Kapitel 8

Das Tal des falschen Lichtes

Das Strömen, das man hier spürt, scheint unmittelbar den Quellen der Wahrheit zu entspringen und ist nicht so häufig zu finden, wie man es wünschen würde. Dies ist ein Geist, der nicht nur zu denken, sondern auch zu erkennen vermag, der nicht nur die Oberfläche der Dinge sieht, mit der intellektuelles Denken meist endlos und ohne sicheren Ausgang ringt – als ob es nichts anderes gäbe – sondern der auch fähig ist, in das Innere zu sehen. Die Tantriker gebrauchen einen Ausdruck pasyanti vak, das erkennende Wort, um eine Ebene der vak Shakti, der Shakti des Wortes zu beschreiben. Hier ist es pryanti buddhi, der erkennende Verstand. Vielleicht deshalb, weil der Erkennende vom Denken zur Erfahrung übergegangen ist, doch es gibt viele, die einen beträchtlichen Reichtum der Erfahrung besitzen, ohne dass diese derart ihre Gedankenschau klärt; zwar erkennt die Seele, doch das Mental fährt fort, die Idee wirr und unvollkommen zu umschreiben, zu verschleiern und durcheinander zu bringen. Hier aber muss die Gabe einer erkennenden Schau in der Natur bereitgelegen haben.

Es ist beachtlich, sich so rasch und entschlossen von den schimmernden Schleiern und Nebeln, die der moderne Intellektualismus für das Licht der Wahrheit hält, befreit zu haben. Das moderne Mental – und wir mit ihm – ist so lange und ausdauernd im Tal des Falschen Lichtes gewandert, dass es für niemanden einfach ist, dessen Nebel mit dem Sonnenlicht einer klaren Schau zu durchbrechen, so wie es hier geschah. Alles, was hier über modernen Humanismus und Humanitarismus gesagt wird, über die vergeblichen Bemühungen des sentimentalen Idealisten und des erfolglosen Intellektuellen, über synthetischen Eklektizismus und andere ähnliche Dinge, ist bewundernswert klarsichtig und trifft ins Schwarze. Nicht durch diese Mittel kann die Menschheit zur radikalen Veränderung ihrer Lebensweise gelangen – die so dringlich geworden ist –, sondern allein indem sie das Grundgestein der Wirklichkeit dahinter erreicht, nicht durch bloße Ideen und mentale Formungen, sondern durch eine Bewusstseinsveränderung, durch eine innere und spirituelle Wende. Doch für diese Wahrheit würde man in dem gegenwärtigen Tosen aus vielstimmigem Geschrei und aus Wirrnis und Katastrophe schwerlich Gehör finden. Eine Unterscheidung, diejenige, die hier sehr deutlich gemacht wird, zwischen der Ebene der phänomenalen Vorgänge, also der äußeren Praktriti und der Ebene der Göttlichen Wirklichkeit steht an erster Stelle unter den Worten innerer Weisheit. Die Wende, die sie auf diesen Seiten nimmt, ist mehr als eine geniale Erklärung; sie drückt wohlüberlegt eine jener klaren Gewissheiten aus, denen du begegnest, wenn du die Grenzlinie überschreitest und die äußere Welt aus der Sicht der inneren spirituellen Erfahrung betrachtest. Je mehr du dich nach innen oder nach oben wendest, desto mehr verändert sich die Sicht der Dinge und das äußere, von der Wissenschaft geordnete Wissen erhält seinen eigentlichen und sehr begrenzten Platz. Die Wissenschaft, wie das meiste mentale und äußere Wissen, vermittelt dir nur die Wahrheit des Vorgangs. Ich möchte hinzufügen, dass sie dir nicht einmal die volle Wahrheit des Vorgangs geben kann; denn du ergreifst einige Wägbarkeiten, doch das überaus wichtige Unwägbare entgeht dir; du erhältst kaum das Wie, sondern lediglich die Bedingungen, unter denen die Dinge in der Natur geschehen. Nach all den Triumphen und Wundern der Wissenschaft bleibt das erklärende Prinzip, das Rationale, die Bedeutung des Ganzen so dunkel wie geheimnisvoll, wenn nicht geheimnisvoller als je. Das Schema, das diese von der Evolution aufstellt, der Evolution dieser reichen, weiten, mannigfachen stofflichen Welt, des Mentals und seines Wirkens, des Lebens und Bewusstseins aus einer rohen Masse von Elektronen, identisch und verschieden nur in Anordnung und Zahl, ist irrationale Magie und verwirrender als jede zuhöchst mystische Vorstellung es sich vergegenwärtigen könnte. Wissenschaft führt uns letzten Endes in ein fertiges Paradoxon, in einen geordneten und geradlinig determinierten Zufall, in eine Unmöglichkeit, die irgendwie möglich wurde; sie hat uns eine neue, eine stoffliche Maya gezeigt, aghatana-ghatana-patiyasi, die sehr geschickt das Unmögliche zuwege bringt, ein Wunder, das logischerweise nicht sein kann und dennoch irgendwie wirklich ist, unfehlbar geordnet, aber dennoch irrational und unerklärlich. Der Grund hierfür ist offensichtlich darin zu suchen, dass die Wissenschaft etwas Essentielles verfehlt hat; sie hat erkannt und geprüft, was geschah und wie es geschah, doch sie hat ihre Augen vor etwas geschlossen, das dieses Unmögliche zuwege brachte, etwas, das es auszudrücken gilt. Die Dinge haben keine grundlegende Bedeutung, wenn du die Göttliche Wirklichkeit nicht erkennst, denn dann bleibst du in einer gewaltigen Oberflächenkruste einer manipulierten und nutzbaren Erscheinungswelt eingeschlossen. Du versuchst, den Zauber des Zauberers zu analysieren, doch allein wenn du das Bewusstsein des Zauberers erlangst, kannst du zu einer anfänglichen Erfahrung der wahren Ordnung, der Bedeutung und der Kreise der lila gelangen. Ich sage, „anfänglich“, da die Göttliche Wirklichkeit nicht so einfach ist, dass du sie bei der ersten Berührung gleich zu erkennen oder in eine einzige Formel zu pressen vermagst; sie ist das Unendliche und öffnet vor dir unendliches Wissen, gegen das alle Wissenschaft zusammengenommen nur eine Bagatelle ist. Du berührst das Wesentliche, das Ewige hinter den Dingen und im Licht von Jenem wird alles zuinnerst leuchtend und verständlich werden.

Ich habe dir früher schon einmal gesagt, was ich davon halte, wenn gewisse gutmeinende Wissenschaftler an der Oberfläche – oder der scheinbaren Oberfläche – der spirituellen Wirklichkeit, die hinter den Dingen steht, sinnlos herumkritisieren, und ich brauche es daher nicht auszuführen. Viel wichtiger sind die Vorzeichen einer größeren Gefahr, die durch den neuen Angriff des Gegners, nämlich des Skeptikers gegen die Gültigkeit spiritueller und überphysischer Erfahrung aufkommt, – seine neueste Vernichtungstaktik, die darin besteht, jene anzuerkennen und in seinem eigenen Sinn zu deuten. Dies könnte durchaus ein Grund zur Befürchtung sein; doch zweifle ich, wenn diese Dinge einmal der Prüfung unterzogen wurden, ob das Mental der Menschheit sich lange mit Erklärungen zufrieden geben wird, die so unbefriedigend oberflächlich und äußerlich sind, – Erklärungen, die nichts erklären. Nicht nur diejenigen, die die Religion verteidigen, scheinen eine unvernünftige, leicht zu widerlegende Haltung einzunehmen, indem sie auf der nur subjektiven Gültigkeit spiritueller Erfahrung beharren, sondern auch der Gegner scheint unwissentlich die Tore der materialistischen Festung freizugeben durch seine Bereitwilligkeit, spirituelle und überphysische Erfahrung überhaupt zuzugeben und zu prüfen. Seine Verschanzung im physischen Bereich, seine Weigerung, überphysische Dinge anzuerkennen oder zu prüfen, war die Feste seiner großen Sicherheit; ist diese einmal aufgegeben, wird das menschliche Mental nach etwas weniger Negativem drängen und in einer förderlich positiven Haltung über die tote Masse der Theorien und die Scherben annullierender Erklärungen und erfindungsreicher psychologischer Etikettierungen hinweggehen. Eine andere Gefahr mag dann aufkommen, nicht die einer endgültigen Leugnung der Wahrheit, sondern die Wiederholung vergangener Fehler in alter oder neuer Form; nämlich auf der einen Seite die Wiederbelebung eines blinden, fanatischen, obskuren und sektiererischen Religionismus, auf der anderen Seite ein Stolpern in die Gräben und Sümpfe des vitalistischen Okkulten und des Pseudospirituellen, – Fehler, aus denen der materialistische Angriff der Vergangenheit seine ganze Kraft und sein Credo bezog. Doch dies sind Erscheinungen, die uns immer an der Grenzlinie oder im Zwischenbereich zwischen materieller Dunkelheit und dem vollendeten Glanz begegnen. Trotz allem, der Sieg des höchsten Lichtes, selbst im dunklen Erdbewusstsein, ist die eine endgültige Gewissheit.

Kunst, Dichtung, Musik sind nicht Yoga, keine in sich spirituellen Dinge, ebensowenig wie Philosophie oder Wissenschaft etwas Spirituelles ist. Hier lauert eine seltsame weitere Unfähigkeit des modernen Intellektes, sein Unvermögen, zwischen Mental und Geist zu unterscheiden, seine Bereitwilligkeit, mentalen, moralischen und ästhetischen Idealismus für Spiritualität zu halten und deren untere Stufen für spirituelle Werte. Es stimmt, die mentalen Intuitionen des Metaphysikers oder Dichters bleiben weit hinter einer konkreten spirituellen Erfahrung zurück; sie sind ferne Blitze, verschwommene Spiegelungen und nicht die Strahlen aus dem innersten Licht, Es stimmt weiterhin, dass von oben betrachtet kein großer Unterschied besteht zwischen den hohen geistigen Höhen und dem niederen Klimmen dieses äußeren Daseins. Alle Kräfte der lila sehen von oben gleich aus, alle sind Verhüllungen des Göttlichen. Doch man muss hinzufügen, dass alles als ein anfängliches Hilfsmittel zur Verwirklichung des Göttlichen verwandt werden kann. Eine philosophische Äußerung über den Atman ist eine mentale Formulierung, sie ist nicht Wissen, nicht Erfahrung; dennoch nimmt sie das Göttliche manchmal zum Anlass einer Berührung; es ist seltsam, doch eine Barriere im Mental bricht nieder, etwas wird erkannt, es vollzieht sich eine tiefe Wandlung in einem inneren Teil, etwas Stilles, Gleichmütiges, Unsägliches dringt in die Tiefen der menschlichen Natur. Oder man steht auf einem Bergkamm und erblickt oder fühlt eine Größe, ein Durchdrungensein, eine namenlose Weite in der Natur; dann plötzlich die Berührung, – eine Enthüllung, ein Fluten, das Mental verliert sich im Spirituellen, man hält dem ersten Einbruch des Unendlichen stand. Oder du stehst vor einem Tempel der Kali an einem heiligen Fluss und siehst eine Skulptur, ein zierliches Stück Bildhauerarbeit, doch an ihrer Stelle in einem jähen Augenblick, geheimnisvoll, unerwartet, ist da eine Gegenwart, eine Macht, ein Gesicht, das in das deine blickt, deine innere Schau hat die Welt-Mutter erkannt. Ähnliche Berührungen können über die Kunst, die Musik, die Dichtung zu demjenigen kommen, der sie hervorbringt oder zu einem, der die Gewalt des Wortes fühlt, den verborgenen Sinn einer Form, die Botschaft im Klang, die vielleicht mehr enthält, als vom Komponisten bewusst beabsichtigt war. Alle Dinge der lila, des Göttlichen Spiels, können zu Fenstern werden, die sich einer verborgenen Wirklichkeit öffnen. Und dennoch, solange man sich damit zufrieden gibt, durch Fenster zu blicken, ist nur ein erster Erfolg zu verzeichnen; eines Tages wird man den Pilgerstab nehmen müssen und sich auf die Wanderschaft machen, dorthin, wo die Wirklichkeit für immer manifest und gegenwärtig ist. Noch weniger aber kann es spirituell befriedigen, bei jenen verschwommenen Spiegelungen zu verweilen und die Suche nach dem Licht, das jene darzustellen suchen, drängt sich auf. Doch da diese Wirklichkeit und dieses Licht sowohl in uns als auch in einem hohen Bereich über der sterblichen Ebene sind, können wir bei unserer Suche danach viele Bilder und Tätigkeiten des Lebens verwenden; so wie man eine Blume, ein Gebet, eine Tat dem Göttlichen darbringt, kann man ebenfalls eine erschaffene Form, die die Schönheit ausdrückt, ein Lied, ein Gedicht, ein Bildnis, eine Melodie darbringen und hierdurch zu einer Berührung, einer Erwiderung und Erfahrung gelangen. Und wenn man in dieses göttliche Bewusstsein eingetreten ist oder wenn es innerlich wächst, dann ist dessen Ausdruck im Leben durch diese Dinge ebenfalls nicht vom Yoga ausgeschlossen; diese schöpferischen Tätigkeiten können ihren Platz behalten, doch nicht einen eigentlich wichtigeren Platz als irgendwelche anderen, die man zu göttlichem Gebrauch und Dienst ausübt. Kunst, Musik, Dichtung in ihrer gewöhnlichen Auswirkung schaffen mentale und vitale, keine spirituellen Werte; doch sie können einem höheren Ziel zugewandt werden und dann wie alles Übrige unser Bewusstsein mit dem Göttlichen verbinden, sie werden verwandelt, werden spirituell und können als Teil der Yogadisziplin aufgenommen werden. Alle Dinge nehmen einen neuen Wert an, nicht durch sich selbst, sondern durch das Bewusstsein, das mit ihnen umgeht, denn es gibt nur eine notwendige, wesentliche und unerlässliche Sache, sich der Göttlichen Wirklichkeit bewusst zu werden und darin zu leben und immer darin zu leben.

23. März 1932

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