Kapitel 8
Freie Entwicklung
Worte der Mutter
Es gibt alle Arten von verschiedenen und sogar entgegengesetzten Theorien. Einige Leute sagen: „Man muss den Kindern ihre eigene Erfahrung lassen, denn durch Erfahrung lernen sie die Dinge am besten.“ Der Gedanke als solcher ist ausgezeichnet; aber in der Praxis sind offenbar einige Einschränkungen notwendig, denn wenn du ein Kind auf einer Mauer gehen lässt, und es fällt und bricht sich ein Bein oder das Genick, so ist die Erfahrung ein wenig grob; oder wenn du es mit Streichhölzern spielen lässt und es sich die Augen versengt, so ist das ein sehr hoher Preis für ein wenig Wissen! Ich habe dies mit … diskutiert. Ich erinnere mich jetzt nicht mehr daran, wer es war … ein Pädagoge, der sich mit Erziehungsfragen beschäftigte. Er war aus England gekommen und hatte seine eigenen Vorstellungen von der Notwendigkeit einer absoluten Freiheit. Ich machte ihm gegenüber diese Bemerkung; dann sagte er: „Man kann aber aus Liebe zur Freiheit das Leben vieler Leute opfern.“ Das ist ein Standpunkt.
Dann gibt es auch das andere Extrem, dass man die ganze Zeit da ist und ein Kind am Experiment hindert, indem man ihm sagt: „Tu dies nicht, sonst wird das passieren“, „Tu das nicht, sonst wird jenes passieren“ – dann wird es am Ende ganz in sich zusammensinken und weder Mut noch Kühnheit im Leben haben, und das ist ebenfalls sehr schlecht.
Es läuft auf folgendes hinaus:
Man soll nie Regeln aufstellen.
Jede Minute muss man sich bemühen, die höchste Wahrheit zur Anwendung zu bringen, die man wahrnehmen kann. Das ist sehr viel schwieriger, aber das ist die einzige Lösung.
Ganz gleich, was du auch tust, lege vorher keine Regeln fest, denn wenn du einmal eine Regel aufgestellt hast, folgst du ihr mehr oder minder blind, und dann kannst du sicher sein, dass du neunundneunzigeinhalbmal in hundert Fällen falsch liegst.
Es gibt nur einen Weg, um richtig zu handeln, und der besteht darin, in jedem Augenblick, in jeder Sekunde, in jeder Bewegung zu versuchen, nur die höchste Wahrheit auszudrücken, die man wahrnehmen kann, und gleichzeitig zu wissen, dass diese Wahrnehmung progressiv sein muss und dass das, was dir jetzt am wahrsten zu sein scheint, es morgen nicht mehr sein wird, und dass sich eine höhere Wahrheit mehr und mehr durch dich ausdrücken muss. Das lässt dir dann keinen Raum mehr, in bequemem tamas (Untätigkeit) zu ruhen.
Worte der Mutter
Ich glaube, es war erst heute, oder es mag gestern gewesen sein, da plädierte ich für das Recht eines jeden Menschen, in der Unwissenheit zu bleiben, wenn es ihm so gefällt – ich spreche nicht von der Unwissenheit vom spirituellen Standpunkt, der Welt der Unwissenheit, in der wir leben, davon spreche ich nicht. Ich spreche von der Unwissenheit entsprechend den klassischen Erziehungsidealen. Ich sage also, wenn es Leute gibt, die nicht lernen wollen und möchten, so haben sie das Recht, nicht zu lernen.
Nur eines müssen wir ihnen sagen: „Du bist jetzt in einem Alter, wo dein Gehirn sich heranbildet. Es wird geformt. Immer, wenn du etwas Neues lernst, entsteht eine kleine Windung in deinem Gehirn. Je mehr du lernst, je mehr du denkst, je mehr du reflektierst, je mehr du arbeitest, desto umfassender und vollständiger wird dein Gehirn in seinen winzig kleinen Windungen. Und da du jung bist, geschieht es am besten jetzt. Daher wählt man allgemein die Jugend als Lernzeit, denn dann ist es unendlich viel einfacher.“…
Und so sage ich: Wenn in diesem Alter einige Kinder kategorisch erklären, „intellektuelle Entwicklung interessiert mich überhaupt nicht, ich will nicht lernen, ich will unwissend bleiben nach Art der Unwissenheit“, so weiß ich nicht, mit welchem Recht man ihnen Studien aufzwingen könnte oder warum es notwendig sein sollte, sie zu standardisieren.
Es gibt jene, die ganz unten sind, und andere, die sich auf einer anderen Ebene befinden. Es gibt Leute, die ganz erstaunliche Fähigkeiten besitzen mögen, und doch keinen Geschmack an intellektueller Entwicklung finden. Man mag sie warnen, dass, wenn sie nicht arbeiten, wenn sie nicht studieren, sie sich vielleicht im Erwachsenenalter in Gesellschaft anderer schämen werden. Doch wenn ihnen dies nichts ausmacht und sie ein nicht-intellektuelles Leben leben möchten, so glaube ich, hat man kein Recht, sie zu zwingen. Das ist mein ständiger Streitpunkt mit den Lehrern an der Schule! Sie kommen und sagen mir: „Wenn sie nicht arbeiten, so werden sie dumm und unwissend sein, wenn sie erwachsen sind.“ Ich antworte: „Wenn es ihnen aber gefällt, dumm und unwissend zu sein, welches Recht habt ihr dann, euch einzumischen?“
Man kann Wissen und Intelligenz nicht obligatorisch machen. Das ist alles.
Was wir den Kindern erklären sollten
Worte der Mutter
Sehr wichtig ist, dass man weiß, was man will. Und dafür ist ein Minimum an Freiheit notwendig. Man darf nicht unter Zwang oder unter einer Verpflichtung stehen. Man muss in der Lage sein, Dinge mit voller Zuwendung zu tun. Wenn du träge bist, wirst du schon erkennen, was es bedeutet, träge zu sein … Wisst ihr, im Leben müssen die Trägen zehnmal mehr als andere arbeiten, denn was sie tun, tun sie schlecht, und so müssen sie es wieder tun. Doch dies sind Dinge, die man durch Erfahrung lernen muss. Man kann sie dir nicht einpflanzen.
Wenn der mentale Geist nicht unter Kontrolle ist, so ist er etwas, was fluktuiert und keine Präzision hat. Wenn man nicht die Gewohnheit hat, ihn zu konzentrieren, so wandert er die ganze Zeit ständig umher. Das geht ohne Unterbrechung so weiter, und er wandert in eine Welt der Verschwommenheit. Und wenn man dann seine Aufmerksamkeit auf etwas richten möchte, so tut es weh! Und bei einer kleinen Anstrengung sagt man dann schon: „Oh, wie ermüdet das, wie schmerzhaft ist es!“ Dann tut man es nicht. Und man lebt in einer Art Nebel. Und dein Kopf ist wie eine Wolke; es ist so, die meisten Gehirne sind wie Wolken: Es ist keine Präzision da, keine Genauigkeit, keine Klarheit, es ist verschwommen – vage und verschwommen. Du hast von den Dingen eher Eindrücke als ein Wissen. Du lebst in einer Annäherung, und du kannst in dir alle Arten von widersprüchlichen Ideen beherbergen, die meist aus Eindrücken, Empfindungen, Gefühlen und Emotionen bestehen – alle Arten von Dingen, die sehr wenig mit Denken zu tun haben und die nichts als ein vages Herumschweifen sind.
Wenn du aber einen genauen, konkreten, klaren, definitiven Gedanken zu einem bestimmten Gegenstand fassen möchtest, so musst du eine Anstrengung unternehmen, dich sammeln, fest bei der Sache sein, dich konzentrieren. Das erste Mal, wenn du es tust, tut es wortwörtlich weh, es ermüdet! Wenn du aber nicht eine Gewohnheit daraus machst, wirst du dein ganzes Leben in Unentschlossenheit verbringen. Und wenn praktische Dinge auf dich zukommen, wenn du konfrontierst wirst mit … – denn trotz allem wird man immer konfrontiert mit einer Anzahl von Problemen, die zu lösen sind, von einer sehr praktischen Art, dann wirst du, anstatt in der Lage zu sein, die Elemente des Problems aufzunehmen, sie alle nebeneinander zu stellen, die Frage von jeder Seite zu betrachten und dich dann darüber zu erheben und die Lösung zu sehen –, dann wirst du stattdessen in den Strudeln einer ungewissen Grauzone herumgewirbelt, und es wird sein wie zahlreiche Spinnen, die in deinem Kopf herumwandern –, aber es wird dir nicht gelingen, die Sache beim Schopf zu packen.
Ich spreche hier ja von den einfachsten Problemen; ich spreche nicht davon, das Schicksal der Welt oder der Menschheit zu entscheiden, oder selbst eines Landes – nichts dergleichen. Ich spreche von den Problemen deines täglichen Lebens. Sie werden zu etwas recht Verworrenem.
Um dies nun zu vermeiden, sagt man dir, wenn dein Gehirn sich heranbildet: „Anstatt zuzulassen, dass es durch solche Gewohnheiten und Eigenschaften geformt wird, versuche, ihm ein wenig Genauigkeit zu geben, Präzision, Konzentrationsvermögen, die Fähigkeit, eine Wahl zu treffen, zu entscheiden, die Dinge in Ordnung zu bringen; versuche, deinen Verstand zu gebrauchen.“
Natürlich versteht es sich, dass der Verstand nicht die höchste Fähigkeit des Menschen ist und überstiegen werden muss, aber es ist ganz klar, dass, wenn du ihn nicht besitzt, du ein ganz und gar inkohärentes Leben leben wirst. Du wirst nicht einmal in der Lage sein, dich rational zu verhalten. Die geringste Sache wird dich völlig aus der Ruhe bringen und du wirst nicht einmal wissen, warum, und noch weniger, wie du dem abhelfen kannst. Demgegenüber kann jemand, der sich ein aktives, klares Vernunftdenken erarbeitet hat, Attacken aller Arten ins Gesicht schauen, emotionalen Attacken oder Prüfungen welcher Art auch immer; denn Leben besteht ganz aus diesen Dingen – Unerfreuliches, Ärgerliches –, die klein sind, aber proportional dem, der sie fühlt, und so natürlich von ihm als sehr groß empfunden, weil sie ihm proportional sind. Der Verstand aber kann ein wenig von den Dingen Abstand nehmen, lächeln und sagen: „Oh nein, wegen einer solchen Trivialität soll man nicht so viel Theater machen.“
Wenn du keinen Verstand hast, wirst du wie ein Korken auf stürmischer See sein. Ich weiß nicht, ob der Korken unter seinem Zustand leidet, aber es scheint mir nicht ein sehr glücklicher zu sein.
So verhält sich das also.
Nachdem ich nun all dies gesagt habe –, und ich habe es euch nicht nur einmal gesagt, sondern viele Male, und ich bin bereit, es euch wieder zu sagen, so oft ihr wollt –, nachdem ich dies gesagt habe, halte ich es für richtig, euch volle Freiheit zu geben, zu wählen, ob ihr der Korken auf der stürmischen See sein möchtet oder ob ihr eine klare, genaue Wahrnehmung und hinreichendes Wissen der Dinge erlangen wollt, um in der Lage zu sein, zu gehen nach – nun, einfach dahin, wohin ihr gehen wollt.
Denn es gibt eine Klarheit, die unerlässlich ist, wenn man in der Lage sein will, auch nur dem Pfad zu folgen, den man gewählt hat. Es ist keineswegs mein Anliegen, dass ihr zu Gelehrten werden sollt, ganz gewiss nicht! Denn dann fällt man in das andere Extrem: man füllt seinen Kopf mit so vielen Dingen, dass kein Raum mehr da ist für das höhere Licht; aber es gibt ein Minimum, das unerlässlich ist, um nicht … nun, um nicht der Korken zu sein.