Kapitel 4

Der Eintritt in das spirituelle Leben

Worte der Mutter

Wann lässt sich sagen, man sei wirklich auf dem spirituellen Pfad?

Das erste Zeichen – es ist nicht für jeden das gleiche, aber in zeitlicher Reihenfolge, glaube ich – ist, dass dir alles Übrige völlig unwichtig erscheint. Dein gesamtes Leben, all deine Tätigkeiten, all deine Bewegungen gehen weiter – insofern die Umstände entsprechend sind –, doch erscheinen sie dir ohne jede Bedeutung: das ist es nicht mehr, wofür du lebst. Ich glaube, dies ist das erste Zeichen.

Es kann dabei noch anderes geben, zum Beispiel das Gefühl, dass alles anders ist, dass man anders lebt, das da ein Licht im Mental ist, das man vorher nicht hatte, dass da ein Frieden im Herzen ist, der vorher nicht da war. Das bewirkt eine Änderung; aber die tatsächliche Wandlung kommt für gewöhnlich später; sehr selten kommt sie schon vorher, es sei denn blitzartig im Augenblick der Bekehrung, wenn man beschlossen hat, das spirituelle Leben aufzunehmen. Manchmal beginnt es mit einer großen Erleuchtung, eine tiefe Freude tritt in dich ein; doch üblicherweise rückt das später in den Hintergrund, weil noch zu viele Unvollkommenheiten in dir weiterbestehen…

Es ist nicht Abscheu, nicht Geringschätzung, aber alles scheint dir so belanglos, dass es wirklich die Mühe nicht lohnt, sich damit abzugeben. Befindest du dich beispielsweise in einer bestimmten körperlichen Verfassung – angenehmen oder unangenehmen (die beiden Extreme berühren sich) –, so sagst du: „War das für mich so wichtig? Das hat doch nicht die geringste Bedeutung!“ Du hast den Eindruck, dass du wirklich auf die andere Seite gewechselt bist.

Manche meinen, das Zeichen des spirituellen Lebens sei die Fähigkeit, in einer Ecke zu sitzen und zu meditieren! Das ist eine sehr, sehr verbreitete Vorstellung. Ich will nicht hart sein, aber die meisten, die viel Aufhebens machen von ihrer Meditationsfähigkeit, meditieren in einer Stunde wohl kaum eine Minute lang! Jene, die wirklich meditieren, machen nie viel Aufhebens davon; für sie ist es eine ganz natürliche Sache. Ist es für dich etwas Selbstverständliches geworden, ohne Stolz darauf zu sein, dann kannst du sagen, dass du Fortschritte machst. Jene, die darüber reden und meinen, das hebe sie über die anderen Menschen hinaus, bei denen kannst du dir sicher sein, dass sie die meiste Zeit in völliger Trägheit verbringen.

Worte der Mutter

Es gibt alle möglichen Formen der Meditation… Man kann eine Idee nehmen und ihr nachgehen, um zu irgendeinem Ergebnis zu gelangen – das ist eine aktive Meditation; Menschen, die sich mit einem Problem beschäftigen oder die schreiben wollen, meditieren so, ohne zu wissen, dass sie meditieren. Andere setzen sich hin und versuchen, sich auf etwas zu konzentrieren, ohne einen Gedankengang zu verfolgen – sie richten sich einfach auf einen Punkt aus, um die Kraft der Konzentration zu intensivieren; wenn du dich auf einen Punkt ausrichtest geschieht für gewöhnlich folgendes: Gelingt es dir, deine Konzentrationskraft entweder auf einen mentalen, vitalen oder physischen Punkt genügend auszurichten, so stößt du in einem bestimmten Augenblick hindurch und trittst in ein anderes Bewusstsein ein. Wieder andere versuchen, aus ihrem Kopf alle Bewegungen, alle Vorstellungen, alle Reflexe und Reaktionen zu vertreiben und eine wahrhaft friedvolle Stille zu erreichen. Das ist äußerst schwierig; manche haben es 25 Jahre lang ohne Erfolg versucht – es ist etwa so schwer, wie den Stier bei den Hörnern zu packen.

Es gibt noch eine andere Art der Meditation: Man ist so ruhig, wie man kann, ohne zu versuchen, die Gedanken anzuhalten, denn manche sind rein mechanisch, und wenn du das alles auszuschalten versuchst, brauchst du dazu Jahre und du kannst dir des Ergebnisses nicht einmal sicher sein; stattdessen sammelst du dein Bewusstsein und bleibst so ruhig und friedvoll wie möglich, du löst dich von den äußeren Dingen ab, als interessierten sie dich nicht im geringsten, und auf einmal entfachst du diese Flamme der Aspiration, und in sie wirfst du alles hinein, was zu dir kommen mag, damit sie höher und höher steige, höher und höher; du identifizierst dich völlig mit ihr und du gehst bis zum äußersten Punkt deines Bewusstseins und deiner Aspiration, wobei du an nichts anderes denkst – einfach eine Aspiration, die steigt und steigt und steigt, ohne einen Augenblick auf das Ergebnis bedacht zu sein, auf das, was geschehen mag, und insbesondere, was nicht geschehen mag, und vor allem nicht den Wunsch hegen, dass etwas geschehe – einfach die Freude einer Aspiration, die steigt und steigt und steigt, indem sie in beständiger Konzentration immer intensiver wird. Und dabei kann ich dir versichern, dass das, was dann geschieht, das Beste ist, was geschehen kann. Das heißt, das Maximum deiner Möglichkeiten verwirklicht sich, wenn du das tust. Je nach der Person können diese Möglichkeiten sehr verschieden sein. Dann aber werden all diese quälenden Versuche, sich zu beruhigen, hinter die äußeren Erscheinungen zu dringen, eine erwidernde Kraft zu rufen, Antwort auf deine Fragen zu erwarten, wie ein unwirkliches Dunstgebilde verschwinden. Und gelingt es dir, bewusst in dieser Flamme, in dieser Säule aufsteigender Aspiration zu leben, so wirst du sehen, auch wenn du nicht sogleich zu einem Ergebnis gelangst, dass mit dir nach einiger Zeit etwas geschieht.

Worte der Mutter

Nicht wahr, man kann einen sehr guten Willen, ein auf eine göttliche Verwirklichung hin ausgerichtetes Leben haben, eine Art von mehr oder weniger oberflächlicher Weihung an ein göttliches Werk, und nicht Yoga praktizieren.

Den Yoga von Sri Aurobindo auszuüben heißt, sich ganzheitlich transformieren zu wollen; das heißt, ein einziges Ziel im Leben zu verfolgen, so dass alles Übrige nicht mehr existiert. Nur das allein existiert. Und dann fühlt man in sich sehr wohl, ob man will oder nicht will; wenn man nicht will, kann man immer noch ein Leben des guten Willens führen, ein Leben des Dienens, ein Leben des Verstehens; man kann daran arbeiten, dass das Werk leichter vollendet werden kann – all das –, man kann vieles machen. Doch zwischen diesem und der Ausübung des Yoga gibt es einen großen Unterschied.

Und um den Yoga auszuüben, musst du ihn bewusst wollen, und dazu musst du zunächst wissen, was das ist. Du musst wissen, was Yoga ist; du musst den Entschluss dazu fassen. Hast du den Entschluss aber einmal gefasst, dann darfst du nicht mehr murren. Deshalb musst du den Entschluss in voller Sachkenntnis fassen. Du musst wissen, was du beschließt, wenn du sagst: „Ich will den Yoga ausüben“. Mir war nie daran gelegen, euch in dieser Hinsicht zu bedrängen. Ich kann mit euch über die Sache sprechen. Oh, ich rede viel mit euch darüber. Ihr seid hier, damit man mit euch darüber reden kann; doch persönlich spreche ich nur mit jenen, die kamen und sagten: „Ja, ich habe auf jeden Fall meine eigene Meinung über den Yoga, und ich will ihn ausüben“; das ist gut.

Und für jene liegt die Sache dann anders, und die Lebensbedingungen sind anders, vor allem innerlich. Vor allem im Innern ändern sich die Dinge.

Die ganze Zeit über wirkt ein Bewusstsein, das ständig Situationen schafft, die dich vor Hindernisse stellt, die dich am Fortschritt hindern und dich mit der Nase auf deine eigenen Fehler und deine eigenen Blindheiten stößt. Dieses Bewusstsein wirkt aber nur für jene, die sich entschieden haben, den Yoga zu praktizieren. Für die anderen wirkt das Bewusstsein wie ein Licht, ein Wissen, ein Schutz, eine Kraft zum Fortschritt, so dass sie zum Höchstmaß ihrer Fähigkeiten gelangen und sie sich möglichst weit in einer möglichst günstigen Atmosphäre entwickeln – wobei es ihnen eine absolute Entscheidungsfreiheit lässt.

Die Entscheidung muss von innen kommen. Diejenigen, die bewusst für den Yoga kommen und wissen, was Yoga ist, nun, ihre Lebensbedingungen hier sind… äußerlich gibt es keinen Unterschied aber im Innern gibt es einen sehr großen Unterschied. Es gibt so etwas wie ein Absolutes im Bewusstsein, das sie nicht vom Weg abweichen lässt: die begangenen Fehler werden mit hinreichenden Konsequenzen sofort sichtbar, dass man sich nicht täuschen kann, und die Dinge werden sehr ernst…

… an dem Tag, an dem du eine Wahl triffst – wenn du es in aller Aufrichtigkeit getan hast und wenn du in dir eine radikale Entscheidung gespürt hast, dann liegt die Sache anders. Da ist das Licht und der Weg, dem man folgt, immer geradeaus, und du darfst nicht davon abweichen. Du weißt, der Yoga täuscht niemanden; Yoga ist kein Spaß. Du musst wissen, was du tust, wenn du dich für ihn entscheidest. Entscheidest du dich aber für ihn, musst du daran festhalten. Du hast nicht mehr das Recht zu schwanken. Du musst immer geradeaus gehen. So ist das…

Den Yoga, diesen Yoga der Transformation, der von allen der Beschwerlichste ist, kann man nur ausüben, wenn man fühlt, dass man dafür hierher gekommen ist (ich meine hierher auf die Erde) und dass man nichts anderes zu tun hat, als das, und dass es der einzige Grund für seine Existenz hier auf Erden ist; auch wenn man sich plagen, wenn man leiden und kämpfen muss, hat das keinerlei Bedeutung: „Das will ich und nichts anderes“; hier liegt die Sache anders. Ansonsten werde ich sagen: „Sei glücklich und sei gut, und das ist alles, was von dir verlangt wird. Sei gut, im Sinne von verständnisvoll sein, wissend, dass die Verhältnisse, in denen du lebst, außergewöhnlich sind, und versuche, ein höheres, edleres, wahreres Leben zu führen als das normale Leben, damit sich ein wenig von diesem Bewusstsein, diesem Licht und seiner Güte in der Welt ausdrücken kann. Das wäre sehr gut.“ So ist das.

Hast du aber einmal den Fuß auf den Pfad des Yoga gesetzt, musst du über eine eiserne Entschlossenheit verfügen und geradeaus bis ans Ende marschieren, koste es, was es wolle.

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