Kapitel 9

Mutters Rat an die Aspiranten

Worte der Mutter

Die Entdeckung [des seelischen Wesens] ist eine persönliche Angelegenheit, und eine große Entschlusskraft, ein starker Wille und eine unermüdliche Beharrlichkeit sind unerlässlich, wenn man das Ziel erreichen will. Jeder muss gewissermaßen sich seinen eigenen Weg durch seine eigenen Schwierigkeiten bahnen. Das Ziel ist irgendwie bekannt, denn die meisten, die es erreicht haben, haben es mehr oder weniger klar beschrieben. Aber der höchste Wert dieser Entdeckung kommt aus ihrer Spontaneität, aus ihrer Unbefangenheit und liegt außerhalb der gewöhnlichen Denkgesetze. Und deshalb suchen in den meisten Fällen die, welche das Abenteuer wagen wollen, zunächst jemanden, der es mit Erfolg unternommen hat und der sie auf dem Wege stützen und erleuchten kann. Doch gibt es auch einsame Wanderer, und für sie mögen einige allgemeine Hinweise nützlich sein.

Der Ausgangspunkt ist die Suche in sich selbst nach dem, was unabhängig ist vom Körper und von den Umständen des Lebens, was nicht von der mentalen Bildung, die man erhalten hat, herrührt oder von der Sprache, die man spricht, von den Gewohnheiten und Sitten der Umwelt, in der man lebt, des Landes, in dem man geboren ist, oder des Zeitalters, dem man angehört. Man muss in den Tiefen des eigenen Wesens das finden, was in sich den Sinn der universalen Ganzheit birgt, die unbegrenzte Ausdehnung, die Dauer ohne Unterbrechung. Dann erlebt man eine Loslösung von dem Knoten des Egos, man breitet sich aus, man weitet sich, und man beginnt, in allen Dingen und in allen Wesen zu leben. Die Schranken, die die Menschen voneinander trennen, fallen; man denkt in ihren Gedanken, man vibriert in ihren Gefühlen, man fühlt mit ihren Sinnen, man lebt im All-Leben. Was leblos schien, belebt sich plötzlich; die Steine vibrieren, die Pflanzen fühlen, wollen und leiden, die Tiere sprechen ihre mehr oder weniger stumme, doch klare und ausdrucksvolle Sprache – alles belebt sich mit einem wunderbaren Bewusstsein, das weder Zeit noch Grenzen kennt. Und dies ist lediglich eine Seite des seelischen Erwachens. Es gibt noch andere, viele andere. Sie alle tragen dazu bei, uns hinaustreten zu lassen aus dem Panzer unseres Egoismus, aus den Mauern unserer äußeren Persönlichkeit, aus der Ohnmacht unserer Reaktionen und der Unfähigkeit unseres Willens.

Doch wie bereits gesagt, der Weg dorthin ist lang und schwierig, voll heimtückischer Gefahren und Probleme, deren Lösung eine zu allem entschlossene Willenskraft erfordert. Er ähnelt dem Weg des Forschers durch den Urwald auf der Suche nach einem unbekannten Land, nach einer großen Entdeckung. Auch das seelische Wesen ist eine große Entdeckung, die zumindest ebenso viel Kühnheit und Ausdauer verlangt wie die Entdeckung neuer Kontinente. Für den, der entschlossen ist, sie zu unternehmen, können ein paar einfache Ratschläge nützlich sein. Hier sind einige der wichtigsten:

Der wohl entscheidende Ansatzpunkt ist die Erkenntnis, dass unser Denken unfähig ist, spirituelle Dinge zu beurteilen. Alle, die darüber schrieben, haben das betont, aber nur sehr wenige haben diesem Rat Folge geleistet, und doch ist es für unseren Fortschritt ganz und gar unerlässlich, von jeder Meinung und jeder mentalen Reaktion Abstand zu nehmen.

Verzichte auf alles Streben nach persönlicher Bequemlichkeit, nach Befriedigung, Genuss oder Glück, sei einzig ein loderndes Feuer des Werdens. Nimm alles, was dir begegnet, als eine Hilfe, um vorwärtszugehen, und vollende ohne zu säumen den Fortschritt, der von dir gefordert wird.

Versuche, alles, was du tust, mit Freude zu tun, aber die Freude darf nie der Beweggrund deines Handelns sein.

Werde nie aufgeregt, nervös oder unruhig. Bleibe allen Ereignissen gegenüber vollkommen gelassen. Und doch sei stets wachsam, um den Fortschritt zu machen, den du machen sollst – unverzüglich, ohne Zeit zu verlieren.

Halte niemals die äußeren Umstände für das, was sie zu sein scheinen. Sie sind immer nur ungeschickte Versuche, etwas anderes auszudrücken – das Eigentliche, Wahre, das dahinter liegt und sich unserem oberflächlichen Erfassen entzieht.

Beklage dich niemals über die Handlungsweise eines anderen, es sei denn, du hast die Macht, in seiner Natur zu ändern, was ihn so handeln lässt, und wenn du diese Macht hast, so vollziehe diese Änderung, anstatt dich zu beklagen.

Was du auch immer tun magst: Vergiss nie das Ziel, das du dir gesteckt hast. Auf dem Wege zu dieser großen Entdeckung gibt es keine kleinen oder großen Dinge. Alle sind gleich wichtig und können entweder zum Erfolg beitragen oder aber ihn verzögern. So konzentriere dich vor dem Essen einige Sekunden in dem Wunsch, dass die Nahrung, die du jetzt zu dir nimmst, deinem Körper den notwendigen Nährstoff gibt, um dir in deiner Bemühung auf dem Weg der großen Entdeckung als solide Grundlage zu dienen, und dass sie ihm die Energie verleiht, im Streben nie müde zu werden und nie nachzulassen.

Vor dem Einschlafen konzentriere dich einen Augenblick in dem Wunsch, der Schlaf möge deine ermüdeten Nerven erfrischen und deinem Gehirn Entspannung und Ruhe geben, damit du, wenn du ausgeschlafen hast, deine Wanderung auf dem Weg der großen Entdeckung mit neuer Energie wieder aufnehmen kannst.

Bevor du handelst, konzentriere dich im Willen, dass dein Handeln deinem Voranschreiten auf das große Ziel zu förderlich sei oder es wenigstens nicht hemme.

Bevor du sprichst, konzentriere dich, bevor du den Mund auftust, gerade lange genug, um deine Worte im Zaum zu halten und nur die herauszulassen, die unbedingt notwendig sind und die deinem Fortschritt in deiner inneren Entwicklung in keiner Weise schaden können.

Kurz: Vergiss niemals den Grund und das Ziel deines Lebens. Lass den Willen zu der großen Entdeckung beständig über dir schweben – über dem, was du tust und was du bist – wie einen unermesslichen Vogel des Lichts, der alle Bewegungen deines Wesens beherrscht.

Vor der unermüdlichen Beharrlichkeit deiner Bemühung wird sich plötzlich ein inneres Tor öffnen, und du wirst in ein blendendes Licht tauchen, das dir die Gewissheit der Unsterblichkeit bringen wird, die konkrete Erfahrung, dass du immer gelebt hast und immer leben wirst, dass allein die äußeren Formen vergänglich sind und dass diese Formen in Bezug auf das, was du in Wirklichkeit bist, Kleidern vergleichbar sind, die man wegwirft, wenn sie abgenutzt sind. Dann wirst du dich frei von allen Ketten aufrichten, und anstatt mühsam voranzugehen unter der Last der Umstände, die die Natur dir auferlegte und die du erleiden und tragen musstest, wenn du nicht von ihnen erdrückt werden wolltest, kannst du jetzt aufrecht und sicher schreiten deines Schicksals bewusst, Meister deines Lebens.

Und doch ist dieses Freiwerden von aller Sklaverei unseres Körpers, diese Befreiung von jeglichen persönlichen Bindungen nicht die höchste Erfüllung. Es sind noch weitere Schritte zu gehen, bevor man den Gipfel erreicht, und selbst diese Schritte können und müssen von wieder anderen abgelöst werden, die die Tore der Zukunft öffnen werden.

Worte der Mutter

Eines nur ist ganz und gar unerlässlich: der Wille zu finden und zu verwirklichen. Diese Entdeckung und Verwirklichung müssen das Hauptanliegen unseres Lebens werden, die kostbare Perle, die man erwerben will, koste es, was es wolle. Was wir auch immer tun mögen, welches unsere Beschäftigungen und unsere Tätigkeiten auch immer sein mögen – der Wille, die Wahrheit unseres Wesens zu finden und mit ihr eins zu werden, muss immer lebendig und gegenwärtig hinter allem stehen, was wir tun, was wir empfinden, was wir denken.