Kapitel 8

Gnade – Wie man sie empfängt

Worte Sri Aurobindos

Die Göttliche Gnade ist etwas Unberechenbares, nicht gebunden durch etwas, das der Intellekt zur Bedingung machen könnte – meist wird sie durch einen Ruf, eine Aspiration, durch die Intensität des seelischen Wesens erweckt und wirkt dennoch manchmal ohne diese und ohne jeglichen ersichtlichen Grund.

Worte Sri Aurobindos

Gnade bringt manchmal unverdiente oder scheinbar unverdiente Früchte, doch darf man die Gnade nicht als Recht oder Privileg fordern – denn dann wäre es keine Gnade. Du hast selbst gesehen, dass man nicht nur zu schreien braucht, um Antwort zu bekommen. Zudem habe ich immer festgestellt, dass tatsächlich eine lange unbemerkte Vorbereitung stattfand, bevor die Gnade eingriff, und dass man auch nach diesem Eingreifen immer noch recht viel Arbeit einsetzen muss, um zu bewahren und zu entwickeln, was man bekam – so wie es in allen äußeren Angelegenheiten ist, bis die vollständige Siddhi erreicht ist. Dann endet natürlich die Bemühung, und man hat einen sicheren Besitz erlangt. Daher ist Tapasya der einen oder anderen Art unvermeidlich.

Worte der Mutter

Ein dynamischer Glaube ist etwas anderes. Wenn man den Glauben an die göttliche Gnade in sich trägt, dass die göttliche Gnade über einen wacht und dass die göttliche Gnade da ist, was auch immer geschehen mag, und sie für einen sorgt, das kann man sein ganzes Leben und immer bewahren; und damit kann man durch alle Gefahren gehen, allen Schwierigkeiten begegnen, und nichts regt sich, denn man hat den Glauben und die göttliche Gnade, die mit einem ist. Es ist eine Kraft, die unendlich viel stärker, bewusster, dauerhafter ist, die nicht von den Bedingungen des Körperbaus abhängt, die von nichts abhängt als von der göttlichen Gnade selbst, die sich daher auf die Wahrheit stützt und durch nichts erschüttert werden kann. Das ist ganz anders.

Worte der Mutter

Geschieht das Eingreifen der Gnade durch einen Ruf?

Wenn man ruft? Ich denke doch. Jedenfalls nicht einzig und ausschließlich. Aber mit Sicherheit ja, wenn man an die Gnade glaubt und eine Aspiration hat und es wie ein kleines Kind macht, das zu seiner Mutter gelaufen kommt und sagt: „Mama, gib mir das“ – wenn man mit dieser unbefangenen Einfachheit ruft, wenn man sich an die Gnade wendet und sagt: „Gib mir das“, ich glaube, sie hört. Außer man erbittet etwas, das nicht gut für einen ist, dann hört sie nicht. Wenn man etwas Schädliches oder Ungünstiges verlangt, hört sie nicht.

Was ist die Ursache für diese Wirkung? Für diesen Anruf?

Vielleicht war es so bestimmt, dass man ruft. Mit anderen Worten: Wer war zuerst da, die Henne oder das Ei!? Ich weiß nicht, ob es Gnade ist, die einen die Gnade anrufen lässt, oder ob die Gnade kommt, weil die Gnade angerufen wird. Schwer zu sagen.

Im Grunde ist es gut möglich, dass am meisten der Glaube fehlt. Immer ist da eine kleine Ecke im Denken, die zweifelt und diskutiert. Das verdirbt dann alles. Erst wenn man in einer absolut kritischen Situation steckt, wenn es dem Denken klar geworden ist, dass es nichts, rein gar nichts kann, dass es vollkommen dumm und unfähig ist, erst dann, gerade in diesem Moment, wenn man eine höhere Hilfe ersehnt, hat eben die Aspiration diese Stärke, wie sie nur aus der Verzweiflung kommt, und das wirkt. Doch wenn dein Denken weiter diskutiert, wenn es sagt: „Ja, ja, ich habe mich gesehnt, ich habe gebetet, aber Gott weiß, ob es Zeit ist und ob das kommt und ob es möglich ist“, also dann ist es aus, es funktioniert nicht. Das kommt sehr häufig vor. Man sagt zu den Leuten: „Wenn ihr im Yoga vorankommen wollt, dürft ihr keinen Wunsch haben.“ Man geht sogar noch etwas weiter und sagt: „Ihr dürft keine Bedürfnisse haben.“ Man geht noch etwas weiter, man sagt: „Verlangt nie etwas vom Göttlichen.“ Also, ich weiß nicht, in mehr als neunundneunzig von hundert Fällen ist die Reaktion der Leute: „Ach, und wenn ich nicht bitte, bekomme ich nicht, was ich brauche.“ Sie sehen nicht, dass sie damit die ganze Bewegung gerade an der Wurzel abschneiden! Sie haben keinen Glauben. „Ich brauche das…“

Über den Begriff „brauchen“ diskutiere ich nicht einmal, denn er ist völlig willkürlich. Ich kannte einen holländischen Maler – der übrigens hier herkam und ein Porträt von Sri Aurobindo malte (das Porträt existiert offenbar noch). Dieser holländische Maler praktizierte Yoga. Und eines Tages nun sagte er zu mir: „Oh, ich glaube, ich könnte auf alles verzichten. Ich glaube wirklich, man kann die Bedürfnisse auf ein Minimum zurückschrauben. Trotzdem brauche ich aber eine Zahnbürste.“ Ich hatte zu der Zeit noch nicht in Indien gelebt, sonst hätte ich zu ihm gesagt: „Es gibt Millionen Menschen, die noch nie eine Zahnbürste hatten und doch ganz saubere Zähne haben. Das ist nicht das einzige Mittel, um seine Zähne sauber zu halten.“ Aber in diesem Augenblick war er davon überzeugt, dass man auf alles verzichten kann außer darauf, einen sauberen Mund zu haben. Und für ihn bestand ein sauberer Mund darin, dass man eine Zahnbürste besaß. Das ergibt ein sehr genaues Bild von dem, was in den Menschen vorgeht. Sie klammern sich an etwas, von dem sie denken, dass es ein Bedürfnis ist. Und das ist mit Sicherheit totale Unwissenheit, denn vielleicht besteht die tatsächliche Notwendigkeit, einen sauberen Mund zu haben (das scheint jedenfalls etwas recht Notwendiges zu sein), aber die Verbindung der Zahnbürste mit der Notwendigkeit eines sauberen Mundes ist völlig willkürlich. Denn es ist noch nicht so lange her, dass die Zahnbürste erfunden wurde.

Jemand anderes sagte mir: „Oh, ich kann auf absolut alles verzichten“ – es ging um eine Wanderung, die wir mit einem Minimum an Gepäck auf dem Rücken machen wollten (wenn man gezwungen ist, das kilometerweit, vierzig, fünfzig Kilometer am Tag, zu tragen, versucht man das Gewicht des Rucksacks möglichst gering zu halten). Es wurde also diskutiert, was man unbedingt in den Rucksack packen müsste. Er nannte seine Zahnbürste. Ein anderer sagte zu mir, ein Stück Seife (meistens dreht es sich um solche ganz einfachen Kleinigkeiten). Aber hier – wie viele Leute gibt es hier, die nie eine Seife benutzt haben und trotzdem sauber sind! Man kann auch auf andere Weise sauber sein. So ist das, man ist auf winzige Vorstellungen fixiert, und man glaubt, es seien unbedingt notwendige Bedürfnisse. Und wenn man dann ein wenig in der Welt herumkommt, merkt man, dass das, was für uns ein Bedürfnis ist, für andere etwas ist, das sie nicht einmal kennen, das sie in ihrem Leben noch nie gesehen haben, das es nicht gibt und das keinerlei Bedeutung hat. Folglich ist es nicht unbedingt notwendig. Es ergibt sich nur aus der Erziehung und aus dem Leben in einem bestimmten Milieu. Und diese Dinge sind ganz relativ, und nicht nur relativ, sondern kurzlebig.

Voilà.

Worte der Mutter

Wie akzeptiert man die Gnade mit Dankbarkeit?

Oh! Zunächst muss man das Bedürfnis dafür spüren.

Das ist der wichtigste Punkt. Eine gewisse innere Demut haben, die dir bewusst macht, wie schwach du ohne die Gnade bist, dass du ohne sie wahrhaftig unvollständig und machtlos bist. Das ist zunächst das Erste.

Es ist eine Erfahrung, die man sehr wohl haben kann. Wenn sogar Menschen, die nichts wissen, sich in ganz schwierigen Umständen befinden oder vor einem zu lösenden Problem stehen oder eben gerade vor einem zu überwindenden Trieb oder etwas, das sie durcheinandergebracht hat … und dann merken, dass sie verloren sind und nicht wissen, was sie tun sollen – weder mit ihrem Kopf noch mit ihrem Willen noch mit ihren Empfindungen –, sie wissen nicht, was zu tun ist. Also da geschieht dann etwas im Inneren wie eine Art Ruf, eine Anrufung von etwas, das kann, was man selbst nicht kann. Man sehnt sich nach etwas, das fähig ist zu tun, was man selbst nicht tun kann.

Das ist die erste Voraussetzung. Und wenn dann einem klar wird, dass es nur die Gnade ist, die das machen kann, dass aus dieser Situation, in der du dich befindest, dich nur die Gnade herausziehen kann, dass nur sie dir die Lösung und die Kraft geben kann, um da herauszukommen, da erwacht in dir natürlich eine starke Aspiration, ein Bewusstsein, das sich in einem Offen-Sein ausdrückt. Wenn du rufst, wenn du dich sehnst und auf eine Antwort hoffst, öffnest du dich der Gnade ganz selbstverständlich.

Und danach muss man gut auf Folgendes achten: Die Gnade wird dir antworten, die Gnade zieht dich aus der schwierigen Lage, die Gnade gibt dir eine Lösung zu deinem Problem oder führt dich aus deiner Schwierigkeit. Doch wenn du einmal von dem Problem befreit bist und aus der Schwierigkeit herausgefunden hast, dann vergiss nicht, dass es die Gnade war, die dich befreit hat, und denke nicht, du selbst warst es. Denn das ist tatsächlich der wichtigste Punkt. So wie die Schwierigkeit verschwunden ist, sagen die meisten Menschen: „Schließlich habe ich mich ganz gut aus der Schwierigkeit herausgeholt.“

So ist das. Du verschließt und verriegelst dann die Tür, nicht wahr, und du kannst nicht mehr empfangen. Du brauchst noch einmal eine heftige Angst, eine schreckliche Schwierigkeit, damit diese Art von innerer Dummheit weicht und dir noch einmal klar wird, dass du nichts ausrichten kannst. Denn nur wenn du erkennst, dass du machtlos bist, beginnst du ein klein wenig offen und formbar zu werden. Aber solange du glaubst, dass es bei dem, was du machst, auf deine eigene Geschicklichkeit und deine eigene Fähigkeit ankommt, schließt du wirklich nicht nur eine Tür, sondern du schließt eine Menge Türen, eine nach der anderen, und verriegelst sie. Du schließt dich in eine Festung ein, und nichts kann da eindringen.

Worte der Mutter

Wenn jemand Wünsche hat und diese nicht in Erfüllung gehen, so ist das bestimmt ein Zeichen dafür, dass die Göttliche Gnade bei ihm ist und ihn durch Erfahrung rasch zum Fortschreiten führen will, indem sie ihn lehrt, dass eine bereitwillige und spontane Hingabe an den Göttlichen Willen ein viel sicherer Weg ist, in Frieden und Licht glücklich zu sein als die Erfüllung irgendeines Wunsches.

Worte der Mutter

Der Sieg der Gnade ist sicher, doch ruhiges Erdulden beschleunigt ihn.

Worte der Mutter

Die Göttliche Gnade kann nur entsprechend unserem Vertrauen in sie für uns wirken und uns helfen.