Kapitel 6

Zurückweisung – Bedeutung und Methode

Worte Sri Aurobindos

Wenn wir die Disziplinierung aller Teile unseres Wesens durch Läuterung und Konzentration als den rechten Arm unseres Yoga bezeichnen, ist die Entsagung sein linker. Durch Disziplin oder positive Praxis befestigen wir in uns die Wahrheit der Dinge, die Wahrheit des Seins, die Wahrheit des Wissens, die Wahrheit der Liebe und die Wahrheit des Wirkens und ersetzen durch diese Wahrheit alle Verfälschungen, die unsere Natur überwucherten und entstellten. Durch Entsagung packen wir die Falschheiten an, reißen ihre Wurzeln aus und werfen sie so weit weg, dass sie nicht länger durch Zähigkeit, Widerstand, erneutes Auftauchen das glückliche, harmonische Wachstum unserer göttlichen Lebensweise behindern können. Die Entsagung ist ein unentbehrliches Instrument zu unserer Vervollkommnung.

Worte der Mutter

Das versteht sich von selbst. Eine bejahende Regung genügt nicht, notwendig ist auch die verneinende Bewegung der Zurückweisung. Denn du kannst keine bleibende Umwandlung erlangen, solange du in deinem Wesen Dinge beherbergst, die sich ihr widersetzen. Wenn du in dir dunkle Elemente zulässt, können sie sich eine Zeitlang so ruhig und regungslos verhalten, dass du ihnen keinerlei Bedeutung zumisst, und eines Tages wachen sie dann auf, und deine Umwandlung vermag ihnen nicht standzuhalten. Nicht nur die bejahende Bewegung der Selbsthingabe ist nötig, sondern auch die verneinende des Zurückweisens von allem, was sich in dir dieser Hingebung widersetzt. Diese Dinge dürfen nicht „einfach so“ belassen werden, irgendwo vergraben, so dass sie bei der ersten besten Gelegenheit aufwachen und deine ganze Arbeit zugrunde richten. Bestimmte Teile des Wesens verstehen das großartig. Es gibt Elemente im Vital, die in dieser Hinsicht außerordentlich sind: Da hält sich etwas so ruhig, so völlig still und unbewegt in einem Winkel versteckt, dass du glaubst, es sei überhaupt nicht vorhanden. Dann bist du nicht mehr auf der Hut, du bist mit deiner Umwandlung und deiner Hingabe zufrieden, du meinst, alles gehe gut, und dann auf einmal, eines schönen Tages, ganz ohne Warnung, springt es wie ein Schachtelteufelchen auf und lässt dich alle Dummheiten der Welt begehen. Und es ist umso stärker, als es zusammengepresst – zusammengepresst und eingepfercht – in seinem Winkel gesteckt hat, gleichsam vergraben, um deine Aufmerksamkeit nicht auf sich zu ziehen. Es hat sich mäuschenstill verhalten, und in einem Augenblick, in dem du es nicht erwartest, schießt es hervor, und du jammerst: „Ach! Was hat nun meine ganze Umwandlung genützt?“ Es hat eben dort gesteckt, und so ist es passiert. Ja, diese Dinge bleiben da und verstecken sich so gut, dass du sie – wenn du ihnen nicht mit einer hell leuchtenden Laterne nachspürst – nicht sehen kannst bis zu dem Tag, an dem sie deine ganze Arbeit in einer Minute zugrunde richten.

Geschieht das auch, wenn man eine starke Aspiration hat?

Die Aspiration muss sehr wachsam sein.

Ich kannte Menschen – und zwar viele, nicht nur ein paar, ich meine diejenigen, die Yoga praktizieren –, ich habe viele kennengelernt, denen jedes Mal, wenn sie eine gute und starke Aspiration hatten und sie eine Antwort darauf bekamen, noch am selben Tag oder spätestens am nächsten das Bewusstsein völlig umkippte und sie sich vor dem Gegenteil ihrer Aspiration sahen. Solche Dinge geschehen fast ständig. Nun, diese Menschen haben nur die bejahende Seite entwickelt. Sie üben eine Art Disziplin des Aufstrebens, sie bitten um Hilfe, versuchen mit höheren Kräften in Verbindung zu treten, und das gelingt ihnen auch, sie haben Erfahrungen – aber sie versäumten es gänzlich, ihr Zimmer zu säubern, es ist so schmutzig geblieben wie eh und je, und wenn dann die Erfahrung vorüber ist, wird dieser Schmutz natürlich noch abstoßender als zuvor.

Man darf nie versäumen, sein Zimmer zu säubern, das ist sehr wichtig. Die innere Sauberkeit ist mindestens ebenso wichtig wie die äußere.

Vivekananda hat geschrieben – ich kenne den Urtext nicht, ich las nur eine französische Übersetzung: „Wasche jeden Morgen Seele und Körper, aber hast du nicht Zeit für beides, so wasche wenigstens die Seele.“

Worte der Mutter

Liebe Mutter, wie soll man das Bewusstsein von seinen vermischten Inhalten leeren?

Durch Aspiration, durch Zurückweisung niederer Regungen, durch den Ruf nach einer höheren Kraft. Wenn du gewisse Regungen nicht akzeptierst, lassen sie natürlich allmählich in ihrer Stärke nach, wenn sie fühlen, dass sie sich nicht manifestieren können, und sie treten nicht mehr auf. Wenn du dich weigerst, alles auszudrücken, was von niederer Art ist, verschwindet die Sache nach und nach, und das Bewusstsein entleert sich von dem Niedrigen. Das geschieht durch die Verweigerung, es auszudrücken – ich meine nicht nur im Handeln, sondern auch im Denken, im Fühlen. Wenn Impulse, Gedanken, Emotionen kommen und du dich weigerst, sie zum Ausdruck zu bringen, wenn du sie wegschiebst und in einem Zustand innerer Aspiration und Ruhe bleibst, verlieren sie nach und nach ihre Kraft und kommen nicht mehr. Dann wird das Bewusstsein leer von seinen niederen Bewegungen.

Kommen nun aber zum Beispiel unerwünschte Gedanken, und du betrachtest, beobachtest sie, und es gefällt dir, ihnen in ihren Bewegungen zu folgen, werden sie nie aufhören. Dasselbe gilt, wenn du Gefühle oder Gemütsbewegungen hast, die nicht wünschenswert sind: Wenn du dich mit ihnen befasst, wenn du dich auf sie konzentrierst oder sie gar mit einer gewissen Nachsicht betrachtest, hören sie nie auf. Lehnst du es aber rundweg ab, sie zu empfangen und auszudrücken, hört das nach einer gewissen Zeit auf. Du musst sehr geduldig und sehr hartnäckig sein.

Wenn du in einer großen Aspiration mit etwas Höherem in Berührung kommen kannst, mit einem Einfluss deines seelischen Wesens oder einem Licht von oben, und wenn es dir gelingt, es mit diesen niederen Regungen in Verbindung zu bringen, enden sie natürlich schneller. Aber auch bevor du diese Dinge durch Aspiration anziehen kannst, kannst du sie schon durch eine ganz hartnäckige und geduldige Zurückweisung daran hindern, sich in dir zum Ausdruck zu bringen. Wenn Gedanken kommen, die dir nicht gefallen, wenn du sie einfach wegschiebst und dich überhaupt nicht mehr mit ihnen befasst, kommen sie nach einer gewissen Zeit nicht mehr. Du musst das aber ganz unnachgiebig und regelmäßig tun.

Worte der Mutter

Wenn du zum Beispiel eine Regung hast, die du ablehnst – eine Anwandlung von Ärger oder Gehässigkeit, alle Arten dieser Dinge, oder eine Unaufrichtigkeit oder etwas, das du nicht magst –, wenn du sie von dir weist, wenn du dich anstrengen willst, um sie nicht mehr zu haben, schmerzt es, nicht wahr? Es schmerzt, als würde man etwas ausreißen. Nun, gerade von diesem Schmerz spricht Sri Aurobindo. Er sagt, das Schlechte, das du aus dir hinauswirfst, versetzt dir beim Weggehen einen netten kleinen Hieb als Abschiedsgeschenk. Das genau sagt er.

Denn du lebst immer in der Illusion, der Schmerz gehöre zu dir. Das ist nicht wahr. Der Schmerz ist etwas, das dir auferlegt wird. Dasselbe Ereignis könnte in allen Einzelheiten genau gleich eintreten, ohne dass es dir den Schatten eines Schmerzes aufdrängt, im Gegenteil: Manchmal kann es dich mit ekstatischer Freude erfüllen. Und es ist genau dasselbe. Doch in dem einen Fall bist du für die feindlichen Kräfte offen, die du von dir weisen willst, und im anderen bist du nicht offen, du bist schon weit genug von ihnen entfernt, dass sie keine Wirkung mehr haben können. Und dann, anstatt die negative Seite zu spüren, die sie verkörpern, fühlst du nur die positive Seite, die das Göttliche in der Erfahrung darstellt. Das ist die göttliche Gnade, die dich einen Fortschritt machen lässt, und mit der göttlichen Gnade fühlst du die göttliche Freude. Aber anstatt dich mit der Gnade zu identifizieren, die dich den Fortschritt machen lässt, identifizierst du dich mit dem Hässlichen, das du loswerden willst. Und natürlich empfindest du dann so wie dieses, und du leidest.

Das ist ein Experiment, das du machen kannst, wenn du nur ein wenig bewusst bist. Es ist etwas in dir, das du nicht haben willst, etwas Schlechtes – aus dem einen oder anderen Grund willst du es nicht, du willst es aus dir herausreißen –, nun, wenn du dich auch nur eine Spur mit diesem Etwas identifiziert, dann spürst du den Schmerz des Herausreißens. Identifizierst du dich dagegen mit der göttlichen Kraft, die kommt, um dich zu befreien, fühlst du die Freude der göttlichen Gnade – und du erfährst die tiefe Glückseligkeit des Fortschritts, den du gemacht hast.

Und das ist ein sicheres Zeichen für dich, das ist ein sicherer Hinweis auf das, womit du dich identifizierst. Wenn du dich mit den Kräften von unten identifizierst, leidest du. Wenn du dich mit den Kräften von oben identifizierst, bist du glücklich. Und ich spreche nicht vom Vergnügen. Du darfst nicht glauben, wenn man hüpft, tanzt, schreit und spielt, sei man eins mit den göttlichen Kräften – man kann es sein, man kann es auch nicht sein. Davon spreche ich nicht. Ich spreche von der göttlichen Freude, der inneren Freude, die ungetrübt ist.

Jedes Mal, wenn ein Schatten vorüberzieht, bei etwas, das einfach ein Unbehagen sein mag, oder bei etwas, aus dem ein großer Schmerz oder ein unerträgliches Leiden werden kann, auf der ganzen Skala vom Kleinsten bis zum Größten –, sobald das in deinem Wesen erscheint, kannst du dir sagen: „So, der Feind ist da!“ – in dieser oder jener Form.

Worte der Mutter

Alle Entsagung geschieht für eine größere, noch unerlangte Freude. Manche entsagen für die Freude der Pflichterfüllung, manche für die Freude des Friedens, manche für die Gottesfreude und manche für die Freude an der Selbstquälerei. Doch entsage lieber als Durchgang in die Freiheit und die ungestörte Verzückung darüber. (Sri Aurobindo)

Ich habe selten diese Erfahrung der Entsagung, des Verzichtens gehabt – damit es Verzicht gebe, muss man an etwas hängen, und immer war da dieser Durst, dieser Drang weiterzugehen, höherzusteigen, besser zu fühlen, es besser zu machen, etwas Besseres zu erlangen. Und statt des Gefühls von Verzicht hat man eher den Eindruck von glücklichem Loswerden – man entledigt sich einer Sache, die einen beeinträchtigt und belastet, am Schreiten hindert. Das ist es, was ich neulich sagte: Wir sind noch all das, was wir nicht mehr sein wollen, während Er all das ist, was wir werden wollen – was wir in unserer egoistischen Dummheit „wir“ nennen, ist genau das, was wir nicht mehr sein wollen, und wir wären so glücklich, wenn wir all das abwerfen könnten, all das loswerden könnten, um das zu werden, was wir sein wollen.

Das ist eine sehr lebendige Erfahrung.

Der einzige Vorgang, den ich gekannt habe und der sich in meinem Leben mehrmals wiederholt hat, ist der Verzicht auf einen Irrtum: auf etwas, das man für wahr hält – das wohl für eine gewisse Zeit wahr gewesen ist –, worauf man teilweise sein Handeln stützte und das tatsächlich nur eine Meinung war. Man dachte, es sei eine wahre Einschätzung mit all ihren logischen Konsequenzen und gründete darauf sein Handeln – einen Teil des Handelns –, und alles folgte automatisch. Und plötzlich wird man durch eine Erfahrung, einen Umstand oder eine Eingebung gewarnt, dass die eigene Einschätzung nicht ganz so richtig ist, wie es den Anschein hatte. Dann kommt eine längere Zeit des Beobachtens, des Erforschens, oder manchmal kommt es als Enthüllung, als durchschlagender Beweis. Und nicht nur die Idee und das falsche Wissen, sondern auch die Konsequenzen gilt es zu ändern – vielleicht eine ganze Wirkensweise an irgendeinem Punkt. Und in dem Augenblick hat man eine Art Empfindung, die jener des Verzichtens gleicht, was bedeutet, dass man ein ganzes Gebäude von Dingen aufgeben muss – manchmal kann das recht weitreichend sein, manchmal ist es eine Kleinigkeit, die Erfahrung aber ist dieselbe: die Bewegung einer Kraft, einer Macht, die auflöst, und auch der Widerstand von allem Aufzulösenden, aller vergangenen Gewohnheiten. Und diese Bewegung der Auflösung mit dem entsprechenden Widerstand ist es, die sich dem gewöhnlichen menschlichen Bewusstsein als Gefühl des Verzichtens überträgt…

In dem Maße, wie das Wesen sich entwickelt, wächst diese Macht des Auflösens, wird immer unmittelbarer, und der Widerstand nimmt ab.

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