Kapitel 8
Der bewusste Wille
Worte der Mutter
Mutter, in der Körpererziehung, die wir hier betreiben, ist unser Ziel eine immer größere Kontrolle über den Körper, nicht wahr? Also, da ja Sri Aurobindo das letzte mal in dem Text,1 den wir gelesen haben, gesagt hat, dass die Methoden des Hatha-Yoga und die tantrischen Methoden eine sehr große Kontrolle über den Körper verleihen, warum führt man diese Methoden nicht in unser System ein?
Das sind okkulte Verfahren, um auf den Körper einzuwirken – die tantrischen auf jeden Fall –, während die modernen Entwicklungsmethoden dem gewöhnlichen physischen Verfahren folgen, um dem Körper die Vollkommenheit zu vermitteln, zu der er in seinem jetzigen Zustand in der Lage ist… Ich begreife deine Frage nicht recht. Die Verfahren sind ganz verschieden.
Die Grundlage aller dieser Methoden ist die Macht, die der bewusste Wille auf die Materie ausübt. Es ist meist eine Methode, die jemand mit einem gewissen Erfolg anwandte, die er zum Handlungsprinzip erhoben und andere gelehrt hat, die ihrerseits die Methode weiterführten und vervollkommneten, bis sie eine hinreichend feste Form für eine Disziplin dieser oder jener Art annahm. Aber die ganze Grundlage ist die Wirkung des bewussten Willens auf den Körper. Die Präzisierung der Methode ist nicht von entscheidender Bedeutung. Je nach dem Land, je nach der Epoche wurde diese oder jene Methode benutzt, immer aber steckt eine kanalisierte mentale Kraft dahinter, die methodisch wirkt. Natürlich versuchen bestimmte Methoden eine höhere Kraft einzusetzen, die ihrerseits ihre Kapazität an die mentale Kraft weitergeben sollte: Wenn man einer mentalen Methode eine höhere Kraft einflößt, wird diese mentale Methode natürlich wirksamer und kraftvoller. Aber im Grunde kommt es bei all diesen Disziplinen vor allem auf denjenigen an, der sie praktiziert, und auf die Art, wie er von ihnen Gebrauch macht. Man kann sich selbst bei den gewöhnlichen, materiellsten Vorgängen dieser ganz äußerlichen Grundlage bedienen, um ihnen Kräfte einer höheren Ordnung einzuflößen. Und bei allen Methoden, welche es auch sein mögen, kommt es fast ausschließlich darauf an, wer sie anwendet und was er hineinlegt.
Nicht wahr, nehmen wir die Frage einmal von ihrer modernsten und äußerlichsten Seite: Wie kommt es, dass die Bewegungen, die wir in unserem Alltagsleben fast ständig ausführen, oder die wir in unserer Arbeit zu machen haben, wenn es eine körperliche ist, nicht oder nur sehr wenig die Muskeln entwickeln und Harmonie im Körper schaffen? Wenn dieselben Bewegungen dagegen bewusst und willentlich, mit einem bestimmten Ziel getan werden, dann helfen sie dir plötzlich, deine Muskeln zu formen und deinen Körper aufzubauen. In manchen Berufen zum Beispiel, haben Menschen extrem schwere Gewichte zu tragen, wie Zement-, Getreide- oder Kohlensäcke, und sie strengen sich erheblich an; in einem gewissen Maße tun sie es mit einer erworbenen Gewandtheit, aber das gibt ihnen nicht die Harmonie des Körpers, da sie es nicht mit der Idee der Entwicklung ihrer Muskeln tun, sie tun es „einfach so“. Und jemand, der einer Methode folgt, ob er sie gelernt oder für sich selbst ausgearbeitet hat, und dieselben Bewegungen mit dem Willen ausführt, diesen oder jenen Muskel zu entwickeln, eine allgemeine Harmonie in seinem Körper herzustellen – der hat Erfolg. Es gibt also etwas im bewussten Willen, das erheblich zu der Bewegung selbst beiträgt. Diejenigen, die Körpererziehung, so wie sie jetzt vorgestellt wird, wirklich praktizieren wollen, machen alles, was sie tun, bewusst. Sie gehen eine Treppe bewusst hinunter, sie machen die Bewegungen des gewöhnlichen Lebens bewusst und nicht mechanisch. Ein aufmerksames Auge wird vielleicht einen kleinen Unterschied bemerken, aber der größte Unterschied liegt in dem Willen, den sie in die Bewegung legen, dem Bewusstsein, das sie hineingeben. Gehen, um irgendwo hinzukommen, und Gehen als eine Übung ist nicht das gleiche. Der bewusste Wille in all diesen Dingen ist wichtig, er bewirkt den Fortschritt und führt zum Erfolg. Deshalb meine ich, dass die angewandte Methode in sich selbst nur eine relative Bedeutung hat; der Wille, ein bestimmtes Resultat zu erzielen, ist wichtig.
Der Yogi oder der emporstrebende Yogi, der Asanas tut, um ein spirituelles Ergebnis zu erreichen oder auch nur, um Beherrschung seines Körpers zu erlangen, erzielt diese Resultate, weil er sie mit dieser Absicht tut, während ich Menschen kenne, die genau das gleiche machen, aber aus allen möglichen Gründen keinen Bezug zur spirituellen Entwicklung haben, und denen es nicht einmal gelungen ist, durch sie eine gute Gesundheit zu erhalten! Und dennoch machen sie genau das gleiche, und manchmal sogar viel besser als der Yogi, aber das hat ihnen nicht zu einer stabilen Gesundheit verholfen … weil sie nicht darüber nachgedacht haben, weil sie es nicht mit dieser Absicht ausgeführt haben. Ich habe sie selbst gefragt: „Wie kommt es, dass ihr krank seid, nachdem ihr all das getan habt?“ – „Oh, daran habe ich nie gedacht, das ist nicht der Grund, warum ich es tue.“ Das heißt mit anderen Worten, dass der bewusste Wille auf die Materie einwirkt und nicht die materielle Tatsache.
Aber du musst es nur versuchen und du wirst sehr gut verstehen, was ich meine. Zum Beispiel, all die Bewegungen, beim Ankleiden, beim Baden, beim Aufräumen deines Zimmers … ganz gleich, was es ist; tue sie bewusst, mit dem Willen, dass dieser Muskel arbeiten soll, jener Muskel arbeiten soll. Du wirst sehen, dass du wirklich erstaunliche Ergebnisse damit erzielst.
Die Treppe hinauf- und hinuntergehen – du kannst dir nicht vorstellen, wie nützlich das im Hinblick auf die Körpererziehung sein kann, wenn du davon Gebrauch zu machen verstehst. Statt hinaufzugehen, weil du hinaufgehst, und hinunterzugehen, weil du hinuntergehst, wie irgendein gewöhnlicher Mensch, gehe mit dem Bewusstsein hinauf, dass alle Muskeln arbeiten und dass du sie harmonisch arbeiten lässt. Du wirst sehen. Versuche es nur ein wenig und du wirst sehen! Das bedeutet, dass du alle Bewegungen des Lebens zur harmonischen Entwicklung deines Körpers nutzen kannst.
Du bückst dich, um etwas aufzuheben, du reckst dich, um etwas ganz oben auf einem Schrank zu finden, du öffnest eine Tür, du schließt sie, du hast um ein Hindernis herumzugehen, es gibt Hunderte von Tätigkeiten, die du ständig ausführst, und die du für deine Körpererziehung nutzen kannst und die dir zeigen werden, dass es das von dir hineingelegte Bewusstsein ist, welches die Wirkung hervorbringt, und das hundertmal mehr, als die bloße materielle Tatsache der Ausführung es zu tun vermag. Du wählst also die Methode aus, die dir am meisten zusagt, doch kannst du dein ganzes tägliche Leben in dieser Weise nutzen… Ständig an die Harmonie des Körpers, an die Schönheit der Bewegungen zu denken und daran, nichts zu tun, was unbeholfen und ohne Anmut ist. Du kannst einen Rhythmus der Bewegung und der Gestik erzielen, der ganz außergewöhnlich ist.

1 Es gibt etwas in uns – oder muss erst noch entwickelt werden, – vielleicht einen zentralen, aber noch verborgenen Teil unseres Wesens, das Kräfte enthält, deren Macht in unserer derzeitigen Natur nur ein Bruchteil dessen ist, was sie sein könnte, die aber, wenn sie vollständig und beherrschend wäre, mit Hilfe des Lichtes und der Kraft der Seele und des supramentalen Wahrheitsbewusstseins, wirklich die notwendige körperliche Transformation und ihre Folgen hervorbringen könnte. Dies könnte man in dem System der Chakras finden, das im tantrischen Wissen aufgezeigt ist und in den Yogasystemen akzeptiert wurde: Bewusste Zentren und Quellen all der dynamischen Kräfte unseres Wesens, – die über das Nervengeflecht wirken und die in Ebenen übereinanderliegen, beginnend bei dem untersten physischen über das höchste mentale bis zum spirituellen Zentrum, das der tausendblättrige Lotus genannt wird, durch welche die auffahrende Natur, die ‚Schlangenkraft‘ der Tantras, das Brahman trifft und befreit ist in das göttliche Sein. Diese Zentren in uns sind geschlossen oder halb geschlossen und müssen geöffnet werden, bevor sich ihre volle innere Kraft in unserer physischen Natur offenbaren kann; sind sie aber erst einmal geöffnet und völlig aktiviert, kann die Entwicklung ihrer Fähigkeiten nicht mehr so leicht begrenzt werden, und die totale Transformation wird möglich… Aber selbst diese Wandlungen würden immer noch einen Rückstand an materiellen Prozessen übriglassen, der an seiner alten Weise festhielte und keiner höheren Kontrolle zugänglich wäre und die restliche Transformation selbst hemmen und unvollkommen machen würde, falls das nicht geändert werden könnte. Eine totale Transformation des Körpers würde eine ausreichende Wandlung des materiellsten Teils seines Organismus, seiner Konstitution, seiner Prozesse und natürlichen Verhaltensweisen erfordern. (The Supramental Manifestation, SABCL Vol. 16, pp. 34-35)