Kapitel 6

Initiation

Worte Sri Aurobindos

Nichts kann dem Mental gelehrt werden, was nicht bereits als potentielles Wissen in der sich entfaltenden Seele des Geschöpfes enthalten ist. So ist auch die Vollkommenheit, deren der äußere Mensch fähig ist, nur eine Verwirklichung der ewigen Vollkommenheit des Geistes in seinem Innern. Wir erkennen das Göttliche und werden zum Göttlichen, weil wir Jenes bereits in unserer geheimen Natur sind. Alles Lehren ist ein Enthüllen, alles Werden ist ein Entfalten. Das Geheimnis liegt darin, wie man zum Selbst gelangt; die Mittel und der Vorgang dabei sind das Wissen vom Selbst und ein ständig wachsendes Bewusstwerden.

Gewöhnlich wird diese Enthüllung durch das Wort bewirkt, das Gehörte, shruta. Das Wort kann zu uns aus dem Innern kommen; es mag auch von außen her zu uns gelangen. In beiden Fällen ist es nur ein Vermittler, um das verborgene Wissen zur Auswirkung zu bringen. Das Wort im Innern kann die Äußerung der innersten Seele in uns sein, die immer für das Göttliche geöffnet ist; es mag auch das Wort des geheimen und universalen Lehrers sein, der in den Herzen aller seinen Sitz hat. Es gibt seltene Fälle, in denen man niemand anderen benötigt, das alles Übrige im Yoga dann Entfaltung unter dieser ständigen Einwirkung und Lenkung ist. Der Lotus des Wissens erschließt sich selbst von innen her durch die Macht der ihn bestrahlenden Lichtwirkungen, die von Jenem ausgehen, der im Lotus des Herzens wohnt. Es gibt wahrhaftig Große, aber wenige sind es, denen das Wissen aus dem Selbst im Innern in dieser Weise ausreicht und die nicht den beherrschenden Einfluss eines geschriebenen Buches oder lebenden Lehrers auf sich wirken zu lassen brauchen.

Gewöhnlich benötigt man das Wort von außen her als den Repräsentanten des Göttlichen, damit es bei dem Werk der Selbstentfaltung mithilft. Das mag entweder ein Wort aus der Vergangenheit oder das machtvollere Wort des lebenden Guru sein. In manchen Fällen dient dieses repräsentative Wort als Hilfsmittel für die innere Macht, um sie aufzuwecken und zu offenbaren. Das ist dann eine Art Konzession des allmächtigen und allwissenden Göttlichen an die allgemeine Gültigkeit eines Gesetzes, das die Natur beherrscht…

Wenn der Yoga durch ein empfangenes geschriebenes Shastra – ein Wort aus der Vergangenheit, das die Erfahrung früherer Yogins verkörpert –, gelenkt wird, kann dieses entweder durch eigenes persönliches Bemühen allein oder mit Hilfe eines Guru praktiziert werden. Dann wird das spirituelle Wissen durch Meditation über die gelehrten Wahrheiten gewonnen und durch ihre Verwirklichung in der persönlichen Erfahrung lebendig und bewusst gemacht; der Yoga schreitet durch die Ergebnisse vorgeschriebener Methoden fort, die in einer Schrift oder in einer mündlichen Tradition gelehrt und durch die Instruktionen des Meisters bestärkt und erhellt werden. Das ist eine engere Praxis, die aber sicher und innerhalb ihrer Grenzen effektiv ist, da sie einem wohlbekannten Weg zu einem lang vertrauten Ziel folgt.

Der Sadhaka des Integralen Yoga soll sich daran erinnern, dass kein geschriebenes Shastra mehr sein kann als nur ein teilweiser Ausdruck des ewigen Wissens, wenn auch seine Autorität noch so groß und sein Geist noch so umfassend ist. Er wird es verwenden, sich aber an keine, auch nicht an die höchste Schrift binden. Wo die Schrift tief, weit und umfassend ist, kann sie auf ihn Einfluss zum höchsten Guten ausüben und von unberechenbarer Wichtigkeit sein. Sie mag sich in seiner Erfahrung mit seinem eigenen Erwachen zu überragenden Wahrheiten und mit seiner Verwirklichung der höchsten Ergebnisse vereinigen. Sein Yoga kann lange Zeit hindurch von einer einzelnen oder von mehreren Schriften nacheinander bestimmt werden. Wenn der Yoga der Linie der großen Hindu-Tradition folgt, kann das etwa durch die Gita, die Upanishaden oder den Veda geschehen. Ein großer Teil der Entwicklung des Yogin kann in seinem Material auch eine reich variierte Erfahrung der Wahrheiten vieler Schriften umfassen; so kann er seine Zukunft durch all das bereichern, was das Beste in der Vergangenheit ist. Schließlich muss er aber doch seinen eigenen Standpunkt einnehmen; oder besser: er soll, wenn er es vermag, immer und von Anfang an – wie die Gita es formuliert – unabhängig von der geschriebenen Wahrheit in seiner eigenen Seele leben, über allem stehend, sabdabrahmativartate, was er je hörte und noch zu hören bekommt, srotavyasya srutasya ca. Denn er ist nicht der Sadhaka eines Buches oder vieler Bücher; er ist der Sadhaka des Unendlichen.

Worte der Mutter

(Die Mutter wendet sich an die Kinder) … Um ein Wissen wirklich zu besitzen, welches es auch sei, muss man es praktisch anwenden, das heißt, seine Natur beherrschen, um dieses Wissen in Taten ausdrücken zu können. Euch allen, die ihr hierhergekommen seid, hat man vieles gesagt; ihr seid mit einer Wahrheitswelt in Berührung gekommen, ihr lebt darin, die Luft, die ihr einatmet, ist voll davon; und doch, wie viele von euch wissen nicht, dass diese Wahrheiten keinen Wert haben, wenn sie nicht in die Tat umgesetzt werden, und dass es nutzlos ist, von Bewusstsein, Wissen, Gleichmut der Seele, Universalität, dem Unendlichen, der Ewigkeit, der höchsten Wahrheit, der göttlichen Gegenwart und von lauter solchen Dingen zu reden, wenn ihr euch nicht selbst anstrengt, um diese Dinge zu leben und sie in euch konkret zu fühlen! Und sagt nicht: „Ach, ich bin ja schon so viele Jahre hier! Ach, ich möchte schon einen Erfolg für meine Anstrengungen sehen!“ Man muss wissen, dass beharrlichste Bemühungen und eine ganz unnachgiebige Ausdauer nötig sind, um die kleinste Schwäche, die geringste Kleinlichkeit und Gemeinheit in seiner menschlichen Natur zu beherrschen. Was nützt es, von der göttlichen Liebe zu reden, wenn man nicht ohne Egoismus lieben kann? Was nützt es, von Unsterblichkeit zu reden, wenn man hartnäckig an der Vergangenheit und der Gegenwart hängt und nichts geben will, um alles zu empfangen?

Ihr seid noch sehr jung, aber alsbald muss man lernen: Um ans Ziel zu gelangen, muss man den Preis zahlen können, und um die höchsten Wahrheiten zu verstehen, muss man sie in seinem Alltag in die Tat umsetzen.

Worte der Mutter

Man muss in einer anderen Welt leben. Solange dein Mental für dich real ist, solange deine Art zu denken für dich etwas Wahres, Wirkliches, Konkretes ist, beweist das, dass du noch nicht dort bist. Man muss zuerst auf die andere Seite hinüber. Danach wirst du verstehen können, was ich sage.

Geh auf die andere Seite hinüber!

Es ist nicht wahr, dass man nach und nach verstehen kann, so ist es nicht. Diese Art Fortschritt ist nicht so. Wahrer ist es, dass man in einem Gehäuse eingeschlossen ist und dass in dem Gehäuse etwas geschieht, wie das Küken im Ei. Es ist dabei, sich da drin vorzubereiten. Es ist da drin. Man sieht es nicht. In der Schale geht etwas vor sich, aber außen sieht man nichts. Und erst wenn alles bereit ist, kommt die Befähigung, das Gehäuse zu durchstoßen und in das Licht des Tages hineingeboren zu werden.

Es ist nicht so, dass man immer wahrnehmbarer, sichtbarer wird: Man ist eingeschlossen – eingeschlossen –, und sensible Menschen haben sogar diese schreckliche Empfindung, dass man eingezwängt ist, dass man versucht, so hindurchzugehen, und dann steht man vor einer Wand. Und dann schlägt man dagegen, schlägt und schlägt, und man kommt nicht durch.

Und solange man sich darin befindet, ist man in der Falschheit. Und erst an dem Tag, an dem man durch die Göttliche Gnade das Gehäuse zerbrechen und in das Licht hinaustreten kann, ist man frei.

Das kann plötzlich geschehen, spontan, völlig unerwartet.

Ich glaube nicht, dass man allmählich durchbrechen kann. Ich glaube nicht, dass es etwas ist, das sich nach und nach abnutzt und mit der Zeit so dünn wird, dass man hindurchsehen kann. Ich kenne bisher keinen Fall dafür. Es ist vielmehr eine Art Ansammlung von Kraft im Innern, eine Intensivierung des Bedürfnisses und eine Ausdauer in der Anstrengung, die frei wird von aller Furcht, von aller Angst, von aller Berechnung; ein so zwingendes Bedürfnis, dass man sich nicht um die Konsequenzen sorgt.

Man ist wie Sprengstoff, dem nichts widerstehen kann, und man bricht aus seinem Gefängnis aus in ein blendendes Licht.

Danach kann man nicht mehr zurückfallen.

Es ist wahrlich eine neue Geburt.

Worte der Mutter

Solange du dir sagst: „Ja, das sehe ich, das kann ich anfassen, der Schmerz, an dem ich leide, der Hunger, der mich quält, der Schlaf, der mich schwerfällig macht, das ist wahr, das ist konkret…“, (Die Mutter lacht) bedeutet das, dass du noch nicht auf die andere Seite hinübergegangen ist, du bist nicht in den Geist hineingeboren.

(Schweigen)

Eigentlich lebt die große Mehrheit der Menschen in einem Gefängnis mit verschlossenen Türen und Fenstern; also ersticken sie, was ganz natürlich ist. Aber sie tragen den Schlüssel bei sich, der alle Türen und Fenster öffnet, und sie benutzen ihn nicht… Gewiss gibt es Zeiten, in denen sie nicht wissen, dass sie den Schlüssel besitzen; doch lange nachdem sie es erfahren haben, lange nachdem es ihnen gesagt worden ist, zögern sie, ihn zu benutzen, und zweifeln an seiner Macht, Türen und Fenster öffnen zu können, oder sogar daran, ob es überhaupt gut ist, die Türen und Fenster zu öffnen! Und selbst wenn sie das Gefühl haben, dass „im Grunde es vielleicht gut wäre“, bleibt eine Furcht: „Was wird passieren, wenn diese Türen und diese Fenster offen sind?…“ Und sie haben Angst. Sie haben Angst, sich in diesem Licht und in dieser Freiheit zu verlieren. Sie wollen „sie selbst“ bleiben, wie sie es nennen. Sie mögen ihre Falschheit und ihre Fesseln. Etwas in ihnen mag das und klammert sich daran fest. Sie haben den Eindruck, dass sie ohne ihre Grenzen nicht länger existieren würden.

Deshalb ist die Reise so lang, deshalb ist sie so schwierig. Denn wenn man wirklich einwilligte, nicht mehr zu sein, würde alles so leicht, so rasch, so lichtvoll, so freudvoll werden – aber vielleicht nicht in der Art, wie die Menschen sich Freude und Leichtigkeit vorstellen. Im Grunde gibt es nur sehr wenige Menschen, die den Kampf nicht mögen. Es gibt nur sehr wenige, die dem Nichtvorhandensein der Nacht zustimmen könnten und die das Licht nicht bloß als Gegensatz zur Dunkelheit begreifen: „Kein Bild ohne Schatten. Ohne Kampf kein Sieg. Ohne Leiden keine Freude.“ So denken die meisten, und solange man so denkt, ist man noch nicht in den Geist hineingeboren.

Worte Sri Aurobindos

Aller Yoga ist seiner Natur nach eine neue Geburt; es ist eine Geburt aus dem gewöhnlichen, dem mentalisierten materiellen Leben des Menschen hinein in ein höheres spirituelles Bewusstsein und in ein größeres göttlicheres Sein. Kein Yoga kann erfolgreich unternommen und fortgeführt werden, wenn es nicht ein starkes Erwachen zur Notwendigkeit dieser umfassenderen spirituellen Existenz kommt. Die Seele, die zu dieser tiefen und weiten Wandlung aufgerufen ist, kann auf verschiedene Weise zum Ausgangspunkt ihres Weges gelangen. Sie mag durch ihre eigene natürliche Entwicklung, die sie unbewusst zum Aufwachen hinleitete, dorthin kommen; sie kann das auch durch den Einfluss einer Religion oder die Anziehungskraft einer Philosophie erreichen; sie mag sich durch eine langsame Erleuchtung nähern oder sie schwingt sich infolge einer plötzlichen Berührung oder durch eine Erschütterung dorthin empor; sie mag durch den Druck äußerer Umstände oder durch eine innere Notwendigkeit darauf stoßen oder dorthin geführt werden, durch ein einziges Wort, das die Siegel des Mentals zerbricht, oder es kann durch lange Reflexion geschehen, durch das ferne Beispiel eines Menschen, der diesen Pfad gegangen ist, oder durch täglichen Kontakt und Einfluss. Je nach der Natur und den Umständen wird der Ruf kommen.

Auf welchem Weg er auch kommen mag, das Mental und der Wille müssen sich entscheiden, und als Ergebnis davon, muss eine vollständige und effektive Selbstdarbringung geleistet werden. Die Annahme einer neuen spirituellen Ideen-Kraft und die aufwärtsgerichtete Orientierung in unserem Wesen, eine Erleuchtung, eine Hinwendung oder Umkehr, die man mit dem Willen und mit der Aspiration des Herzens festhält, – das ist der entscheidende Akt, der wie in einem Samenkorn alle Resultate, die der Yoga zu geben hat, in sich trägt. Die bloße Idee oder ein intellektuelles Suchen nach etwas Höherem, Jenseitigem ist, so stark das auch mit dem Interesse des Mentals ergriffen wird, doch unwirksam, wenn das Herz es nicht als das festhält, was allein begehrenswert ist, und wenn der Wille dieses Einzige nicht als das annimmt, was getan werden muss. Denn die Wahrheit des Geistes soll nicht bloß gedacht sondern muss gelebt werden, und sie zu leben, erfordert aber die auf ein einziges Ziel hin zur Einheit zusammengefasste Konzentration unseres mentalen Wesens; eine so große Umwandlung, wie sie durch den Yoga vorgesehen ist, kann nicht durch einen zerteilten Willen oder durch einen kleinen Teil unserer Energie oder durch ein zögerndes Mental bewirkt werden. Wer das Göttliche sucht, muss sich Gott ganz weihen und nur Gott allein.

Worte der Mutter

In alten Zeiten musste der Schüler sich schweren Prüfungen unterziehen, um seine Befähigung zur Einweihung unter Beweis zu stellen. Hier [im Ashram] folgen wir nicht dieser Methode. Offensichtlich gibt es hier keine Prüfungen und Versuche. Doch wenn du genau hinschaust, dann erkennst du, dass es hier weitaus schwieriger ist. In alten Zeiten wusste der Schüler, dass er für einen bestimmten Zeitraum Prüfungen abzulegen hatte, danach durch einige äußere Tests gehen musste und dann aufgenommen wurde. Aber hier hast du dem Leben die Stirn zu bieten und du wirst in jedem Augenblick beobachtet. Es zählen hier nicht nur deine äußeren Handlungen. Jeder Gedanke und jede innere Regung wird gesehen, jede Reaktion wird bemerkt. Es ist nicht von Bedeutung, was du in der Einsamkeit des Waldes tust, sondern im Gewirr auf dem Schlachtfeld des Lebens.

Bist du bereit, dich solchen Prüfungen zu unterziehen? Bist du bereit, dich vollständig zu wandeln? Du wirst deine Ideen, Ideale, Werte, Interessen und Ansichten über Bord werfen müssen. Alles muss neu erlernt werden. Wenn du für all das bereit bist, dann wage den Sprung; andernfalls steige nicht ein.

Worte der Mutter

… ich will dir eine kleine Geschichte vorlesen … aus alter Zeit, bevor es Druckereien und Bücher gab, aus der Zeit, als nur der Guru oder der Eingeweihte das Wissen hatte und es nur an die weitergab, die er dessen für würdig erachtete. Und für ihn bedeutete „dessen würdig sein“ meistens, das Gelernte in die Tat umzusetzen. Er gab einem eine Wahrheit und erwartete, dass man danach handelte. Und wenn man die Wahrheit in die Tat umgesetzt hatte, willigte er ein, einem eine andere zu geben…

Dies ist also meine Geschichte (Die Mutter liest):

Eine Einweihungsgeschichte
(übersetzt aus dem Gujarati)

Es war einmal ein Mahatma, der ein großer Asket und ein großer Pandit war. Er hatte ein hohes Alter und war reich an Weisheit. Von allen wurde er verehrt. Sein Name war Junun. Manche jungen Burschen und manche jungen Männer pflegten zu ihm zu kommen, um die Initiation zu erhalten. Sie blieben in seiner Einsiedelei, wurden selbst Pandite und kehrten nach einer langen und mit fleißiger Arbeit ausgefüllten Abgeschiedenheit nach Hause zurück.

Eines Tages kam ein junger Mann zu ihm. Yusuf Hussein war sein Name. Der Mahatma wollte ihn bei sich behalten und fragte ihn nicht einmal, wer er wäre. Vier Jahre gingen so dahin, als Junun eines Morgens Yusuf rufen ließ und ihn zum ersten Mal fragte: „Warum bist du hierher gekommen?“ Ohne weiter nachzudenken, antwortete Yusuf: „Um die religiöse Einweihung zu empfangen.“ Junun sagte nichts. Er rief einen Diener und fragte ihn: „Hast du das Kästchen hergerichtet, wie ich dich gebeten habe?“

„Ja, Meister, es ist da, ganz fertig.“

„Bringe es unverzüglich!“ sagte Junun.

Behutsam stellte der Diener das Kästchen vor den Mahatma. Dieser nahm es und gab es Yusuf: „Ich habe einen Freund, der an den Ufern des Flusses Nil wohnt. Geh und bringe ihm dieses Kästchen von mir. Aber pass gut auf, Bruder, begehe ja keinen Fehler unterwegs. Verwahre dieses Kästchen sorgfältig bei dir und händige es seinem Empfänger aus. Wenn du zurückkommst, gebe ich dir die Initiation.“ Der Mahatma wiederholte seine Ratschläge noch einmal und beschrieb den Weg, den Yusuf einschlagen sollte, um an den Fluss Nil zu gelangen. Yusuf warf sich seinem Guru zu Füßen, nahm das Kästchen und reiste ab.

Diese Einsiedlerklause, in der der Freund des Mahatmas wohnte, war sehr weit weg, und in jenen Zeiten gab es keine Wagen und keine Eisenbahnen. Yusuf ging also zu Fuß. Er wanderte den ganzen Morgen, dann kam der Nachmittag. Die Hitze war sehr stark und strahlte überall. Er fühlte sich müde. Yusuf setzte sich also in den Schatten eines alten Baumes am Wegrand, um ein wenig auszuruhen. Das Kästchen war ganz klein. Es war nicht abgeschlossen. Im übrigen hatte Yusuf gar nicht darauf geachtet. Sein Guru hatte ihn gebeten, ein Kästchen mitzunehmen, und er war weggegangen, ohne noch eine Frage zu stellen.

Aber jetzt, in der Ruhe des Nachmittags, fing Yusuf an zu träumen. Sein Mental befand sich ganz in der Ruhe und Yusuf hatte nichts, um ihn zu beschäftigen… Nicht selten geht einem in solchen Fällen der Gedanke an irgendeine Dummheit durch den Kopf… Seine Blicke fielen daher auf das Kästchen! Er fing an, es zu betrachten. „Ein hübsches Kästchen!… Sieh mal an, man möchte sagen, es ist nicht abgeschlossen… und wie leicht es ist! Kann es sein, dass etwas darin ist? So leicht… vielleicht ist es leer?“ Yusuf streckte die Hand aus, als ob er es öffnen wollte. Plötzlich besann er sich anders: „Nein, nein… Voll oder leer, was auch in dem Kästchen sein mag, das geht mich nichts an. Mein Guru hat mich gebeten, es seinem Freund zu bringen, mehr nicht. Alles andere geht mich nichts an. Ich darf mich mit nichts anderem befassen.“

Eine Zeitlang blieb Yusuf ruhig sitzen. Aber sein Kopf, der wollte nicht ruhig bleiben. Das Kästchen war immer noch da, vor seinen Augen. Ein hübsches Kästchen. „Es sieht ganz leer aus“, dachte er. „Was ist schon dabei, ein leeres Kästchen zu öffnen?… Wenn es abgeschlossen wäre, würde ich es verstehen, das wäre schlecht… Ein Kästchen, das nicht einmal abgeschlossen ist, das ist nichts schlimmes. Ich will es gerade nur einen Augenblick öffnen, dann mache ich es wieder zu.“

Yusuf bewegte den Gedanken an das Kästchen hin und her. Unmöglich, sich davon zu lösen, unmöglich, diesen Gedanken zu meistern, der in ihn hineingeglitten war. „Lass sehen, nur einen kleinen, flüchtigen Blick, nur mal eben einen Blick.“ Wieder streckte er die Hand aus, zog sie wieder zurück, dann saß er von neuem still da. Umsonst. Endlich entschloss sich Yusuf, und langsam, ganz langsam öffnete er das Kästchen. Kaum hatte er es geöffnet, pfft! sprang eine kleine Maus ins Freie… und verschwand. Das arme Mäuschen, halb erstickt in seinem Kästchen, hatte keine Sekunde verloren, um in die Freiheit zu springen!

Yusuf war verwirrt. Mit weit aufgerissenen Augen schaute und schaute er… Das Kästchen blieb leer. Da fing sein Herz traurig an zu schlagen: „So hatte der Mahatma also nur eine Maus geschickt, eine ganz kleine Maus… Und ich konnte sie nicht einmal gesund und wohlbehalten ans Ziel bringen. Da habe ich einen schweren Fehler begangen. Was soll ich jetzt tun?“

Yusuf war voll Reue. Aber man konnte jetzt nichts mehr machen. Vergeblich lief er um den Baum, vergeblich blickte er auf die Straße. Die kleine Maus war tatsächlich entflohen… Mit zitternder Hand schloss Yusuf den Deckel und machte sich niedergeschlagen wieder auf den Weg.

Als Yusuf am Flusse Nil bei dem Freund seines Meisters anlangte, hielt er ihm das Geschenk des Mahatmas hin und verharrte still in einer Ecke wegen seines Fehlers. Es war ein großer Heiliger. Er öffnete das Kästchen und begriff sogleich, was geschehen war. „Nun, Yusuf“, sagte er und wandte sich an den jungen Aspiranten, „du hast also diese Maus verloren… Mahatma Junun wird dir die Initiation nicht geben, das befürchte ich sehr, denn um des höchsten Wissens würdig zu sein, muss man seine Gedanken vollkommen beherrschen. Dein Meister hatte wohl einigen Zweifel an deiner Willenskraft, deshalb griff er auf diese kleine List zurück, um dich auf die Probe zu stellen. Und wenn du nicht fähig bist, etwas so Unbedeutendes zu vollbringen, wie eine kleine Maus in einem Kästchen zu verwahren, wie willst du dann hohe Gedanken in deinem Kopf und das wahre Wissen in deinem Herzen bewahren? Es gibt nichts Unbedeutendes, Yusuf. Kehre zu deinem Meister zurück. Lerne Charakterstärke und Beharrlichkeit. Sei vertrauenswürdig, um eines Tages der echte Schüler dieser großen Seele zu werden.“

Als ein Bild des Jammers kehrte Yusuf zum Mahatma zurück und erzählte ihm seinen Fehler. „Yusuf“, sagte dieser zu ihm, „du hast eine wunderbare Gelegenheit versäumt. Ich habe dir eine wertlose Maus zum Aufbewahren gegeben, und nicht einmal das ist dir gelungen! Wie also wolltest du den kostbarsten aller Schätze, die göttliche Wahrheit aufbewahren? Dazu braucht man Selbstbeherrschung… Geh und lerne! Lerne dein Denken zu beherrschen, denn ohne das kann nichts Großes vollbracht werden.“

Voll Scham, mit hängendem Kopf ging Yusuf weg, und von da an hatte er nur einen Gedanken: Herr seiner selbst zu werden… Viele Jahre hindurch machte er unermüdliche Anstrengungen, er widmete sich einer harten und schweren Tapasya, und schließlich gelang es ihm, seiner Natur Herr zu werden. Da kehrte er voll Vertrauen zu seinem Meister zurück. Der Mahatma freute sich lebhaft, ihn wieder zu sehen und ihn bereit zu finden. Und so empfing Yusuf von Mahatma Junun die große Einweihung.

Jahr um Jahr verging, Yusuf gewann zunehmend an Weisheit und Beherrschung. Er wurde einer der außergewöhnlichsten und größten Heiligen des Islam.

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