6. Kapitel

Nirvana und Wirken in der Welt

6.1
Der Erhabene sprach:
Wer das Werk tut, das vollbracht werden muss, ohne Hinsicht auf dessen Frucht, ist der Sannyasin und der Yogin; nicht jener, der keine Opferfeuer entzündet und keine Werke verrichtet.

6.2
Was man Entsagung (Sannyasa) nennt, wisse, O Pandava, ist in Wahrheit Yoga. Denn niemand wird ein Yogin, der nicht in seinem Mental dem Willen seines Begehrens entsagt hat.

Zuerst unterstreicht der Lehrer – und das ist sehr bezeichnend – seine oft wiederholte Beteuerung, das wirkliche Wesen von Sannyasa sei inneres, nicht äußeres Entsagen. „Wer immer das Werk tut, das getan werden muss, ohne zurückzugreifen auf seine Früchte, der ist der Sannyasin und der Yogin. Das ist nicht der Mensch, der nicht das Opferfeuer anzündet und keine Werke tut. Wisse, dass das, was sie Entsagung (Sannyasa) nennen, in Wahrheit Yoga ist! Denn niemand wird ein Yogin, der sich nicht mental vom Begehrens-Willen losgesagt hat.“ Werke müssen getan werden, aber zu welchem Zweck und innerhalb welcher Ordnung? (240)

6.3
Für den Weisen, der den Berg des Yoga emporsteigt, liegt die Ursache im Handeln. Für denselben Weisen, der den Gipfel des Yoga erreicht hat, liegt die Ursache in der Selbstbemeisterung.

Zuerst müssen sie getan werden, während wir den Berg des Yoga emporsteigen, denn da sind die Werke die Ursache, kāraṇam. Ursache wessen? Die Ursache der Selbst-Vervollkommnung, der Befreiung, des Nirvana im Brahman. Denn wenn wir die Werke stets mit innerer Entsagung tun, bringen wir diese Vervollkommnung, diese Befreiung, diesen Sieg über das Begehrens-Mental, das Ego-Selbst und die niedere Art leicht zustande.

Was aber, wenn man auf dem Gipfel angelangt ist? Dann sind die Werke nicht mehr die Ursache. Dann wird die Ruhe der Herrschaft des Selbsts und des Selbstbesitzes, die wir durch das Wirken gewonnen haben, zur Ursache. Wieder fragen wir: Zur Ursache wovon? Ursache der Festigung im Selbst, der Gründung im Brahman-Bewusstsein und der vollendeten Gelassenheit, in der die göttlichen Werke des befreiten Menschen getan werden. (240)

6.4
Wenn ein Mensch nicht mehr an den Gegenständen der Sinne oder am Wirken hängt und in seinem Mental jeglichem Willen des Begehrens entsagt hat, dann sagt man von ihm, er sei bis zum Gipfel des Yoga emporgestiegen.

Das ist der Geist, in dem der befreite Mensch wirkt. Er verrichtet seine Werke ohne Begehren und Bindung, ohne den egoistischen persönlichen Willen und das mentale Suchen, das die Ursache des Begehrens ist. Er hat sein niederes Selbst besiegt. Er hat die vollkommene Ruhe gewonnen, in der ihm sein höchstes Selbst offenbar geworden ist. Dies höchste Selbst, das stets in seinem eigenen Wesen, samāhita, in Samadhi konzentriert ist, hat er nun nicht nur in der Verzückung des nach innen gezogenen Bewusstseins, sondern immer, auch im Wachzustand des Mentals, wenn es den Ursachen des Begehrens und der Störung seiner Ruhe ausgesetzt ist, wenn all die Dualitäten einwirken, Hitze und Kälte, Ehre und Schande, śītoṣṇa-sukhaduḥkheṣu tathā mānāpamānayoḥ. Dieses höhere Selbst ist das Akshara. (240-41)

6.5
Durch das Selbst sollst du das Selbst befreien. Du solltest das [niedere] Selbst nicht entmutigen und nicht erniedrigen (weder indem du ihm nachgibst, noch indem du es unterdrückst). Denn das [höhere] Selbst ist der Freund des [niederen] Selbstes, und das [niedere] Selbst ist auch der Feind.

6.6
Sein Selbst ist für den Menschen sein Freund, in dem das (niedere) Selbst durch das (höhere) Selbst bezwungen worden ist. Wenn aber jemand nicht im Besitz seines (höheren) Selbstes ist, dann ist das (niedere) Selbst gleichsam ein Feind und handelt wie dieser.

6.7
Hat einer sein [niederes] Selbst bezwungen und hat die Stille einer vollkommenen Selbst-Herrschaft und eines völligen Selbst-Besitzes erlangt, dann ist das höchste Selbst in ihm zum Fundament geworden und ausgeglichen (sogar in seinem äußeren bewussten menschlichen Wesen) in Kälte und Hitze, Freude und Schmerz, wie auch in Ehre und Unehre.

6.8
Hat ein Yogin Genüge in der Selbst-Erkenntnis gefunden, ist er ruhig und ausgeglichen in seinem Selbst, Meister seiner Sinne und schätzt den Erdklumpen gleich dem Stein und dem Gold, dann sagt man von ihm, er sei im Yoga [gegründet].

Das höhere Selbst ist das Akshara. Es ist kūṭastha und steht über den Veränderungen und Erschütterungen des natürlichen Wesens. Und von dem Yogin wird gesagt, er ist im Yoga mit diesem höheren Selbst, wenn er ebenso ist wie es, kūṭastha, wenn er erhaben über allen äußeren Erscheinungen und Veränderungen steht, wenn er zufrieden ist in der Selbst-Erkenntnis, wenn er allen Dingen, Ereignissen und Personen gegenüber gleichmütig ist. (241)

Mit anderen Worten liegt der Weg zur Vollkommenheit und Befreiung des Menschen darin, dass er Herr wird über das niedere Selbst durch das höhere, über das natürliche durch das spirituelle Selbst. (218)

Aber es ist schließlich keine leichte Sache, diesen Yoga zu erlangen, wie Arjuna kurz danach hervorhebt. Denn das ruhelose Mental ist stets in Gefahr, durch die Angriffe äußerer Dinge von diesen Höhen heruntergezogen zu werden und unter die starke Herrschaft von Kummer, Leidenschaft und Unausgeglichenheit zurückzufallen. Wahrscheinlich gibt uns die Gita deshalb zu der allgemeinen Methode von Wissen und Wirken noch ein besonderes Verfahren der Meditation im Raja-Yoga, eine machtvolle praktische Methode, abhyāsa, eine strenge Disziplin, um die vollständige Kontrolle über das Mental und all seine Wirkensweisen zu erlangen. (241)

6.9
Wer in seiner Seele von gleicher Gesinnung zu Freund und Feind, zum Neutralen und Gleichgültigen und ebenso zum Sünder und zum Heiligen ist, ragt hervor.

6.10
Der Yogin soll ständig das Einswerden mit dem Selbst üben (so dass dies zu seinem normalen Bewusstsein wird), indem er abgesondert und allein sitzt, alles Verlangen und jeden Gedanken an Besitz aus seinem Mental verbannt und in seinem ganzen Wesen und Bewusstsein selbstbeherrscht ist.

6.11-12
An einem sauberen Ort soll er seinen festen Sitz errichten, der weder zu hoch, noch zu niedrig ist, mit einem Tuch bedeckt, einem Rehfell und mit heiligem Gras; dort soll er mit einem konzentrierten Mental sitzen und in voller Beherrschung der Wirkensweisen des mentalen Bewusstseins und der Sinne. So soll er zur Selbst-Läuterung den Yoga üben.

6.13-14
Seinen Körper, sein Haupt und seinen Nacken soll er dabei aufrecht und bewegungslos halten (in der Stellung, die zur Ausübung des Raja-Yoga üblich ist), die Schau soll nach innen gerichtet und zwischen den Augenbrauen fixiert sein, er soll nicht in der Gegend herumschauen, das mentale Wesen soll still gehalten werden und frei von Furcht, das Gelübde des Brahmacharya soll eingehalten und das ganze beherrschte innere Wesen Mir (dem Göttlichen) zugewandt sein. So muss er fest im Yoga sitzen und Mir gänzlich hingegeben sein (so dass die niedere Wirkensweise des Bewusstseins eingetaucht ist in den höheren Frieden).

6.15
Versetzt sich der Yogin so beständig durch Beherrschung seiner mentalen Kräfte in Yoga, erlangt er den erhabenen Frieden des Nirvana, der in Mir gegründet ist.

Und doch ist, solange wir noch leben, das Ergebnis kein Nirvana, das jede Möglichkeit des Wirkens in der Welt, jede Beziehung zu den Wesen in der Welt ausschließt. Zunächst könnte es so aussehen, als müsste das so sein. Wenn alles Begehren und alle Leidenschaften aufgehört haben, wenn es dem mentalen Wesen nicht mehr erlaubt ist, sich im Denken auszubreiten, wenn das Praktizieren dieses schweigenden, einsamen Yoga zur Regel wurde, welche weitere Aktion, welche Beziehung zur Welt der äußeren Einwirkungen und veränderlichen Erscheinungen ist noch möglich? Zweifellos verbleibt der Yogin noch eine Zeitlang im Körper. Aber die Höhle, der Wald, der Berggipfel erscheinen nun als der geeignetste, der einzig mögliche Schauplatz für sein fortdauerndes Leben, die ständige Ekstase des Samadhi als seine einzige Freude und Beschäftigung. Erstens wird aber das Entsagen jeder anderen Tätigkeit, während man diesen einsamen Yoga praktiziert, von der Gita nicht empfohlen. (243)

6.16
Dieser Yoga ist wahrlich nichts für jemanden, der zu viel isst oder zu viel schläft; und ebenso, O Arjuna, ist er auch nichts für jemanden, der auf Schlafen und Essen verzichtet.

6.17
Yoga hebt alle Sorge auf für jenen, dem all sein Schlafen und Wachen, Essen, Spielen, sein mühevoller Einsatz im Wirken yukta sind.

yukta: Im Allgemeinen wird das so ausgelegt, als bedeute es, alles solle gemäßigt, wohlgeordnet, im rechten Maß getan werden. Das mag auch die Bedeutung sein. Immerhin muss aber, wenn der Yoga erlangt ist, dies alles yukta getan werden in einem anderen, dem überall sonst in der Gita gebräuchlichen Sinn des Wortes. In jeglichem Zustand, im Wachsein und Schlafen, beim Essen, Spielen und Arbeiten wird der Yogin im Yoga mit dem Göttlichen sein. Alles wird von ihm in dem Bewusstsein getan werden, dass das Göttliche das Selbst und das All und all das ist, was sein eigenes Leben und Wirken fördert und in sich enthält. Begehren, Ego, persönlicher Wille und das Denken des Mentals sind nur in der niederen Art Motive des Handelns. Wenn das Ego überwunden ist und der Yogin zum Brahman wird, wenn er in einem transzendenten und universalen Bewusstsein lebt und sogar zu diesem wurde –, kommt das Handeln spontan aus jenem hervor. Eine lichtvolle Erkenntnis, die höher ist als das mentale Denken, entspringt aus jenem. Eine Macht, die anders und mächtiger ist als der persönliche Wille, kommt aus jenem, um für ihn seine Werke zu tun und ihre Früchte zu bringen. Persönliches Handeln hat aufgehört. Alles ist in das Brahman emporgehoben und vom Göttlichen angenommen worden, mayi sannyasya karmāṇi.(243-44)

6.18
Wenn das ganze mentale Bewusstsein vollkommen beherrscht wird und befreit ist vom Verlangen und still im Selbst verharrt, dann sagt man von einem solchen Menschen, „er ist im Yoga gegründet“.

6.19
Regungslos wie das Licht einer Lampe an einem windstillen Ort ist das unter Kontrolle gehaltene Bewusstsein des Yogins, der das Einswerden mit dem Selbst übt (es ist frei von seiner ruhelosen Betätigung, abgeschlossen von seiner äußeren Bewegung).

6.20
(Yoga ist) das, worin das Mental durch die Praxis des Yoga still wird; das, worin das Selbst im Selbst vom Selbst geschaut wird (geschaut, dass heißt selbst-erkannt durch das Selbst, svaprakāśa, und nicht so, wie es uns fehlerhaft oder unvollständig vom Mental durch das Ego dargestellt wird), und worin die Seele zu ihrer Erfüllung kommt.

6.21
(Yoga ist) das, worin die Seele ihre eigene wahre und höchste Seligkeit erkennt; was von der Intelligenz wahrgenommen wird und jenseits der Sinne liegt; worin die Seele gegründet ist und darum nicht mehr aus der spirituellen Wahrheit ihres Seins herausfallen kann.

Das ist nicht die ruhelose Fröhlichkeit, die dem Mental und den Sinnen eigen ist, sondern eine innerliche, heiter-gelassene Glückseligkeit, in der das Selbst sicher ist vor den Verwirrungen des Mentals und nicht mehr abfallen kann von der spirituellen Wahrheit seines Seins. (242)

Der Haupt-Nachdruck wird hier auf das Stilllegen des gefühlsbetonten Mentals, auf das Mental des Verlangens und der Sinne gelegt, die die Einwirkungen von außen empfangen und mit unseren gewohnten emotionalen Reaktionen antworten. Aber auch das mentale Denken muss im Schweigen des selbst-seienden Wesens beruhigt werden. (242)

6.22
(Yoga ist) das Größte, das ein Mensch gewinnen kann, und der Schatz, neben dem alles andere seinen Wert verliert. Ist einer sicher darin gegründet, wird er auch durch den heftigsten Ansturm mentalen Kummers nicht überwältigt.

6.23
(Yoga ist) das, was die Berührung mit dem Schmerz beseitigt, die Trennung jener innigen Verbindung des Mentals mit dem Kummer. Das feste Erlangen dieser unveräußerlichen spirituellen Seligkeit ist Yoga; es ist die göttliche Vereinigung. Diesen Yoga muss man mit aller Entschlossenheit praktizieren, ohne sich durch Schwierigkeiten oder Fehlschläge entmutigen zu lassen (bis die Befreiung, bis die Seligkeit des Nirvana als sicherer Besitz für immer gewonnen ist).

6.24-25
Man soll ohne Ausnahme und Vorbehalt alle Begehrlichkeiten aufgeben, die im Begehrens-Willen ihren Ursprung haben, und die Sinne durch das Mental so binden, dass sie nicht nach allen Seiten ausschweifen (wie es ihre übliche, Ärgernis erregende und ruhelose Gewohnheit ist). So wird man allmählich jede mentale Betätigung mittels Buddhi beenden, das fest im Griff gehalten wird. Und wenn das Mental im höheren Selbst fest verankert ist, sollte man an gar nichts mehr denken.

6.26
Wenn immer das rastlose und unruhige Mental nach außen schweift, sollte es kontrolliert und im Selbst zum dienenden Untertanen gemacht werden.

6.27
Wenn das Mental vollkommen zur Ruhe gebracht worden ist, dann kommt über den Yogin makellos und leidenschaftslos die höchste Seligkeit der Seele, die zum Brahman geworden ist.

6.28
Dergestalt vom Makel der Leidenschaft befreit, versetzt sich der Yogin beständig in den Yoga und erfreut sich leicht und froh der Berührung mit dem Brahman, was eine außerordentliche Seligkeit bedeutet.

6.29
Der Mensch, dessen Selbst im Yoga gegründet ist, sieht das Selbst in allen Wesen und alle Wesen im Selbst. Er sieht überall mit gleichwertigem Blick.

6.30
Der Mensch, der Mich überall sieht und alles in Mir schaut, für den gehe Ich nicht verloren, noch geht er Mir verloren.

Alles, was er sieht, ist für ihn das Selbst. Alles ist sein Selbst, alles ist das Göttliche. Besteht aber nicht die Gefahr, wenn er überhaupt noch in der Veränderlichkeit des Kshara lebt, dass er alle Ergebnisse dieses schwierigen Yoga verliert, dass er das Selbst verliert und in das Mental zurückfällt, dass das Göttliche ihn verliert und die Welt ihn wieder zurückbekommt, dass er das Göttliche verliert und an dessen Stelle das Ego und seine niedere Art zurückerhält? Nein, sagt die Gita. Denn dieser Friede des Nirvana ist zwar durch das Akshara gewonnen. Er ist aber auf das Wesen des Purushottama gegründet, mat-saṁsthām. Dieses ist in der Welt der Wesen ausgebreitet. Ebenso ist das Göttliche und das Brahman in der Welt der Wesen ausgebreitet. Obwohl es ihr gegenüber transzendent ist, ist es doch nicht in seine eigene Transzendenz eingesperrt. Man hat alle Dinge als ihn zu schauen und völlig in dieser Schau zu leben und zu handeln. Das ist die vollkommene Frucht des Yoga.

Aber warum handeln? Ist es nicht sicherer, wir bleiben in unserer Einsamkeit sitzen und schauen sozusagen von dort auf die Welt herab, betrachten sie im Brahman, im Göttlichen, nehmen aber keinen Anteil an ihr, bewegen uns nicht in ihr, leben nicht in ihr, handeln nicht in ihr, leben vielmehr für gewöhnlich im inneren Samadhi? Sollte das nicht das Gesetz, die Regel, das Dharma dieses höchsten spirituellen Zustands sein? Wieder ein Nein! Denn für den befreiten Yogin gibt es kein anderes Gesetz, keine andere Regel, kein anderes Dharma als einfach dies: Er soll im Göttlichen leben; er soll das Göttliche lieben; er soll eins sein mit allen Wesen. Seine Freiheit ist eine absolute und keine bedingte Freiheit, selbst-seiend und nicht mehr abhängig von irgendeiner Regel des Verhaltens, einem Gesetz des Lebens oder einer Einschränkung irgendwelcher Art. Er benötigt weiter keinen besonderen Yoga-Prozess mehr, denn er befindet sich jetzt beständig im Yoga. (244-45)

6.31
Der Yogin, der seinen Stand im Einssein eingenommen hat und Mich in allen Wesen liebt, lebt und handelt in Mir, auf welche Weise er auch immer leben und handeln mag.

Die Liebe zur Welt ist spiritualisiert. Sie ist umgewandelt von einer Sinnen-Erfahrung in eine Seelen-Erfahrung. Sie ist auf die Liebe zu Gott gegründet. In dieser Liebe entsteht keine Gefahr und kein Mangel. Furcht vor der Welt und Verachtung der Welt mögen oft notwendig sein, um sich aus der niederen Art zurückzuziehen. Denn in Wirklichkeit ist es die Furcht und die Abscheu unseres eigenen Ego, die sich in der Welt widerspiegelt. Wenn wir aber Gott in der Welt schauen, brauchen wir uns vor nichts zu fürchten. Wir umarmen alles im Wesen Gottes. Alles als das Göttliche schauen heißt, nichts zu hassen und nichts zu verachten, nur Gott in der Welt und die Welt in Gott zu lieben.

Müssen nicht zumindest jene Dinge der niederen Art zurückgewiesen und gefürchtet werden, die zu überwinden der Yogin so viele Schwierigkeiten auf sich genommen hat? Nein, auch das nicht! Alles wird angenommen in der Gelassenheit der Schau des Selbsts. (245)

6.32
Jener, O Arjuna, der mit Gleichmut alles in der Ebenbildlichkeit des Selbstes sieht, sei es Kummer oder sei es Glück, ist in Meinen Augen der höchste Yogin.

Damit ist ganz und gar nicht gemeint, dass dieser Yogin aus seiner kummerlosen spirituellen Seligkeit herausfällt und wieder all das Elend der Welt fühlt, auch nicht im Leid der anderen. Wenn er in den anderen das Spiel der Dualitäten sieht, das er selbst verlassen und überwunden hat, wird er vielmehr sie alle noch sehen, als seien sie er selbst; sein Selbst in allen und Gott in allen, unbeirrt und nicht verwirrt durch die äußeren Erscheinungen dieser Dinge, durch sie nur dazu getrieben, zu helfen und zu heilen, sich mit dem für alle Wesen Guten zu beschäftigen, die Menschen zur spirituellen Freude hinzuführen, dafür zu wirken, dass die Welt auf Gott hin vorwärtsschreitet. So wird er das göttliche Leben leben, solange ihm seine Tage auf dieser Erde zugemessen sind. Der Gott-Liebende, der dies tun kann, kann alle Dinge liebevoll in Gott umfassen. Er kann in Ruhe auf die niedere Art und auf die Werke der Maya in den drei Gunas schauen, in ihnen handeln und auf sie einwirken ohne Verwirrung, Rückfall oder Erschütterung, aus der Höhe und Macht spirituellen Einsseins, frei in der Weite der Gottes-Schau, gütig, groß und leuchtend in der Stärke der Gott-Natur. Ihn darf man wohl einen erhabenen Yogin nennen. Er hat in der Tat die Schöpfung überwunden, jitaḥ sargaḥ. (245-46)

6.33
Arjuna sprach:
Für einen solchen Yoga von der Art des Gleichmuts, wie Du ihn mir beschrieben hast, O Madhusudana, erkenne ich keine stabile Grundlage aufgrund der Ruhelosigkeit.

Als Arjuna die Natur des Yoga völlig erkennt, den anzunehmen Krishna von ihm fordert, ist seine pragmatische Natur, die gewohnt ist, aufgrund des mentalen Willens, nach dessen Vorliebe und nach seinem Begehren zu handeln, über dessen Schwierigkeit entsetzt und fragt, was das Ende der Seele sei, die das versuche und dabei versage… (27)

6.34
Wie rastlos ist doch das Denken, O Krishna! Heftig ist es, stark und unbesiegbar. Ich glaube, es ist ebenso schwer zu beherrschen wie der Wind.

6.35
Der Erhabene sprach:
Ohne Zweifel, O Starkarmiger, sind die mentalen Kräfte ruhelos und sehr schwer zu zügeln. Und doch, O Kaunteya, können sie durch ständige Praxis und Nicht-Bindung beherrscht werden.

6.36
Wer nicht selbstbeherrscht ist, kann diesen Yoga schwerlich erlangen. Durch Selbstbeherrschung ist er aber zu gewinnen, wenn die Bemühungen richtig gelenkt werden.

6.37
Arjuna sprach:
Wenn nun jemand den Yoga mit Glauben beginnt, aber die Selbstbeherrschung nicht durchhalten kann, weil die mentalen Kräfte im Yoga abschweifen, was ihn hindert, zur Vollkommenheit im Yoga zu gelangen –, was ist sein Ende, O Krishna?

6.38
Verliert er, O Starkarmiger, nicht beides: dieses Leben (des menschlichen Handelns, Denkens und Empfindens, die er hinter sich gelassen hat) und ebenso das Bewusstsein Brahmans, nach dem er trachtet? Muss er nicht, wenn er aus beidem herausfällt, zugrunde gehen wie eine sich auflösende Wolke?

6.39
Ich bitte Dich, O Krishna, zerstreue diesen meinen Zweifel völlig und lasse keinen Rest davon übrig. Denn es gibt niemanden als Dich, der diesen Zweifel zerstören kann.

6.40
Der Erhabene sprach:
O Sohn Prithas, weder in diesem Leben noch danach gibt es für ihn eine Vernichtung. Niemals gerät ein Mensch, der Gutes vollbringt, O Geliebter, ins Elend.

6.41
Ist er in der Welt der Gerechten angelangt und hat dort undenkliche Jahre gelebt, wird er, der vom Yoga abwich, wiedergeboren im Hause der Reinen und Ruhmreichen.

6.42
Oder er kann im Hause des weisen Yogin wieder zur Welt kommen. Gewiss ist solche Geburt selten in dieser Welt zu erlangen.

6.43
Dort gewinnt er den mentalen Zustand des Einsseins (mit dem Göttlichen) wieder, den er in seinem vorherigen Leben gestaltet hat. Und damit ringt er erneut um die Vollkommenheit, O Freude der Kurus.

6.44
Durch jene frühere Praxis des Yoga wird er unaufhaltsam vorwärtsgetrieben. Gerade der nach der Erkenntnis des Yoga Suchende gelangt über die Bereiche der Veden und der Upanishaden hinaus.

6.45
Der Yogin jedoch, der sich unablässig weiterbemüht, der geläutert ist von der Sünde, der sich durch viele Leben hindurch vervollkommnet, der erreicht das höchste Ziel.

6.46
Der Yogin ist größer als die, die Askese betreiben; größer als die Menschen des Wissens; größer als die Menschen des Wirkens. Darum werde du, O Arjuna, ein Yogin!

6.47
In Meinen Augen gilt von allen Yogins der als zutiefst geeint mit Mir im Yoga, der sein inneres Selbst völlig an Mich hingegeben hat und seinen Glauben und seine Liebe auf Mich richtet.

Die Gita hebt hier, wie überall, Bhakti als höchste Steigerung des Yoga hervor, sarvabhūtasthitaṁ yo māṁ bhajati ekatvam āsthitaḥ. Man könnte fast sagen, dass hier das ganze endgültige Ergebnis der Lehre der Gita zusammengefasst ist: Wer Gott in allen liebt und seine Seele auf das göttliche Einssein gegründet hat, der mag leben und handeln wie er will, er lebt und handelt in Gott. Und um es noch mehr zu betonen, kehrt, als Arjuna Einwendungen macht, der göttliche Lehrer in seiner Antwort auf die Zweifel, ob ein so schwieriger Yoga für das ruhelose Mental des Menschen überhaupt möglich sei, zu diesem Gedanken zurück und macht ihn zum Höhepunkt seiner Aussagen: „Der Yogin ist größer als die, die Askese betreiben; größer als die Menschen des Wissens; größer als die Menschen des Wirkens. Darum werde du, O Arjuna, ein Yogin!“ Ein solcher Yogin sucht und erlangt durch Wirken und Wissen, durch Askese oder durch irgendwelche anderen Mittel allein die Einung mit Gott. Er erstrebt kein spirituelles Wissen oder spirituelle Macht oder irgend etwas anderes um ihrer selbst willen. Denn in diesem Einssein mit Gott ist alles andere enthalten und über sich selbst hinausgehoben zur höchsten göttlichen Bedeutung. Aber unter den Yogins ist eben der Bhakta der größte. „In Meinen Augen gilt von allen Yogins der als zutiefst geeint mit Mir im Yoga, der sein inneres Selbst völlig an Mich hingegeben hat und seinen Glauben und seine Liebe auf Mich richtet“, śraddhāvān bhajate. Das ist das Schlusswort dieser ersten sechs Kapitel. Es enthält in sich den Keim zu allem Übrigen, den Keim von dem, was hier noch unausgesprochen bleibt und was nirgendwo völlig ausgesprochen wird. Denn immer ist und bleibt es ein Mysterium und ein Geheimnis, rahasyam, das höchste spirituelle Mysterium und das göttliche Geheimnis. (246)