Kapitel 5

Die Wahl des Pfades

Worte der Mutter

Mutter, hier heißt es: „Wer das Unendliche wählt, wurde vom Unendlichen erwählt.“ (Sri Aurobindo, Die Synthese des Yoga, „Die vier Hilfen“)

Das ist ein herrlicher Satz!

Und er ist absolut wahr! Auch in den „Thoughts and Glimpses“ (Gedanken und Aphorismen) steht ein solcher Satz, in dem er, so glaube ich, das Wort „Gott“ verwendet statt das Unendliche. Doch die Idee ist dieselbe: dass Gott es ist, der dich auserwählt hat, das Göttliche hat dich auserwählt. Und deshalb läufst du Ihm nach!

Und das gibt – das sagt er doch, nicht wahr –, das gibt einem diese Art von Vertrauen, von Gewissheit, dass man eben auserwählt ist; und wenn man auserwählt ist, was können da einem die Berge von Schwierigkeiten ausmachen, da man ja mit Sicherheit ankommt! Das gibt dir einen unbezwingbaren Mut, um allen Schwierigkeiten zu trotzen, und eine Geduld, die allen Prüfungen standhält: Du kommst mit Sicherheit an.

Und es ist eine Tatsache. Es ist wirklich so: Von der Minute an, wo du daran gedacht hast, nun, du hast daran gedacht, weil man an dich gedacht hat; du hast gewählt, weil man dich erwählt hat. Und hat man dich einmal erwählt, bist du deiner Sache sicher. Folglich sind Zweifel, Zögern, Niedergeschlagenheit, Unsicherheit, das alles ist ganz einfach Zeit- und Energieverschwendung; das nützt überhaupt nichts.

Von dem Moment an, wo man auch nur einmal innerlich gespürt hat: „Ah, das ist die Wahrheit für mich,“ ist Schluss; es ist beendet, es ist erledigt. Auch wenn du dir jahrelang deinen Weg durch den Urwald schlagen musst, hat das keine Bedeutung – es ist beendet, erledigt.

Deshalb sagte ich einmal: Im Grunde seid ihr alle hier, weil ihr es irgendwo gewollt habt; und wenn ihr es irgendwo gewollt habt, dann deshalb, weil das Göttliche in euch es so wollte.

Worte der Mutter

Liebe Mutter, „Der Höchste hat seine leuchtende Hand auf ein auserwähltes menschliches Gefäß für das Wunder seines Lichts, seiner Macht und seines Ananda gelegt.“ (Sri Aurobindo, SABCL, Vol. 20, p. 81)

Erwählt der Höchste das Wesen, das sein Instrument sein wird, oder hat das Wesen die Wahl, das Instrument zu werden?

Du kannst es nehmen, wie du willst.

Man kann nicht sagen, wer anfing! Doch vollzieht sich im Allgemeinen beides zur gleichen Zeit.

Wenn du eine Rangfolge willst: Es leuchtet ein, dass das Göttliche vor dem Individuum existierte; deshalb muss es das Göttliche gewesen sein, das zuerst die Wahl getroffen hat! Diese Wahl liegt jedoch vor dem irdischen Leben. In der Ordnung des gewöhnlichen menschlichen Bewusstseins kann es das eine oder das andere oder beides zugleich sein. In Wirklichkeit ist es wahrscheinlich, dass das Göttliche zuerst merkt, ob dieses oder jenes Wesen bereit ist! Aber jenes Wesen, das bereit ist, weiß es meist zunächst nicht; es hat dann das Gefühl, es habe entschieden und gewählt. Dies dürfte jedoch eher ein Eindruck als eine Realität sein.

Und ist man einmal erwählt, ist es unausweichlich, man kann nicht entrinnen, selbst wenn man es versuchte.

Worte der Mutter

Nun folgen manche einem ganz geraden Weg und kommen sehr schnell an; andere lieben Labyrinthe, das dauert länger. Doch das Ende ist da; das Ziel ist da. Ich weiß aus Erfahrung, dass es kein Wesen gibt, das nicht wenigstens einmal in seinem Leben ein starkes Drängen gehabt hätte zu … egal, wie es das nannte – sagen wir das Göttliche der Einfachheit halber –, und nicht sicher war, es zu erreichen; auch wenn es Ihm zu gegebener Zeit den Rücken kehrt, hat das keinerlei Bedeutung – es kommt mit Sicherheit an. Es wird mehr oder weniger zu kämpfen haben, mehr oder weniger Schwierigkeiten haben, aber es wird eines Tages sicher ankommen. Es ist eine Seele, die erwählt wurde, sie wurde bewusst, weil ihre Stunde gekommen war; ist die Stunde einmal da, dann folgt das Ergebnis mehr oder weniger rasch. Du kannst das in einigen Monaten schaffen; du kannst das in einigen Jahren schaffen; du kannst das in einigen Leben schaffen – aber du schaffst es.

Und bemerkenswert ist, dass dir diese Freiheit der Wahl überlassen bleibt, und wenn du im Innern beschließt, es in diesem Leben zu schaffen, dann schaffst du es. Und ich meine damit nicht, dass du dauernd und ununterbrochen entscheidest, denn dann würdest du möglicherweise nur zwölf Monate benötigen, um es zu erledigen. Nein, ich meine: Wenn es dich plötzlich ergriffen hat, „Ich will das“, auch nur einmal, blitzartig, ist das Siegel aufgedrückt. So ist das.

Das ist kein Grund, seine Zeit auf dem Weg zu vertrödeln; das ist kein Grund, um nun allen Windungen des Labyrinths zu folgen und mit einer Menge Schutt am Ziel anzukommen. Nein. Auf jeden Fall aber ist es ein Grund, niemals die Hoffnung aufzugeben, welche Schwierigkeiten auch da kommen mögen…

Wenn man sich entscheiden würde, seinen Weg geradeaus zu gehen, koste es, was es wolle – wohl wissend, wie man einige Schwierigkeiten zu ertragen, den Widrigkeiten ohne Schwäche zu begegnen vermag –, dann würde man sich viel Kummer ersparen. Aber manche gehen nur, wenn man sie am Schlafittchen packt und sie mit furchtbarer Kraft zieht. Dann schreien sie, dass man ihnen Gewalt antut!

Aber schließlich sind sie es, die es wollen.

Worte der Mutter

Man kann keine allgemeine Regel aufstellen, nach der sich die Bedeutung der Pfade einordnen ließe; das ist etwas ausschließlich Persönliches. Es kommt ein Augenblick, wo man sehr gut versteht und klar erkennt, dass es keine zwei gleichen Pfade gibt, dass es keine zwei gleichen Pfade geben kann, dass jeder seinem eigenen Pfad folgt und dass dies die Wahrheit seines Wesens ist. Wenn man von ziemlich hoch oben herabschaut, kann man einen Unterschied im Tempo des Vorankommens sehen, aber er stimmt nicht immer mit den äußeren Anzeichen überein; und man könnte etwas scherzhaft sagen: Wer am schnellsten geht, ist nicht immer der Weiseste!

Worte der Mutter

Die Zahl der Menschen, die bedrückt sind, weil sie das Unglück hatten, einem sogenannten Sannyasin1 zu begegnen, ist erheblich hoch, sehr erheblich. Ich erzähle dir das nicht, um dir Angst zu machen, denn hier [im Ashram] bist du geschützt; ich sage dir das, weil es eine Tatsache ist. Bei der Initiation haben diese Menschen eine Kraft aus der vitalen Welt auferlegt bekommen, die äußerst gefährlich ist. Das ist zwar nicht immer der Fall, geschieht aber doch recht häufig.

Denn Aufrichtigkeit ist eine so seltene Tugend in der Welt, dass man sich mit Respekt davor verneigen sollte, wenn man ihr begegnet. „Aufrichtigkeit“ – was wir Aufrichtigkeit nennen ist nämlich eine vollkommene Ehrlichkeit und Transparenz: dass da nirgends irgend etwas ist, das einen Anspruch erhebt, sich versteckt oder sich für etwas ausgeben will, das es nicht ist.

Worte der Mutter

Liebe Mutter, wo beginnt unser wahres spirituelles Leben?

Das wahre spirituelle Leben beginnt, wenn man mit dem Göttlichen im seelischen Wesen in Kommunion ist, wenn man sich der göttlichen Gegenwart im Seelischen bewusst und in ständiger Kommunion mit dem Seelischen ist. Dann beginnt das spirituelle Leben, aber nicht vorher – das wahre spirituelle Leben.

Wenn man mit seinem seelischen Wesen vereint und sich der göttlichen Gegenwart bewusst ist, wenn man den Impuls zu seinen Handlungen von dieser göttlichen Gegenwart erhält, und wenn der Wille ein bewusster Mitarbeiter des göttlichen Willens geworden ist, – das ist der Ausgangspunkt.

Vorher kann man ein Anwärter auf das spirituelle Leben sein, aber man führt kein spirituelles Leben.

1 Später fügte die Mutter folgenden Kommentar hinzu: „Selbstverständlich bezieht sich dies nur auf diejenigen, die den orangefarbenen Rock allein zu dem Zweck anlegen, ihre egoistischen Leidenschaften hinter dem Schleier eines allgemein geachteten Gewandes zu verbergen. Es kann sich hier nicht um diejenigen handeln, die ein reines Herz haben und deren Kleidung einfach das äußere Zeichen ihrer vollständigen Weihung an das spirituelle Leben ist.“

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