Kapitel 7
Entsage – nicht dem Leben, sondern dem Irrtum
Worte Sri Aurobindos
Wie weit soll diese Entsagung gehen? Was ist ihre Natur, und in welcher Weise sollen wir sie anwenden? Es gibt eine fest gegründete Tradition, die lange Zeit von hohen religiösen Lehren und von Menschen mit einer tiefen spirituellen Erfahrung angepriesen wurde: Die Entsagung solle nicht nur als eine Disziplin vollständig sein, sondern sie sei auch als Zweck und Ziel der Vervollkommnung etwas Definitives und Endgültiges. Sie solle demnach nichts Geringeres sein als ein Verzicht auf das Leben und auf unsere Existenz in der Welt…
Darum soll die Entsagung für uns nur ein Instrument und kein Ziel sein. Sie kann auch nicht das einzige oder hauptsächliche Hilfsmittel sein, da es unsere Absicht ist, das Göttliche im menschlichen Wesen zur Erfüllung zu bringen, ein positives Ziel, das nicht durch negative Mittel erlangt werden kann. Die negativen Mittel können nur dazu dienen, das auszumerzen, was der positiven Erfüllung im Wege steht. Es muss eine Entsagung sein, ein vollständiger Verzicht auf alles, was von anderer Art ist als die göttliche Selbst-Erfüllung und was ihr entgegensteht, ein progressiver Verzicht auf alles, was nur ein geringeres oder nur ein teilweises Vollbringen ist. Wir sollen nicht an unserem Leben in der Welt hängen. Besteht ein solches Gebundensein, sollen wir es aufgeben und ihm völlig entsagen, doch sollen wir auch keinerlei Bindung dazu haben, aus der Welt zu fliehen, uns zu erlösen und in die große Selbst-Vernichtung einzugehen. Wenn eine solche Gebundenheit besteht, müssen wir auch dieser entsagen und sie völlig aufgeben.
Wiederum muss unsere Entsagung offensichtlich ein innerer Verzicht sein, besonders und vor allem ein Verzicht auf das Verhaftetsein und das brennende Verlangen des Begehrens in den Sinnen und im Herzen, auf den egoistischen Willen im Denken und Handeln und auf den Egoismus im Zentrum des Bewusstseins. Denn diese Dinge sind die drei Knoten, mit denen wir an unsere niedere Natur gebunden sind, und wenn wir uns von ihnen ganz losmachen können, gibt es nichts mehr, was uns noch binden könnte. Darum müssen Bindung und Verlangen vollständig ausgemerzt werden. Wir dürfen an nichts in der Welt gebunden sein, weder an Reichtum noch an Armut, weder an Freude noch an Leid, weder an das Leben noch an den Tod, weder an Großes noch an Kleines, weder an Laster noch an Tugend, auch nicht an den Freund, die Frau und die Kinder, an unser Land, an unser Werk und unsere Mission, weder an den Himmel noch an die Erde, an nichts, was in ihnen und jenseits von ihnen existiert. Das bedeutet aber nicht, dass es überhaupt nichts gäbe, was wir lieben, und nichts, woran wir Freude haben dürfen. Denn Bindung ist Egoismus in der Liebe und nicht die Liebe als solche, Begehren ist eine Beschränkung und eine Unsicherheit in einem Hunger nach Vergnügen und Befriedigung und nicht ein Suchen nach der tiefen göttlichen Freude in den Dingen. Wir müssen zu einer universalen Liebe kommen, die ruhig und doch ständig intensiv ist, weit über die schnell vergängliche Heftigkeit der verzehrenden Leidenschaft hinaus, zu einer tiefen Freude an den Dingen, die ihre Wurzeln in einer Seligkeit in Gott hat und die nicht an ihren äußeren Formen hängenbleibt, sondern an dem, was sie in der Tiefe verbergen, und die das ganze Universum umarmt, ohne sich in seinen Maschen zu verfangen.

Worte Sri Aurobindos
Die Seele muss von innen her alle Dinge aufgeben, an die sie gebunden ist, um das zu gewinnen, was jene in ihrer Wirklichkeit eigentlich sind. Die nur äußere Entsagung ist gewiss nicht das Wesentliche, aber auch sie ist eine Zeitlang notwendig, in vielen Beziehungen unentbehrlich und manchmal in allen Dingen nützlich. Wir können sogar sagen, dass eine vollständige äußere Entsagung eine Stufe ist, durch die die Seele während einer gewissen Periode ihres Fortschritts hindurchgehen muss – doch sollte das immer ohne jene eigenwilligen Gewaltsamkeiten und strengen Selbst-Quälereien geschehen, durch die wir das Göttliche beleidigen, das in unserem Inneren wohnt. Doch letztendlich bleiben Entsagung und Selbstverleugnung immer nur Mittel zum Zweck, und die Periode ihrer Nützlichkeit geht vorüber. Die Zurückweisung des Objekts ist nicht länger notwendig, wenn es uns nicht länger in seinen Schlingen fangen kann, weil die Seele sich nicht mehr an dem Objekt als Objekt erfreut, sondern an dem Göttlichen, das es zum Ausdruck bringt. Die Unterbindung des Vergnügens ist nicht mehr notwendig, wenn die Seele nicht mehr das Vergnügen sucht, sondern in allen Dingen gleichermaßen die selige Freude des Göttlichen besitzt und darum die Sache als solche nicht mehr persönlich oder physisch zu besitzen braucht. Die Selbstverleugnung verliert ihren Wirkungskreis, wenn die Seele nichts mehr beansprucht, sondern bewusst dem Willen des einen, allem innewohnenden Selbstes gehorcht. Dann erst sind wir befreit vom Gesetz und entlassen in die Freiheit des Geistes.
Wir müssen also dazu bereit sein, auf unserem Weg nicht nur das hinter uns zu lassen, was wir als das Böse brandmarken, sondern auch das, was uns als das Gute erscheint, das dennoch nicht das einzig Gute ist. Es gibt nützliche und hilfreiche Dinge, die vielleicht zu einer gewissen Zeit als das einzig Erwünschte erscheinen, doch wenn sie ihr Werk getan und ihr Ziel erreicht haben, werden sie zu Hindernissen, gar feindlichen Kräften, wenn an uns der Ruf ergangen ist, über sie hinauszugehen. Es gibt wünschenswerte Zustände der Seele, bei denen stehenzubleiben dann gefährlich ist, wenn wir über sie Meister geworden sind, denn dann steigen wir nicht weiter empor zu den umfassenderen Königreichen Gottes jenseits von ihnen. Selbst an die göttlichen Verwirklichungen darf man sich nicht klammern, wenn sie nicht die göttliche Verwirklichung in ihrer äußersten Wesenhaftigkeit und Vollständigkeit sind. Wir dürfen bei nichts Geringerem Halt machen als bei der Ganzheit und nicht ruhen, bevor wir die äußerste Transzendenz erlangt haben. Wenn wir so im Geist frei sein können, werden wir all die Wunder im Wirken Gottes entdecken. Wir werden entdecken, dass wir durch den inneren Verzicht nichts verloren haben. „Wenn du dieses alles aufgibst, sollst du zur Freude an der Ganzheit gelangen.“ Alles wird für uns aufbewahrt und uns wieder zurückerstattet, aber mit einer wunderbaren Veränderung und Umgestaltung in das All-Gute, das All-Schöne, in das All-Licht und in die All-Seligkeit von Ihm, der ewig ohne Makel und unendlich und das Mysterium und das Wunder ist, das durch alle Zeitalter hindurch nie aufhört.

Worte der Mutter
Diese Idee des vollständigen Entsagens aller physischen Realität, die tiefe Verachtung für die materielle Welt, die als eine Illusion und eine Falschheit angesehen wird, lässt, wie Sri Aurobindo immer sagte, der unumschränkten Gewalt der feindlichen Kräfte ein freies Feld. Wenn du dich aus der konkreten Wirklichkeit davonmachst, um eine abstrakte und ferne Wirklichkeit zu suchen, überlässt du den ganzen Raum dieser konkreten Verwirklichung der Verfügungsgewalt der feindlichen Kräfte – die sich seiner bemächtigt haben und ihn jetzt mehr oder weniger beherrschen –, um das zu verwirklichen, was Sri Aurobindo hier eine Null oder eine leere Einheit nennt – um Herrscher über ein Nichts zu werden. Es ist die Rückkehr in das Nirvana. Diese Idee lebt überall auf der Welt, doch in unterschiedlichen Ausdrucksformen.
Der Grund liegt darin, dass man bis dahin dem Bösen mit Schwäche begegnet ist, mit einer spirituellen Kraft ohne jede Macht zur Transformation der materiellen Welt, so dass diese gewaltige Bemühung des guten Willens nur in einem kläglichen Misserfolg endete und die Welt in demselben Zustand des Elends, der Korruption und Falschheit gelassen hat. Man muss auf derselben Ebene wie jener, auf der die feindlichen Kräfte herrschen, eine größere Macht als sie haben, die imstande ist, sie in diesem Bereich vollkommen zu besiegen. Anders ausgedrückt, eine spirituelle Kraft, die in der Lage wäre, beides umzuwandeln, das Bewusstsein und die materielle Welt. Diese Kraft ist die supramentale Kraft. Dazu ist es notwendig, auf der physischen Ebene für ihr Wirken empfänglich zu sein und nicht in ein fernes Nirvana zu flüchten und dem Feind die unumschränkte Vollmacht über das Preisgegebene zu überlassen.
Weder Opfer noch Verzicht noch Schwäche können den Sieg erringen. Nur die Wonne kann es, eine Freude, die Kraft ist, die Ausdauer ist, die höchster Mut ist ‑ die Wonne, die von der supramentalen Kraft kommt. Das ist weitaus schwieriger, als alles im Stich zu lassen und davonzulaufen. Es erfordert einen unendlich viel größeren Heldenmut – aber es ist die einzige Möglichkeit zu siegen.
