Kapitel 5
Gebet und Aspiration
Worte der Mutter
Nehmen Gebete und Aspirationen auch Formen an wie die Gedanken?
Ja, sie nehmen sogar manchmal die Form der Person an, die die Aspiration hat oder die betet, oftmals. Es kommt darauf an. Die Aspirationen nehmen manchmal die Form von dem an, wonach man strebt. Sehr oft aber nehmen insbesondere Gebete eindeutig die Form des Betenden an.
Was ist der Unterschied zwischen einem Gebet und einer Aspiration?
Ich habe das irgendwo geschrieben. Es gibt verschiedene Arten von Gebeten.
Da ist das rein mechanische, materielle Gebet aus Worten, die man mechanisch wiederholt. Das bedeutet nicht viel. Und es hat meistens nur eine einzige Wirkung, nämlich die, den Betenden zu beruhigen, denn wenn man ein Gebet öfter wiederholt, beruhigen einen schließlich die Worte.
Manches Gebet ist eine spontane Formulierung, um etwas Bestimmtes auszudrücken, das man erbitten möchte: Man betet für dieses oder jenes, man betet für die eine oder andere Sache; man kann für jemand beten, man kann wegen eines Umstandes beten, man kann für sich selbst beten.
An einer Stelle treffen sich Aspiration und Gebet, denn manche Gebete sind eine spontane Formulierung von etwas Erlebtem: Sie quellen fix und fertig aus dem Inneren des Wesens hervor, wie der Ausdruck einer tiefen Erfahrung und wie der Dank für diese Erfahrung oder die Bitte um ihre Fortsetzung oder auch ihre Erklärung. Da ist das Gebet dann der Aspiration ganz nahe. Doch drückt sich Aspiration nicht unbedingt in Worten aus, oder – wenn sie sich in Worten ausdrückt – ist es fast eine Geste der Anrufung. Man strebt oder sehnt sich nach einem bestimmten Zustand. Du hast zum Beispiel etwas in dir entdeckt, das mit deinem Ideal nicht übereinstimmt, eine Regung der Dunkelheit oder der Unwissenheit, vielleicht sogar des bösen Willens, etwas, das nicht mit dem im Einklang steht, was du verwirklichen willst. Nun, das wird sich nicht in Worten ausdrücken: Das ist dann wie eine auflodernde Flamme und wie eine Darbringung einer lebendigen Erfahrung, die größer, herrlicher und immer klarer und bestimmter zu werden verlangt. Das alles kann hinterher in Worten ausgedrückt werden, wenn man versucht, sich zu erinnern und seine Erfahrung aufzuschreiben. Aber die Aspiration schlägt immer wie eine Flamme hoch, die emporlodert und in sich das trägt, was man zu sein wünscht oder zu tun wünscht oder erreichen möchte. Ich gebrauchte das Wort „wünschen“, aber man sollte hier wahrhaftig das Wort „erstreben“ verwenden, denn was sich da emporschwingt, hat weder die Eigenschaft noch die Form eines Wunsches.
Es ist wirklich wie eine große reinigende Flamme des Willens, und in ihrem Innersten trägt sie das, was verwirklicht zu werden verlangt.
Wenn du zum Beispiel eine Tat begangen hast, die du bereust, wenn diese Tat unangenehme Folgen hat, die Unordnung verursachen, und wenn mehrere Personen darin verwickelt sind, deren Reaktionen du nicht kennst, du aber wünschst, was geschehen ist, solle sich zum Besten wenden, und der Fehler, wenn einer gemacht worden ist, auf Verständnis stoßen soll, und – was immer dieser Fehler war –, er für dich eine Gelegenheit sein soll zu einem größeren Fortschritt, zu größerer Disziplin, zu einem neuen Aufstieg hin zum Göttlichen, eine Tür, die sich zu einer klareren, wahreren und stärkeren Zukunft hin öffnet, so wie du sie willst – das versammelt sich dann hier (Handbewegung zum Herzen) wie eine Kraft, und dann quillt es hervor und schwingt sich zu einer großen aufsteigenden Bewegung empor, manchmal ohne den Schatten der Formulierung, ohne Worte, ohne Ausdruck, aber wie eine hoch lodernde Flamme.
Das ist die wahre Aspiration. Das kann hundertmal, tausendmal am Tag vorkommen, wenn man in dem Zustand ist, in dem man den Wunsch hat, ständig Fortschritte zu machen, wahrer zu sein und restloser dem zu entsprechen, was der Göttliche Wille von uns verlangt.
Das Gebet ist etwas viel Äußerlicheres, es kommt meist aus einem bestimmten Anlass und es ist immer formuliert, denn die Formel macht das Gebet aus. Man kann ein Streben haben und es in ein Gebet übertragen, aber die Aspiration geht in jeder Hinsicht über das Gebet hinaus. Sie ist viel inniger und sozusagen viel selbstvergessener, nur in dem lebendig, was man sein oder tun will, und sie ist die Darbringung all dessen, was man für das Göttliche tun will. Du kannst beten, um etwas zu verlangen, du kannst auch beten, um dem Göttlichen für das zu danken, was Er dir gegeben hat, und dieses Gebet hat einen viel größeren Wert: Es kann als ein Akt der Danksagung bezeichnet werden. Du kannst beten aus Dankbarkeit für den Aspekt der Freundlichkeit, den das Göttliche für dich angenommen hat, für das, was Er für dich getan hat, für das, was du in Ihm siehst, und als die Lobpreisungen, die du Ihm darbringen willst. Das alles kann die Form eines Gebetes annehmen. Das ist selbstverständlich das höchste Gebet, denn es befasst sich nicht ausschließlich mit einem selbst, es ist kein egoistisches Gebet.
Gewiss kann man in allen Bereichen eine Aspiration haben, doch das eigentliche Zentrum der Aspiration liegt im seelischen Wesen. Man kann in allen Bereichen beten, doch gehört das Gebet dann zu dem Bereich, in dem man betet. Man kann rein materielle, physische Gebete verrichten, vitale Gebete, mentale Gebete, seelische Gebete, spirituelle Gebete, und jedes Gebet hat seine Eigenart, seinen eigenen Wert.
Es gibt eine Art von Gebet, spontan und selbstlos zugleich, das wie ein lauter Ruf ist, meist nicht für einen persönlich, sondern gleichsam etwas, das man eine Fürbitte beim Göttlichen nennen könnte. Es ist äußerst wirksam. Ich habe unzählige Beispiele erlebt, bei denen sich etwas wegen solcher Gebete fast augenblicklich erfüllte. Das setzt großen Glauben, große Inbrunst, große Aufrichtigkeit und eine große Einfachheit des Herzens voraus, die nicht kalkuliert und organisiert ist, die nicht feilscht und nicht in dem Gedanken gibt, eine Gegenleistung dafür zu erhalten. Denn die meisten Menschen geben mit der einen Hand und strecken die andere aus, um etwas dafür zu bekommen. Die meisten Gebete sind von dieser Art. Aber es gibt andere, die so sind, wie ich sagte: Dankgebete, eine Art Lobgesang – und sie sind sehr gut.
So, ich weiß nicht, ob ich mich klar genug ausgedrückt habe, aber so ist es.
Damit es noch klarer wird, können wir sagen: Ein Gebet wird immer in Worten formuliert, doch kann der Gehalt der Worte verschieden sein, je nach dem Zustand, in dem man sie formuliert. Das Gebet ist etwas Formuliertes, und man kann sehnsuchtsvoll streben. Doch erscheint es schwierig zu beten, ohne zu jemandem zu beten. Zum Beispiel gibt es diejenigen, die sich ein Universum vorstellen, aus dem sie den Begriff des Göttlichen so ziemlich vertrieben haben. Solche Leute gibt es viele. Sie stört der Gedanke, dass da etwas ist, das alles weiß, das alles kann und das ihnen so ungeheuer überlegen ist, dass es keine Vergleichsmöglichkeit gibt. Das ist etwas sehr Beunruhigendes für ihr Selbstgefühl. So versuchen sie, eine Welt ohne das Göttliche zu schaffen. Doch können sie natürlich nicht beten, denn zu wem sollten sie beten? Außer sie beten zu sich selbst, aber das ist nicht üblich! Dagegen kann man nach etwas sehnsuchtsvoll streben, ohne einen Glauben an das Göttliche zu haben. Manche Menschen glauben nicht an die Existenz eines Gottes, aber sie glauben an den Fortschritt. Sie haben die Vorstellung, dass die Welt sich in ständigem Fortschritt befindet und dass sich der Fortschritt ohne Ende, unablässig einem Besten zubewegt, das stets größer ist als das Beste, das vorausging. Nun, diese Menschen können eine sehr große Aspiration für den Fortschritt haben, und sie brauchen dafür nicht einmal den Begriff einer göttlichen Existenz. Die Aspiration schließt notwendigerweise einen Glauben ein, aber nicht unbedingt den Glauben an ein göttliches Wesen. Das Gebet hingegen kann nur dann bestehen, wenn man es an ein göttliches Wesen richtet. Zu wem soll man sonst beten? Man betet nicht zu etwas, das keine Persönlichkeit hat! Man betet zu jemandem, der uns hören kann. Wenn niemand da ist, uns zu hören, wie und zu wem könnte man denn beten? Deshalb bedeutet beten, auch wenn man es sich nicht eingesteht, an etwas zu glauben, das uns unendlich überlegen, das unendlich viel mächtiger ist als wir und das unser Geschick und uns selbst ändern kann, wenn man so betet, dass man erhört wird. Das ist der wesentliche Unterschied.
Wer nun mehr intellektuell eingestellt ist, lässt die Aspiration gelten und behauptet, das Gebet sei etwas Niedriges. Die Mystiker sagen uns, die Aspiration sei ja sehr schön, aber wenn man wirklich verstanden werden wolle und wenn man wolle, dass das Göttliche einen erhöre, müsse man beten, und zwar beten mit der Einfachheit eines Kindes, vollkommen arglos und treuherzig, das heißt mit vollkommenem Vertrauen: „Ich brauche dies oder das (sei es nun etwas Moralisches, etwas Physisches oder etwas Materielles), also, ich bitte Dich darum, gib es mir.“ Oder: „Du hast mir gegeben, worum ich Dich bat. Du hast mich mit Erfahrungen in Berührung gebracht, die mir unbekannt waren und die jetzt für mich Wunder sind, die ich nach Belieben erreichen kann. Also bin ich Dir unendlich dankbar und lasse ein Dankgebet zu Dir aufsteigen, um Dein Lob zu singen und Dir für Dein Eingreifen zu danken.“ So ist das. Bei der Aspiration ist es nicht nötig, wegen jemandem oder nach jemandem zu streben. Man strebt nach einem gewissen Zustand des Seins, nach einem Wissen, nach einer Verwirklichung, nach einem Bewusstseinszustand. Man strebt nach etwas, aber das ist nicht unbedingt ein Gebet; das Gebet ist etwas Zusätzliches.
Das Gebet ist etwas Persönliches, es ist an ein persönliches Wesen gerichtet, nämlich an etwas – an eine Kraft oder ein Wesen –, das dich verstehen und dir antworten kann. Sonst könntest du um nichts bitten.
