte der Mutter

In der Zeit, bevor es Druckereien und Bücher gab …, hatte nur der Guru oder der Eingeweihte das Wissen, und er gab es nur an jene weiter, die er dessen würdig erachtete. Und für ihn bedeutete „dessen würdig sein“ in der Regel, das Gelernte in die Tat umzusetzen. Er gab einem eine Wahrheit und erwartete, dass man danach handelte. Und wenn man die Wahrheit in die Tat umgesetzt hatte, willigte er ein, einem eine andere zu geben.

Heute gehen die Dinge völlig anders vor sich. Jeder X-Beliebige kann ein Buch bekommen und es durchlesen, und es steht ihm völlig frei, danach zu leben oder nicht, wie es ihm gefällt. Das ist alles sehr schön, doch in den Gemütern setzt sich ein gewisses Durcheinander fest, und jene, die viele Bücher gelesen haben, bilden sich ein, das genüge, und sie müssten alle möglichen wunderbaren Dinge erleben, weil sie Bücher gelesen haben, und sie hätten es nicht nötig, die Mühe der praktischen Anwendung auf sich zu nehmen. Dann werden sie ungeduldig und sagen: „Wie kommt es, dass ich trotz alledem, was ich gelesen habe, immer noch genau die gleiche Person bin, immer noch dieselben Schwierigkeiten habe und zu keiner Verwirklichung gelangt bin?“ Solche Bemerkungen höre ich ziemlich oft.

Sie vergessen eines, nämlich, dass sie das Wissen – intellektuelles, mentales Wissen – hatten, bevor sie es verdienten, das heißt bevor sie das Gelesene in die Tat umgesetzt hatten, und dass es natürlich an Übereinstimmung fehlt zwischen ihrem Bewusstseinszustand und den Ideen, den Kenntnissen, von denen sie in Ruhe sprechen können, die sie aber nicht praktisch angewandt haben…

Damit will ich sagen, dass man nicht ungeduldig werden darf und folgendes verstehen muss: Um Wissen, welches es auch sei, wirklich zu besitzen, muss man es praktisch anwenden, das heißt seine Natur beherrschen, um dieses Wissen in Taten ausdrücken zu können.

Es ist sinnlos, Bücher mit Anleitungen zu lesen, wenn man nicht entschlossen ist, das zu leben, was sie lehren.

Etwas aufrichtige und regelmäßige Praxis ist mehr wert als eine Menge kurzlebiger Vorsätze.

Es liegt an dir, das Ideal, das dein Verstand dir vorgibt, in der Praxis zu verwirklichen.

Du scheinst bereits sehr bewusst zu sein, was man tun sollte und was nicht, doch bei dir beginnt die Schwierigkeit damit, es in die Praxis umzusetzen. Du solltest nicht um mehr Wissen bitten, sondern um die Kraft und den Mut, das Wenige, das du schon weißt, aufrichtig und gewissenhaft anzuwenden.

Es genügt nicht, zu wissen, man muss praktizieren.

Es genügt nicht, so zu tun, als ob, man muss sein.

Auf dem Pfad der Wahrheit musst du, um mehr zu wissen, das, was du bereits weißt, in die Praxis umsetzen.

Etwas aufrichtige Praxis ist viel mehr wert als eine Menge geschriebener oder gesprochener Worte.

Ein Tropfen Praxis ist besser als ein Ozean von Theorien, Ratschlägen und guter Vorsätze.

Zuhören ist gut, aber nicht ausreichend – man muss verstehen.

Verstehen ist besser, aber immer noch nicht ausreichend – man muss handeln.

Menschen, die nicht leben, was sie denken, sind nutzlos.

Es ist gut, eine Göttliche Lehre zu lesen.
Es ist besser, sie zu lernen.
Das Beste ist, sie zu leben.

Alle Theorien, alle Lehren sind letztlich nichts als Sicht- und Ausdrucksweisen. Selbst die höchsten Offenbarungen sind nicht mehr wert als die Kraft der Verwirklichung, die mit ihnen einhergeht.

Am Anfang des Kapitels Die Tausende im Dhammapada wird gesagt, dass ein einziges Wort, das dir Frieden schenkt, mehr wert ist als tausende von Worten ohne Sinn – jeder X-Beliebige kann sie verstehen –, doch es heißt auch, dass das Wort, welches Frieden gibt, mehr wert ist als tausende von Worten, die die Aktivität des Mentals befriedigen, aber keine psychologische Auswirkung auf dein Wesen haben.

Im Grunde genommen ist es so: Hast du etwas gefunden, das die Kraft hat, dir zu einem Sieg über deine Unbewusstheit oder deine Trägheit zu verhelfen, musst du die Wirkung, die durch dieses Wort oder diesen Satz hervorgerufen wurde, bis zum Ende ausschöpfen, ehe du andere zu suchen beginnst.

Es ist weitaus wichtiger, der Praxis einer Wirkung, die man durch eine irgendwie erlangte Idee erzielte, bis zum Ziel nachzugehen, als zu versuchen, eine Menge Ideen in seinem Kopf zu sammeln. Die Ideen können zu ihrer Zeit sehr nützlich sein, wenn man sie im richtigen Augenblick wirksam werden lässt und man darüber hinaus das Ergebnis dieser dynamischen Ideen, die die Kraft haben, dich einen inneren Sieg erringen zu lassen, bis zu den äußersten Grenzen ausdehnt. Man sollte sich also als sein Hauptziel, wenn nicht gar als das einzige Ziel setzen, in der Praxis zu realisieren, was man weiß, statt in sich ein Wissen anzusammeln, das nur theoretisch bleibt.

Man könnte es so zusammenfassen: Setze das, was du weißt, vollständig in die Praxis um, dann kannst du dein theoretisches Wissen sinnvoll bereichern.

Worte Sri Aurobindos

Meide die fruchtlosen Fallen einer leeren Metaphysik und den trockenen Staub einer öden Intellektualität. Nur jenes Wissen lohnt es zu haben, das für lebendige Wonne genutzt werden kann und sich umsetzen lässt in Temperament, Tätigkeit, Schöpferkraft und Sein.

Werde und lebe das Wissen, das du hast; dann ist dein Wissen der lebendige Gott in dir.

Der Lotus ewigen Wissens und ewiger Vollkommenheit ist eine Knospe in uns. Sie öffnet sich rasch oder allmählich, ein Blütenblatt nach dem anderen, durch eine Aufeinanderfolge von Verwirklichungen, sobald sich das Mental des Menschen dem Ewigen zuzuwenden beginnt und sein Herz, nun nicht mehr durch sein Haften an den endlichen Erscheinungen zusammengepresst und eingeengt, von einer wachsenden Liebe zu dem Unendlichen glüht. Von nun an werden das ganze Leben, alles Denken, jede kräftige Entfaltung der Befähigungen, alle aktiven oder passiven Erfahrungen zu vielen Schockwirkungen, wodurch die Umhüllungen der Seele zerrissen und die Hindernisse gegen ihr unvermeidliches Aufblühen beseitigt werden. Wer den Unendlichen erwählt, ist selbst vom Unendlichen erwählt worden. Er hat die göttliche Berührung empfangen, ohne die es für ihn kein Erwachen und kein Sich-öffnen des Geistes gibt; wer diese aber einmal empfangen hat, kann sich dessen sicher sein, dass er zu Gott gelangt, ob nun rasch im Verlauf eines einzigen menschlichen Lebens oder geduldig durch viele Stadien des Kreislaufs der Existenz im manifestierten Universum.

Man kann das Mental nichts lehren, was nicht bereits als potentielles Wissen in der sich entfaltenden Seele des Geschöpfes enthalten ist. So ist auch die Vollkommenheit, derer der äußere Mensch fähig ist, nur eine Verwirklichung der ewigen Vollkommenheit des Geistes in seinem Inneren. Wir erkennen das Göttliche und werden zum Göttlichen, weil wir Dieses bereits in unserer geheimen Natur sind. Alles Belehren ist ein Enthüllen, alles Werden ist ein Entfalten. Das Geheimnis liegt darin, wie man zum Selbst gelangt. Die Mittel und der Vorgang dabei sind das Wissen vom Selbst und ein ständig wachsendes Bewusstsein.