Kapitel 6
Heilung der Nerven
Worte Sri Aurobindos
Dein Leiden beruht offensichtlich auf einem Nervenleiden und ist kein gewöhnliches physisches Leiden. Diese Krankheiten werden durch den Druck feindlicher Kräfte ausgelöst; sie werden schlimmer, wenn etwas in dir ihnen zustimmt und sie akzeptiert, und je mehr das Mental ihnen Bedeutung beimisst und sich mit ihnen befasst, um so mehr wachsen sie. Der einzige Ausweg ist, ruhig zu bleiben, sich loszulösen, sich zu weigern, sie anzunehmen oder ihnen große Wichtigkeit beizumessen, sowie die Ruhe und Stärke, welche die Mutter um dich errichtet, in dein Mental eintreten und dein Nervensystem durchdringen zu lassen. Eine andere Verhaltensweise würde bedeuten, dich auf die Seite der dich peinigenden feindlichen Kräfte zu stellen. Die Heilung mag lange dauern, weil dein Nervensystem lange Zeit diesen Einflüssen ausgesetzt war; auch kehren sie, wenn sie einmal vertrieben sind, voller Ungestüm zurück, um ihren Griff neu zu festigen. Wenn du aber hinsichtlich dieser Dinge Geduld und Stärke sowie das rechte Bewusstsein und die rechte Einstellung gewinnen und bewahren kannst, wird sich ihr Griff immer mehr lockern.

Worte Sri Aurobindos
Die Tatsache, dass du dich nach dem Gespräch mit Leuten schwach fühlst, zeigt, dass der Ursprung des ganzen Kummers eine geschwächte Nervenkraft ist. Du musst sie stark werden lassen. Du solltest es vermeiden, viel mit anderen zu sprechen – du kannst dich ausruhen, wenn du die Symptome sehr ausgeprägt fühlst. Die grundlegende Haltung besteht jedoch in Glauben, Ruhe und in Offenheit gegenüber der höheren Kraft.

Worte Sri Aurobindos
Zu allererst ist deine Gesundheit wiederherzustellen; später kannst du deinen Fähigkeiten und Neigungen entsprechend in Ruhe dein Lebensziel festlegen; es ist nicht meine Sache, die Entscheidung für dich zu treffen. Ich kann dir nur andeuten, was ich selbst für die eigentlichen Ziele und Ideale halte.
Abgesehen von den äußerlichen Dingen gibt es zwei mögliche innere Ideale, denen ein Mensch folgen kann. Das erstere ist das höchste Ideal des gewöhnlichen menschlichen Lebens und das andere ist das göttliche Ideal des Yoga … Das Ideal des (gewöhnlichen) menschlichen Lebens besteht darin, das ganze Wesen einem klaren, starken und vernünftigen Mental sowie einem rechten, von der Vernunft geleiteten Willen zu unterwerfen, die das emotionale, vitale und physische Wesen beherrschen, eine Harmonie des Ganzen schaffen, alle möglichen Fähigkeiten entwickeln und im Leben einsetzen. Entsprechend dem hinduistischen Denken bedeutet das, das Gesetz der geläuterten und sattwischen Buddhi zu errichten, dem Dharma zu folgen, sein eigenes Svadharma zu erfüllen und die Arbeit zu tun, die den eigenen Fähigkeiten entspricht, sowie kama und artha unter der Kontrolle von Buddhi und Dharma zu befriedigen. Das Ziel des göttlichen Lebens andererseits, ist sein höchstes Selbst oder Gott zu verwirklichen und das ganze Wesen mit der Wahrheit des höchsten Selbstes oder dem Gesetz der göttlichen Natur in Einklang zu bringen, seine eigenen göttlichen Fähigkeiten zu entdecken, ob groß oder klein, und sie im Leben als Darbringung an den Höchsten oder als ein wahres Instrument der göttlichen Shakti zu vollenden. Über das letztere Ideal werde ich vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt mehr schreiben. Für den Augenblick möchte ich nur etwas über die von dir empfundene Schwierigkeit sagen, das gewöhnliche Ideal zu erfüllen.
Dieses Ideal richtet sich auf die Formung von Mental und Charakter, was stets ein langwieriger und schwieriger Prozess ist, der eine geduldige Arbeit von Jahren erfordert und manchmal den größten Teil des Lebens beansprucht. Die hauptsächliche Schwierigkeit dabei für fast jeden besteht darin, die Begierden und Impulse des vitalen Wesens unter Kontrolle zu bringen. In vielen Fällen, wie auch bei dir, richten sich gewisse starke Impulse fortwährend gegen das Ideal und die Forderung des Willens und Verstandes. Der Grund hierfür liegt beinahe immer in einer Schwäche des vitalen Wesens selbst, denn wenn diese Schwäche besteht, vermag es den Anforderungen des höheren Mentals nicht zu folgen und muss statt dessen unter dem Andrang von Impulsen handeln, die von bestimmten Kräften in der Natur stammen. Diese Kräfte befinden sich in Wirklichkeit außerhalb der Person, begegnen aber in diesem (vitalen) Teil von ihr einer gewissen mechanischen Bereitschaft, sie zu befriedigen und ihnen zu gehorchen. Die Schwierigkeit vergrößert sich, wenn das Zentrum der Schwäche im Nervensystem liegt. Dann entsteht das, was von der europäischen Wissenschaft als neurasthenische Veranlagung bezeichnet wird und unter bestimmten Umständen zu nervlichen Zusammenbrüchen und Versagen führt. Das ist der Fall, wenn die Nerven zu sehr angestrengt werden oder eine übermäßige Nachgiebigkeit gegenüber sexuellen oder anderen Neigungen besteht, manchmal auch wenn ein zu harter und langer Kampf zwischen dem zügelnden Willen und diesen Neigungen stattgefunden hat. Das ist die Krankheit, an der du leidest, und wenn du all diese Dinge in Betracht ziehst, wirst du den wahren Grund erkennen, weshalb du in Pondicherry einen Zusammenbruch erlitten hast. Das Nervensystem in dir war schwach; es vermochte weder dem Willen zu gehorchen noch der Forderung der äußeren vitalen Kräfte zu widerstehen; zu dem Kampf gesellte sich noch die Überanstrengung des Mentals und der Nerven sowie ein Zusammenbruch aufgrund einer akuten Attacke von Neurasthenie. Diese Schwierigkeiten bedeuten nicht, dass du (am Ende) nicht die Oberhand gewinnen, die Kontrolle deiner Nerven und deines vitalen Wesens zustande bringen sowie eine Harmonie zwischen Mental und Charakter aufbauen kannst. Du musst die Sache nur richtig in die Hand nehmen, darfst falschen und morbiden Ideen nicht nachgeben und musst die richtigen Mittel anwenden. Erforderlich ist ein ruhiges Mental und ein ruhiger Wille, die sich geduldig und beharrlich weigern, jeglicher Erregung oder Entmutigung nachzugeben, und immer ruhig darauf beharren, dass sich die notwendige Wandlung im Wesen vollzieht. Ein ruhiger Wille dieser Art kann letzten Endes nicht versagen. Seine Wirkung ist unabwendbar. Die Zurückweisung durch ihn (den Willen) muss zuerst im Wachzustand erfolgen – eine Zurückweisung nicht nur des gewohnten Handelns durch das vitale Wesen, sondern auch der Impulse dahinter – die er als etwas erkennen muss, das sich außerhalb der Person befindet, jedoch in ihr zutage tritt – und auch der Suggestionen, die hinter den Impulsen stehen. Wenn all das auf diese Weise zurückgewiesen wird, können sich diese einst gewohnten Gedanken und Regungen zwar noch im Traumzustand offenbaren, denn es ist ein wohlbekanntes psychologisches Gesetz, dass das, was im Wachzustand unterdrückt oder zurückgewiesen wird, im Schlaf und Traum wiederkehren kann, weil es im unterbewussten Wesen fortbesteht. Wenn aber der Wachzustand gründlich geläutert wurde, müssen diese Traumbewegungen langsam aufhören, weil sie nicht mehr gefördert werden und die Eindrücke im Unterbewusstsein allmählich erlöschen. Das ist die Ursache der Träume, vor denen du dich so sehr fürchtest. Versuche, sie lediglich als ein nebensächliches Symptom zu betrachten, das dich nicht zu alarmieren braucht, wenn du einmal die Kontrolle über deinen Wachzustand erlangt hast.
Du musst dich aber von den Ideen befreien, die der Selbstüberwindung im Wege gestanden haben.
1. Erkenne, dass diese Dinge nicht aus irgendeiner echten moralischen Verworfenheit herrühren, denn diese kann nur dann bestehen, wenn das Mental selbst verworfen ist und die perversen vitalen Impulse unterstützt. Wenn das Mental und der Wille sie zurückweisen, dann ist das moralische Wesen gesund, und es handelt sich nur um einen Fall von Schwäche oder Krankheit der vitalen Teile oder des Nervensystems.
2. Grüble nicht über die Vergangenheit nach, sondern wende dich mit geduldiger Hoffnung und geduldigem Vertrauen der Zukunft zu. Dein Grübeln über früheres Versagen wird dich daran hindern, deine Gesundheit wiederzuerlangen, es wird dein Mental und deinen Willen schwächen und sie bei der Arbeit der Selbstüberwindung und der Neuformung des Charakters behindern.
3. Lass dich nicht entmutigen, wenn du nicht sofort Erfolg hast, sondern mache geduldig und unerschütterlich weiter, bis die Sache getan ist.
4. Quäle dich nicht, indem du immer über deine Schwächen nachdenkst. Bilde dir nicht ein, dass sie dich für das Leben oder die Erfüllung des menschlichen Ideals untauglich machen. Wenn du einmal ihr Vorhandensein erkannt hast, dann suche nach deinen Quellen der Stärke und denke lieber darüber nach sowie über die Gewissheit des Sieges.
Deine vordringlichste Aufgabe ist, für die Wiederherstellung der Gesundheit deines Mentals und Körpers zu sorgen, wofür die Ruhe des Mentals und für eine gewisse Zeit eine ruhige Lebensweise erforderlich sind. Zermartere dein Mental nicht mit Fragen, die zu lösen es noch nicht reif ist. Grüble nicht immer über die eine Sache nach. Beschäftige dein Mental so gut du kannst mit vernünftigen und normalen Dingen und gib ihm so viel Ruhe wie möglich. Später, wenn du deinen normalen mentalen Zustand und dein Gleichgewicht wiedererlangt hast, kannst du mit klarem Urteilsvermögen entscheiden, wie du dein Leben gestalten willst und was du in Zukunft zu tun haben wirst.
Ich habe dir so gut ich kann geraten und dargelegt, was mir gegenwärtig am wichtigsten erscheint. Was deine Rückkehr nach Pondicherry anbelangt, so würde ich für den Augenblick davon abraten. Ich könnte dir nichts anderes sagen als das, was ich dir geschrieben habe. Solange du krank bist, ist es am besten, dich nicht der Obhut deines Vaters zu entziehen; vor allem gilt bei Krankheiten wie der deinen die feststehende Regel, nicht zu dem Ort und der Umgebung des Zusammenbruches zurückzukehren, solange man nicht völlig erholt ist und die mit dem Zusammenbruch verbundenen Assoziationen ihre Intensität nicht eingebüßt sowie ihre Macht über das Mental nicht verloren haben, so dass sie nicht länger einen störenden oder gewaltsamen Einfluss darauf ausüben können.

Worte Sri Aurobindos
Es gibt keinen echten Grund für dich, mit dir unzufrieden zu sein, da trotz des Widerstandes der niederen Kräfte Fortschritt erzielt wird. Von dem Druck, der sich durch das Schweregefühl im Magen bemerkbar macht, muss man sich befreien – dort befindet sich noch der hauptsächliche Widerstand. Es ist der innere Friede, der angestrebt wird, sowie eine freudige Zuversicht, eine freudige Glücklichkeit nach außen – dann hört diese Art von nervösem Druck und diese Störung auf.

Worte Sri Aurobindos
Die Hauptschwierigkeit scheint darin zu bestehen, dass du zu sehr einer Erregung der Nerven ausgeliefert bist – nur indem die Ruhe und Stille in das ganze Wesen gebracht werden, kann ein stetiger Fortschritt in der Sadhana gesichert werden.
Um wieder zur Ruhe zu kommen, muss man als erstes den nervlich bedingten Attacken Einhalt gebieten – je mehr du dich diesen Ideen und Gefühlen hingibst und dich damit identifizierst, desto mehr nehmen sie zu. Du musst dich zurückziehen und im Hintergrund in dir etwas finden, das von Schmerzen und Depressionen nicht beeinträchtigt wird – dann kannst du dich von dort her von den Schmerzen und Depressionen befreien.

Worte der Mutter
Das sind Identifikationserscheinungen. Nur sind sie unwillkürlich. Und das ist sogar eines der Verfahren, die man jetzt anwendet, um Nervenkrankheiten zu heilen. Wenn jemand nicht schlafen kann, wenn er nicht ausruhen kann, weil er zu nervös und aufgeregt ist, und weil seine Nerven krank und geschwächt sind durch ein Übermaß an Unruhe und Geschäftigkeit, sagt man etwa zu ihm, er solle sich vor ein Aquarium setzen mit niedlichen Fischchen, Goldfischen, und sich da hinsetzen, sich auf einen Liegestuhl niederlassen und an nichts denken (vor allem nicht an seine Sorgen) und die Fische betrachten. Da schaut man also den Fischen zu, wie sie sich bewegen, wie sie hin- und herschwimmen, gleiten, sich wenden, sich begegnen, einander überholen, sich verfolgen, ohne Ende, und außerdem das Wasser, das sich leicht bewegt, und die dahinziehenden Fische. Im Nu lebt man das Leben der Fische: Man schwimmt hin, man schwimmt her, man gleitet dahin, man spielt. Und nach einer Stunde sind die Nerven vollständig wiederhergestellt und man ist vollkommen ausgeruht!
Voraussetzung ist aber, dass man nicht an seine Sorgen denkt: Man darf nur die Fische betrachten.
