Kapitel 6

Yoga-Praxis unter weltlichen Bedingungen

Worte der Mutter

Freunde von außen haben mir oft die Frage gestellt: „Wenn man genötigt ist, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, soll man sich dann einfach an die landläufigen Vorstellungen von Ehrlichkeit halten, oder sollte man noch strikter sein?“

Es kommt auf die Einstellung an, die dein Freund im Leben angenommen hat. Will er ein Sadhak sein, dürfen die Regeln der gewöhnlichen Moral für ihn nicht den geringsten Wert haben. Ist er dagegen ein gewöhnlicher Mensch, der ein gewöhnliches Leben führt, ist es eine rein praktische Frage, denn er muss sich ja nach den Gesetzen des Landes richten, in dem er lebt, um keine Scherereien zu bekommen! Aber all diese Dinge, die im gewöhnlichen Leben von ganz relativem Wert sind und einigermaßen nachsichtig beurteilt werden, ändern sich von der Minute an völlig, in der man beschließt, Yoga zu praktizieren und ins göttliche Leben einzutreten. Dann ändern sich alle Werte von Grund auf. Was im gewöhnlichen Leben als ehrlich gilt, ist es nun überhaupt nicht mehr. Es tritt eine derartige Umwertung ein, dass die gewöhnliche Sprache kaum mehr verwendet werden kann. Will man sich dem göttlichen Leben weihen, muss man es wahrhaftig tun, das heißt sich ganz und gar geben, nichts mehr im eigenen Interesse tun, ausschließlich von der göttlichen Macht abhängen, der man sich hingibt. Alles ändert sich durch und durch, alles, alles, es ist eine Umkehr. Was ich vorhin aus diesem Buch vorlas, gilt einzig für jene, die Yoga praktizieren wollen. Für andere enthält das keinen Sinn, ist es eine Sprache, die des Sinns entbehrt – doch für die, die Yoga praktizieren wollen, ist es unbedingt notwendig. Bei allem, was wir in letzter Zeit gelesen haben, geht es um dasselbe: Man muss sich hüten, mit einem Bein hier und mit dem anderen dort zu stehen – oder auf zwei verschiedenen Booten zu segeln, wovon jedes seinen eigenen Kurs verfolgt. Das meinte Sri Aurobindo, als er davor warnte, ein Doppelleben zu führen. Das eine oder das andere muss man lassen – beides zusammen geht nicht.

Allerdings heißt das nicht, dass man aus den Bedingungen seines Lebens heraustreten muss: Die innere Haltung ist es, die sich ändern muss. Man mag das Gewohnte tun, aber mit einer ganz anderen Einstellung. Man braucht sich also nicht von allen Dingen des Lebens loszusagen und in die Einsamkeit, in einen Ashram zu gehen, um Yoga zu tun. Gewiss ist es schwerer, Yoga in der Welt und unter den Gegebenheiten der Welt zu tun, doch ist es auch vollständiger. In jeder Minute steht man da Problemen gegenüber, die sich dem nicht bieten, der alles verlassen hat und in die Einsamkeit gegangen ist. Für jenen sind die Probleme auf ein Minimum reduziert – während man aber im Leben allen möglichen Schwierigkeit begegnet, angefangen mit dem Unverständnis der Leute um einen herum und mit denen man zu tun hat. Dem muss man gewachsen sein, mit Geduld gewappnet, und mit großem Gleichmut. Im Yoga darf man sich nicht mehr darum kümmern, was die Leute denken oder sagen. Das ist eine absolut unerlässliche Voraussetzung. Du musst vollkommen immun sein gegen das, was die Welt von einem sagen oder denken mag und gegen die Art, wie sie einen behandelt. Das öffentliche Verständnis muss dir vollkommen gleichgültig sein und sollte dich nicht im Geringsten berühren. Deshalb ist es im Allgemeinen weitaus schwieriger, in seiner gewohnten Umgebung zu bleiben und Yoga zu praktizieren, als alles zu verlassen und in die Einsamkeit zu gehen. Das ist viel schwieriger, aber wir sind nicht hier, um einfache Dinge zu tun – die einfachen Dinge überlassen wir jenen, die nicht an Umwandlung denken.