Kapitel 5
Kollektive Arbeit
Worte Sri Aurobindos
Dein Brief zeigt, dass du dir eine falsche Vorstellung von der Arbeit gemacht hast. Die Arbeit im Ashram ist weder als ein Dienst an der Menschheit gedacht noch für den Teil von ihr, der aus den Sadhaks dieses Ashrams besteht. Sie ist auch nicht als Gelegenheit für ein frohes Gemeinschaftsleben gedacht oder für den Austausch von Gefühlen und Bindungen oder den Ausdruck vitaler Bewegungen unter den Sadhaks, gleichsam als ein freier, vitaler Verkehr mit einigen von ihnen oder allen. Die Arbeit war vielmehr als Dienst am Göttlichen gedacht, als ein Übungsfeld für das innere Sich-Öffnen gegenüber dem Göttlichen, für die Hingabe allein an das Göttliche, für die Zurückweisung des Egos und all der gewöhnlichen vitalen Bewegungen und um sich in einer seelischen Erhebung zu schulen sowie in Selbstlosigkeit, Gehorsam, in der Zurückweisung aller Selbstanmaßung der begrenzten Persönlichkeit, sei sie mental, vital oder sonstwie. Selbstbestätigung ist hier nicht das Ziel, ebensowenig die Formung eines kollektiven vitalen Egos. Das Ziel des Karmayoga ist das Aufgehen des kleinen Egos in der Einung mit dem Göttlichen, die Läuterung, die Hingabe, die Ersetzung der eigenen unwissenden Selbstführung, die sich auf persönliche Gefühle und Ideen stützt, durch die Führung des Göttlichen sowie die Unterordnung des eigenen Willens gegenüber dem Göttlichen Willen.
Wenn man sich menschlichen Wesen nahe fühlt und dem Göttlichen fern, wenn man das Göttliche durch den Dienst an den Menschen und durch ihre Liebe sucht und nicht durch den unmittelbaren Dienst am Göttlichen und die unmittelbare Liebe zum Göttlichen, dann folgt man einem falschen Prinzip – denn das ist das Prinzip des mentalen, vitalen und moralischen, nicht aber des spirituellen Lebens.

Worte Sri Aurobindos
Eine Regel, die von jedermann anders ausgelegt werden kann, ist keine Regel. In allen Ländern, in denen organisierte Arbeit erfolgreich verrichtet wird (Indien ist keines von ihnen), bestehen Regeln und niemand denkt daran, sie zu brechen, weil man erkannt hat, dass Arbeit (oder auch das Leben) ohne Disziplin bald in Verwirrung und einem chaotischen Misslingen enden würde. In Indiens großen Tagen hatte alles seine Regel, selbst die Kunst und Poesie, selbst der Yoga. In Wirklichkeit aber werden Regeln hier viel weniger starr aufgefasst als in jedem europäischen System. Dagegen misst man dem persönlichen Ermessen, selbst in einem Gefüge von Regeln, ausgiebig Spielraum zu – nur sollte dieses Ermessen richtig angewandt werden, sonst wird daraus etwas Willkürliches oder Chaotisches.

Worte Sri Aurobindos
Regeln sind unerlässlich für die ordentliche Verrichtung der Arbeit; denn ohne Ordnung und Einteilung kann nichts auf die richtige Weise geschehen, sondern endet in Konflikt, Verwirrung und Unordnung.
In all diesen Auseinandersetzungen mit anderen solltest du nicht nur deine Seite, sondern auch die Gegenseite sehen. Kein Ärger, keine heftige Erwiderung oder Drohung, denn diese Dinge fachen nur den Zorn und die Entgegnung des anderen an. Ich schreibe dir dies, da du versuchst, dich über dich selbst zu erheben und dein Vital zu beherrschen, und wenn man dies will, kann man in diesen Dingen mit sich selbst nicht streng genug sein. Das Beste ist, seinen eigenen Fehlern gegenüber unnachsichtig und gegenüber den Fehlern der anderen milde zu sein.

Worte Sri Aurobindos
Meist wollen die Menschen, dass die Dinge nach ihrem Wunsch ohne Prüfung oder Begutachtung geschehen sollen. Das Gerede von der Vollkommenheit ist Humbug. Vollkommenheit besteht nicht daraus, dass jeder sich selbst Gesetz ist. Vollkommenheit erlangt man durch die Zurückweisung der Wünsche und die Unterwerfung einem höheren Willen gegenüber.

Worte Sri Aurobindos
Auch im gewöhnlichen Dasein müssen Vital und Ego kontrolliert werden – im anderen Fall wäre Leben unmöglich. Selbst viele Tiere, die in Gruppen leben, haben ihre strengen Gesetze, die das Spiel des Egos kontrollieren, und ein Verstoß dagegen wird hart geahndet. Besonders die Europäer haben dies begriffen, und obwohl sie selbst voller Ego sind, verstehen sie es vorzüglich, sobald sich die Frage einer gemeinsamen Arbeit oder eines Zusammenlebens mit anderen ergibt, es im Zaum zu halten – auch wenn es innerlich grollt. Das ist das Geheimnis ihres Erfolges. Im yogischen Leben allerdings ist die Frage nicht so sehr die der Kontrolle des Egos als der Befreiung vom Ego und des Aufsteigens zu einem höheren Lebens-Prinzip, daher wird das Begehren noch viel stärker und nachdrücklicher zurückgewiesen.

Worte der Mutter
Wenn wir gemeinsam arbeiten müssen ist es immer besser, in unseren Gedanken, Gefühlen und Handlungen auf den Punkten des Einvernehmens zu bestehen, statt auf den Punkten der Meinungsverschiedenheit.
Wir müssen den einenden Dingen Gewicht verleihen und so weit wie möglich die trennenden ignorieren.
Auch wenn physisch die Linien der Arbeit divergieren, kann die Einung intakt und beständig bleiben, wenn wir immer an die wesentlichen Punkte und Prinzipien der Einung denken sowie an das Göttliche Ziel, die Verwirklichung, die das eine unveränderliche Ziel unserer Bestrebung und unserer Werke sein muss.

Worte der Mutter
Wäre es nicht besser, die Arbeit fortzusetzen, auch wenn man sich träge fühlt?
Das hängt von der Arbeit ab. Wenn es eine Arbeit ist, die du für die Gemeinschaft tust und nicht für dich persönlich, dann musst du sie tun, was auch immer geschehen mag. Es ist eine elementare Disziplin. Du hast dich verpflichtet, diese Arbeit zu tun, oder sie wurde dir gegeben und du hast sie angenommen, folglich hast du sie akzeptiert, und in dem Fall musst du sie tun. In jedem Fall muss man sie tun, es sei denn, du bist absolut krank, im höchsten Grade, so dass du dich nicht rühren kannst. Auch wenn du ziemlich krank bist, musst du sie tun. Eine uneigennützige Arbeit heilt einen immer von den kleinen persönlichen Wehwehchen. Etwas anderes ist es natürlich, wenn du wirklich gezwungen bist, im Bett zu liegen, ohne dich rühren zu können, mit hohem Fieber oder einer sehr schweren Krankheit. Aber ansonsten, wenn du dich nur ein wenig unwohl fühlst: „Ich fühle mich nicht gut, ich habe etwas Kopfweh“, oder: „Ich habe eine Magenverstimmung“, oder: „Ich habe eine schlimme Erkältung, ich huste“, etwas Derartiges – dann tue deine Arbeit, nicht an sich denken, an die Arbeit denken, sie so gut wie möglich machen – das bringt dich sofort wieder auf die Beine…

Worte der Mutter
Wenn man allem gegenüber gleichmütig sein soll, warum gibt man den Kindern Preise [in der Ashram-Schule]?
Du erwartest doch nicht, dass ein Schuljunge ein Yogi ist, oder? Ich habe gerade gesagt, es brauche fünfunddreißig Jahre, um das zu erreichen und um seinen Charakter zu ändern.
Nicht wahr, die individuelle menschliche Autorität ist, wie die Autorität eines Familienvaters, eines Lehrers, eines Staatsoberhauptes, etwas Symbolisches. Sie besitzen keine wirkliche Autorität; Geltung wird ihnen verliehen, um sie eine Rolle spielen zu lassen im gesellschaftlichen Leben, wie es heute ist, das heißt, eines, das sich auf der Falschheit und keineswegs auf der Wahrheit gründet, denn Wahrheit bedeutet Einheit, und die Gesellschaft ist auf Trennung errichtet. Manche Menschen erfüllen ihre Rolle, ihre Funktion, ihr Symbol mehr oder weniger gut – niemand ist fehlerlos, alles ist vermischt auf dieser Welt. Doch wer seine Rolle ernst nimmt und versucht, sie so ehrlich wie möglich auszufüllen, kann Inspirationen empfangen, die ihm erlauben, seine Rolle etwas wahrer zu spielen als ein gewöhnlicher Mensch. Würde ein Lehrer in seinen Bewertungen daran denken, dass er ein Vertreter der göttlichen Wahrheit ist, und würde er sich dauernd darum bemühen, mit dem göttlichen Willen so tief im Einklang zu stehen, wie er kann, nun, das wäre sehr fruchtbar; denn der gewöhnliche Lehrer handelt seinen persönlichen Vorlieben entsprechend – was er nicht mag, was er mag, usw. – und hat teil an der allgemeinen Falschheit; versucht aber der Lehrer aufrichtig, wenn er zum Beispiel Noten gibt, sich mit einer tieferen Wahrheit übereinzustimmen, als es sein kleines, enges Bewusstsein ist, dann kann er dieser Wahrheit als Mittler dienen und so seinen Schülern helfen, sich dieser Wahrheit in ihnen ebenfalls bewusst zu werden.
Das ist eines der Dinge, die ich dir eben sagen wollte: Erziehung ist ein heiliges Amt, Lehren ist ein heiliges Amt, einem Land vorstehen ist ein heiliges Amt. Wenn also ein Mensch in dieser Rolle danach strebt, sie auf die höchste und wahrste Weise auszufüllen, kann der allgemeine Zustand der Welt sich stark verbessern. Leider denken die meisten Menschen nicht im geringsten daran, sondern spielen ihre Rolle irgendwie – gar nicht zu sprechen von den unzähligen Menschen, die nur um des Geldes willen arbeiten; in diesem Fall ist ihre Arbeit natürlich völlig verdorben. Übrigens war das mein erster Grund, den Ashram zu schaffen: dass die getane Arbeit eine Darbringung an das Göttliche sei.
Anstatt sich in der Strömung seiner Natur und seiner Stimmung gehen zu lassen, muss man ständig dieses Gefühl im Sinn bewahren, als Repräsentant des Höchsten Wissens zu wirken, der Höchsten Wahrheit, des Höchsten Gesetzes, und dass man es so ehrlich und aufrichtig anwenden muss, wie man kann; dann macht man selbst große Fortschritte und lässt auch die anderen große Fortschritte machen. Und außerdem wird man geachtet, man hat keine undisziplinierte Klasse mehr, denn in jedem menschlichen Wesen gibt es etwas, das wahre Größe erkennt und sich vor ihr neigt; auch die schlimmsten Verbrecher sind fähig, eine edle und selbstlose Tat zu bewundern. Fühlen daher die Kinder bei einem Lehrer, einem Schulmeister, diese tiefe Aspiration der Wahrheit gemäß zu handeln, dann hören sie dir mit einer Hingabe zu, wie du sie nie bekommen würdest, wenn du heute gut und morgen schlecht gelaunt bist, was für alle Beteiligten verheerend ist.
