Kapitel 4
Der Zweck und das Ziel des Ashrams
Worte der Mutter
Irgendwo auf der Erde sollte es einen Ort geben, von dem keine Nation das Recht besitzen sollte, zu sagen, „er gehört mir“. Dort sollte jeder Mensch guten Willens, der eine aufrichtige Aspiration besitzt, frei als ein Bürger der Welt leben können und nur einer einzigen Autorität zu gehorchen brauchen: der höchsten Wahrheit. Das sollte ein Ort des Friedens, der Eintracht und Harmonie sein, wo alle Kampfinstinkte der Menschen ausschließlich dazu verwendet werden, um die Ursachen ihrer Leiden und ihres Elends zu überwinden, um über ihre Schwäche und Unwissenheit hinauszukommen und um über ihre Beschränktheiten und Unzulänglichkeiten zu siegen. Es sollte ein Ort sein, wo an erster Stelle die Bedürfnisse des Geistes und die Sorge um den Fortschritt stehen und nicht die Befriedigung der Begierden und Leidenschaften, das Streben nach Vergnügen und nach dem materiellen Genuss. An diesem Orte sollten die Kinder in einer integralen Weise aufwachsen und sich entfalten können, ohne dass sie den Kontakt mit ihrer Seele verlieren. Es sollte ihnen eine Ausbildung gegeben werden: nicht unter dem Gesichtspunkt, Examen zu bestehen und Zeugnisse und Positionen zu erlangen, sondern ihre vorhandenen Fähigkeiten reicher zu machen und neue zur Entfaltung zu bringen. An diesem Ort sollten die Titel und gesellschaftlichen Positionen durch die dargebotenen Gelegenheiten ersetzt werden, dass man dient und die Organisation der Gemeinschaft entwickelt. Bei allen sollte in gleicher Weise für die Bedürfnisse des Körpers gesorgt werden. Die intellektuelle, moralische und spirituelle Überlegenheit sollte in der allgemeinen Organisation durch ein höheres Maß an Pflicht und Verantwortlichkeit zum Ausdruck kommen und nicht durch eine Erhöhung des Lebensgenusses und der Machtpositionen im Leben. Alle sollten in gleicher Weise Zugang haben zur Schönheit in all ihren künstlerischen Ausdrucksweisen: Malen, Bildhauerei, Musik und Literatur. Die Möglichkeit, an den Freuden der Schönheit teilzuhaben, sollte allein durch die Aufnahmekraft des Einzelnen begrenzt werden und nicht durch seine soziale oder finanzielle Lage. Denn an diesem idealen Ort wäre das Geld nicht mehr der oberste Herr. Dem persönlichen Wert des Einzelnen würde eine ganz überragende Wichtigkeit gegenüber den materiellen Reichtümern und den gesellschaftlichen Stellungen beigemessen werden. Die Arbeit wäre dort nicht das Mittel, um sich dadurch seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Sie wäre vielmehr das Mittel, um durch sie die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten zum Ausdruck zu bringen, und so dem Ganzen der Gemeinschaft einen Dienst zu leisten, die ihrerseits für die Lebensbedürfnisse eines jeden zu sorgen und ihm den Rahmen für sein Wirken zu schaffen hätte. Kurz, das sollte ein Ort sein, an dem die gegenseitigen Beziehungen der Menschen untereinander, die für gewöhnlich nur auf den Konkurrenzkampf und auf den Streit gegründet sind, durch solche Beziehungen ersetzt werden, dass man im Gutestun miteinander wetteifert, dass man zusammenarbeitet und eine wirkliche Brüderlichkeit übt.
Die Erde ist noch nicht dazu bereit, ein solches Ideal zu verwirklichen, denn die Menschheit besitzt noch nicht genug Erkenntnis, es zu verstehen und anzunehmen, und noch nicht die bewusste Kraft, die für die Durchführung unentbehrlich ist. Darum nenne ich es einen „Traum“.
Dieser Traum ist jedoch auf dem Wege, Wirklichkeit zu werden. Dafür setzen wir im Sri Aurobindo Ashram unsere Kräfte ein, in einem ganz kleinen Maßstab und im Einklang mit unseren begrenzten Mitteln. Die Verwirklichung ist gewiss noch weit davon entfernt, vollkommen zu sein, aber sie ist progressiv. Allmählich dringen wir immer weiter vorwärts zu unserem Ziel, das, wie wir hoffen, eines Tages vor der Welt als ein praktisches und wirkungsvolles Mittel dastehen wird, wie sie aus dem jetzigen Chaos herauskommt und in ein neues harmonischeres und wahres Leben geboren wird.
Worte Sri Aurobindos
Dies ist nicht ein Ashram wie andere – seine Mitglieder sind keine Sannyasins, nicht moksa ist hier das einzige Ziel des Yoga. Was hier geschieht, ist vielmehr die Vorbereitung auf ein Werk – ein Werk, das sich auf yogischem Bewusstsein und der Yoga-Shakti gründen wird und keine andere Grundlage haben kann. Inzwischen aber wird von jedem Mitglied erwartet, dass es eine Arbeit im Ashram aufnimmt und sie als Teil dieser spirituellen Vorbereitung verrichtet.
Worte Sri Aurobindos
Humanitäre Arbeit dieser Art ist kein Teil des Ashrams; es ist nicht so wie bei Ramakrishnas Mission. Wir vermeiden Öffentlichkeitsarbeit und beschränken uns auf die eine spirituelle Arbeit des Ashrams selbst. Andernfalls würde man die Energie auf der gewöhnlichen Ebene zerstreuen, anstatt sie für den Aufbau eines persönlichen und kollektiven spirituellen Bewusstseins und Lebens zu konzentrieren.
Worte Sri Aurobindos
Dieser Ashram wurde mit einem anderen Ziel gegründet als dem, das solchen Institutionen meist zugrunde liegt – nicht zur Entsagung von der Welt, sondern als ein Zentrum und Wirkungsfeld für die Entwicklung einer anderen Art und Form des Daseins, das letztlich von einem höheren spirituellen Bewusstsein gelenkt und ein höheres Leben des Geistes verkörpern wird. Es gibt keine allgemein gültige Regel dafür, in welchem Stadium man das gewöhnliche Leben verlassen sollte, um hier einzutreten. Es hängt in jedem Fall von dem persönlichen Erfordernis jedes Einzelnen ab, von seinem Impuls sowie der Möglichkeit und Ratsamkeit, diesen Schritt zu tun – die Entscheidung liegt bei der Mutter.
Worte Sri Aurobindos
Antworte, dass der Ashram nicht für das „Studieren“ des Yoga da ist, sondern für das spirituelle Leben. Im Ashram gibt es keinen Unterricht und keine Kurse. Es kommen nur jene, die für diesen speziellen Yogaweg angenommen wurden, der weitaus schwieriger ist als die anderen Pfade.
Worte Sri Aurobindos
Der Ashram ist eben kein Platz für ein „spirituelles Training“, sondern ein Ort für das Hineinwachsen in ein göttliches Bewusstsein und in ein göttliches Leben. Jene, die hierher kommen, müssen sich bereits soweit entwickelt haben, dass sie all ihre vergangenen mentalen Ideen, festgefahrenen Lebensgewohnheiten oder Lebenstendenzen und selbst die Form ihres physischen Bewusstseins aufzugeben bereit sind und sich nur dem Licht einer größeren Wahrheit öffnen, die ihre gesamte Natur durch die Überantwortung an sie umwandeln wird. Dies ist äußerst schwierig, und die Erfahrung hat gezeigt, dass jene, die unvorbereitet hierher gekommen sind, nach einer gewissen Zeit scheitern und nicht weitergehen können, weil sie nicht einwilligen können, sich von ihren vergangenen Selbsten zu befreien. Sie finden die Atmosphäre zu schwer zum Atmen und den Druck der Wahrheit zu fordernd. Sri Aurobindo und die Mutter sind von daher nicht bereit, einen jeden hierher zu holen, besonders aus so einer großen Entfernung, transplantiert aus solch unterschiedlicher Umgebung, ohne sich selbst davon überzeugt zu haben, dass der Betroffene bereit ist für den Wandel und wirklich für den Weg der Sadhana berufen ist.
Worte Sri Aurobindos
Ich möchte gerne alle Informationen über den Sadhak-Ashram hinsichtlich folgender Themen:
1. Die Methode der Instruktionen.
Es werden keine „Instruktionen“ gegeben. Es ist ein Ashram für das spirituelle Leben, und die einzige Methode besteht darin, sich für den göttlichen Einfluss zu öffnen und für das Göttliche zu leben und zu arbeiten.
2. Das Leben der dort Studierenden.
Es gibt keine Studierenden, nur Jünger, die ihr gesamtes Leben und ihren gesamten Besitz dem Ashram und seiner spirituellen Zielsetzung geben. Im Gegenzug werden sie vom Ashram verpflegt.
3. Die Bedingungen für den Beitritt in den Ashram.
Nur jene, die bereits Jünger sind, können dem Ashram beitreten, und unter ihnen auch nur jene, die von Sri Aurobindo und der Mutter auserwählt sind.
4. Steht es der Person frei, mit Freunden und Verwandten zu kommunizieren?
Wenn er das möchte, doch je weniger er das tut, umso besser für seinen Yoga.
5. Ist der Ashram frei von politischen Aktivitäten?
Absolut frei.
6. Welche Sprache wird im Ashram vorwiegend gesprochen?
Englisch, Französisch, Bengali, Gujarati, Tamil, Telugu und Hindi – die Sadhaks sind von dieser Nationalität.
7. Gründet die gesamte Lehre vollkommen auf dem Hinduismus?
Eine sektiererische Religion ist nicht die Grundlage; dem orthodoxen Hinduismus und seinen Kasten-Regeln wird nicht gefolgt. Aber die hier anerkannte spirituelle Wahrheit steht in Übereinstimmung mit dem Veda, den Upanishaden und der Gita, wohingegen sie auf keine Schrift begrenzt ist.
Worte der Mutter
Das Ziel der gewöhnlichen Sadhanas ist die Einung mit dem Höchsten Bewusstsein (Sat-chit-ananda). Und diejenigen, die dort anlangen, sind mit ihrer eigenen Befreiung zufrieden und überlassen die Welt ihrem unseligen Zustand. Die Sadhana Sri Aurobindos hingegen beginnt am anderen Ende. Ist die Einung mit dem Höchsten verwirklicht, muss man diese in die äußere Welt herabbringen und die Lebensbedingungen auf Erden verändern, bis die gesamte Umwandlung vollendet ist. In Übereinstimmung mit diesem Ziel ziehen sich die Sadhaks des Integralen Yoga nicht von der Welt zurück, um ein Leben der Kontemplation und Meditation zu führen. Jeder muss mindestens ein Drittel seiner Zeit einer nützlichen Arbeit widmen. Alle Tätigkeiten können im Ashram ausgeübt werden, und jeder wählt die Arbeit, die seiner Natur am besten entspricht, er hat sie jedoch in einer Haltung des Dienens und der Selbstlosigkeit zu verrichten und immer das Ziel der integralen Transformation im Auge zu behalten.
Um das zu ermöglichen, ist der Ashram so organisiert, dass die berechtigten Ansprüche all seiner Bewohner befriedigt werden und diese um ihren Lebensunterhalt sich nicht zu kümmern brauchen.
Es gibt nur einige wenige Regeln, damit jeder die Freiheit genießen kann, die er zu seiner Entwicklung braucht, doch einige Dinge sind strikt verboten: (1) Politik, (2) Rauchen, (3) Alkoholgenuss und (4) Sexualität.
Große Sorgfalt wird auf die Erhaltung guter Gesundheit, das Wohlergehen und normale Wachsen des Körpers von allen gelegt, ob groß oder klein, alt oder jung.
Worte Sri Aurobindos
Unser Yoga besteht einzig und allein für die Entwicklung des göttlichen Bewusstseins im Menschen, und alles Übrige ist zweitrangig. Die Arbeit ist nur insofern bedeutsam, als dass sie ein Ausdruck des Göttlichen im Individuum ist, getan vom Göttlichen und nicht aus dem Ego heraus, nicht als eine Arbeit, die deine eigene ist und durch dich getan zu deiner eigenen Befriedigung getan wird… Die Sangha unseres Yoga muss aus Menschen bestehen, die ihr niederes Bewusstsein und ihre niedere Natur aufgeben, um das höhere Bewusstsein und die göttliche Natur anzunehmen. Die Bildung einer Gemeinschaft um einer „besonderen Arbeit“ willen ist ganz und gar nicht das wahre Ideal. Nur indem wir alle in das Göttliche hineinwachsen, kann eine wahre Sangha geschaffen werden. Dies solltest du klar verstehen und fest verinnerlichen, bevor du hierher kommst. Du musst ebenso verstehen, dass ich dich nicht zurückweisen und gleichzeitig dein Geld nehmen kann. Geld ist nichts; es ist bloß ein Mittel und eine Zweckmäßigkeit, die Gott mir wann immer und in welchem Ausmaß auch immer für seine Absicht geben wird. Du bist es, deine Seele ist es, die von Bedeutung ist.
Worte der Mutter
Für uns hier zählt nur eine Sache: Wir streben nach dem Göttlichen, leben für das Göttliche, arbeiten für das Göttliche.