Kapitel 5
Die Renaissance in Indien
Indien kann sich am besten entwickeln und der Menschheit dienen, indem es es selbst ist und dem Gesetz seiner eigenen Natur folgt. Dies bedeutet nicht, wie einige Leute engstirnig und blind annehmen, die Zurückweisung von allem Neuen, das im Strom der Zeit zu uns kommt oder zufällig zuerst vom Westen entwickelt oder stark ausgedrückt wurde. Eine solche Einstellung wäre intellektuell absurd, physisch unmöglich und vor allem unspirituell. Wahre Spiritualität weist kein neues Licht, keine zusätzlichen Mittel oder Materialien unserer menschlichen Selbstentfaltung zurück. Sie bedeutet schlicht, dass wir unsere Mitte, unsere essentielle Daseinsweise, unsere angeborene Natur behalten und ihr alles anpassen, was wir empfangen, und aus ihr alles entfalten, was wir tun und schaffen. Religion war stets ein zentrales Hauptanliegen des indischen Mentals. Manche Leute sagten uns, zu viel Religion habe Indien ruiniert. Gerade weil wir das ganze Leben zur Religion oder Religion zum ganzen Leben machten, seien wir im Leben gescheitert und untergegangen. Ich werde darauf nicht antworten in der Sprache, die ein Dichter in einem etwas anderen Zusammenhang gebrauchte, dass unser Sturz nicht von Belang sei und dass der Staub, in dem Indien liege, heilig sei. Der Sturz, das Scheitern ist sehr wohl von Belang, und im Staub zu liegen, ist keine gesunde Position für Mensch oder Nation. Aber der angegebene Grund ist nicht der wahre. Wenn die Mehrheit der Inder in der Tat ihr ganzes Leben zur Religion im wahren Sinne des Wortes gemacht hätten, ständen wir jetzt anders da. Weil aber ihr öffentliches Leben höchst unreligiös, egoistisch, egozentrisch, materialistisch wurde, deshalb erlitten sie den Fall. Es ist möglich, dass wir auf der einen Seite zu sehr in eine übertriebene Religiosität auswichen, das heißt, in die exzessive Äußerlichkeit von Zeremonie, Regel, Routine, mechanischer Anbetung, auf der anderen in ein die Welt meidendes Asketentum, das die besten Geister an sich zog, die so der Gesellschaft verloren gingen, anstatt wie die alten Rishis als ihre spirituelle Stütze und ihre erleuchtenden Lebensspender zu fungieren. Aber an der Wurzel der Dinge lag das Dahinschwinden des spirituellen Impulses in seiner ganzen Breite, der Verfall der intellektuellen Aktivität und Freiheit, das Verblassen der großen Ideale, der Verlust des Lebensschwungs.
Vielleicht gab es in einem Sinne zu viel Religion. Das Wort ist englisch, hat zu sehr den Anflug von äußeren Dingen wie Bekenntnissen, Riten, äußeren Frommseins. Es gibt kein vollständiges indisches Äquivalent dafür. Aber wenn wir der Religion eher den Sinn eines Befolgens des spirituellen Impulses in seiner Fülle geben und Spiritualität als den Versuch definieren, im höchsten Selbst, dem Göttlichen, der allumfassenden Einheit zu erkennen und zu leben und das Leben in all seinen Teilen zu den höchstmöglichen göttlichen Werten zu erheben, wird deutlich, dass es nicht zu viel Religion gab, sondern eher zu wenig – und in dem, was vorlag, eine zu einseitige und daher nicht hinreichend weite Tendenz. Die rechte Abhilfe besteht nicht darin, das uralte Ideal Indiens noch mehr zu schmälern, sondern zu seinem alten Umfang zurückzukehren und ihm einen noch größeren Radius zu geben, und wahrhaftig alles Leben der Nation zu einer Religion in diesem hohen spirituellen Sinn zu machen. Dies ist die Richtung, die die Philosophie, Dichtung, Kunst des Westens, noch mehr oder weniger dunkel, jedoch mit wachsendem Licht einzuschlagen beginnt, und einige schwache Wahrheitsglimmer fallen sogar schon auf politische und soziologische Ideale. Indien hat den Schlüssel zur Erkenntnis und bewussten Anwendung des Ideals. Was ihm vorher bezüglich seiner Anwendung dunkel war, kann es jetzt, mit einem neuen Licht, erleuchten. Was an seinen alten Methoden falsch und verzerrt war, kann es jetzt zurechtrücken. Die Zäune, die es errichtete, um die äußere Entwicklung des spirituellen Ideals zu schützen, und die später zu Barrieren für seine Ausweitung und breitere Anwendung wurden, kann es jetzt niederreißen und seinem Geist ein freieres Feld und einen weiteren Aufschwung geben; Indien kann, wenn es will, den Problemen, an denen die ganze Menschheit arbeitet und strauchelt, eine neue und entscheidende Richtung geben, denn der Schlüssel zu ihren Lösungen liegt in seinem alten Wissen. Ob Indien in der kommenden Renaissance seine Gelegenheit voll nutzt oder nicht, ist seine Schicksalsfrage
Die Wiedererlangung des alten spirituellen Wissens und der Erfahrung in all ihrer Herrlichkeit, Tiefe und Fülle ist Indiens erste und wichtigste Arbeit; das Einfließen dieser Spiritualität in neue Formen von Philosophie, Literatur, Kunst, Wissenschaft und kritischem Wissen ist die zweite; eine eigenständige Auseinandersetzung mit modernen Problemen im Lichte des indischen Geistes und das Bestreben, eine größere Synthese einer spiritualisierten Gesellschaft zu formulieren, ist die dritte und schwierigste. Der Erfolg in diesen drei Bereichen wird der Maßstab für Indiens Hilfe für die Zukunft der Menschheit sein.