Kapitel 39
Du hast ein besonderes Ziel, das dein ganz eigenes ist
Beobachtest du dich aufmerksam, so siehst du, dass man in sich stets das Gegenteil der Tugend trägt, die man verwirklichen muss (ich verwende „Tugend“ in der weitesten und höchsten Bedeutung). Du hast ein besonderes Ziel, eine besondere Sendung, eine besondere Verwirklichung, jeder Einzelne etwas ihm Eigenes, und du trägst in dir alle Hindernisse, die nötig sind, damit die Verwirklichung vollkommen sei. Immer wirst du feststellen, dass in dir Schatten und Licht zusammengehören: Hast du eine Fähigkeit, so hast du auch ihre Verneinung. Und wenn du ein ganz schwarzes Loch entdeckst, einen finsteren Schatten, dann darfst du sicher sein, dass da ein großes Licht ist. An dir liegt es, das eine zu nutzen, um das andere zu verwirklichen.
Das ist eine Tatsache, von der wenig gesprochen wird, die aber von grundlegender Bedeutung ist. Und bist du aufmerksamer Beobachter, so siehst du, dass es sich stets bei allem so verhält. Das führt uns zu paradoxen, aber völlig wahren Aussagen, z.B.: dass der schlimmste Dieb der ehrlichste Mensch sein kann (damit will ich dich natürlich nicht zum Stehlen ermutigen!), und der schlimmste Lügner kann einer sein, der zum Wahrhaftigsten wird. Verzweifle also nicht, wenn du in dir die größte Schwäche findest, denn dies mag das Zeichen der größten göttlichen Stärke sein. Sage nicht: „So bin ich, und anders kann ich nicht sein.“ Das ist nicht wahr. Du bist „so“, gerade weil du das Gegenteil sein musst. Und all deine Schwierigkeiten sind eben dazu da, dass du lernst, sie in die Wahrheit umzuwandeln, die sie verbergen.
Sobald man das einmal begriffen hat, verlassen einen viele Sorgen, und man wird sehr, sehr glücklich. Erkennt man, dass finstere Löcher in einem sind, so sagt man sich: „Das beweist, dass ich sehr hoch steigen kann“, ist der Abgrund sehr tief: „Ich kann sehr hoch steigen“. Ebenso vom universalen Gesichtspunkt aus; um es in der Hindu-Terminologie zu sagen, mit der du vertraut bist: Gerade die größten Asuras sind die größten Lichtwesen. Und an dem Tag, wo diese Asuras sich bekehren, werden sie die höchsten Wesen der Schöpfung sein. Dies soll dich nicht ermutigen, „asurisch“ zu sein, aber so ist es – das mag dein Gehirn etwas weiten und dich von den Vorstellungen von Gut und Böse, die sich entgegenstehen, befreien helfen; denn solange du in jener Kategorie steckst, besteht keine Hoffnung.
Wäre die Welt nicht wesenhaft das Gegenteil von dem, was sie geworden ist, so bestünde keine Hoffnung. Wenn dies so dunkle und so tiefe Loch, dies so völlig Nichtbewusste nicht das Zeichen der völligen Bewusstheit wäre, nun, dann könnte man nur noch seine Sachen packen und sich davonmachen. Leute wie Shankara, die nicht viel weiter sahen als ihre Nasenspitze, haben gesagt, es lohne sich nicht, auf der Welt zu leben, weil sie unmöglich sei; man solle sie lieber als Illusion betrachten und sich aus ihr zurückziehen, da sei nichts zu wollen. Ich aber sage dir im Gegenteil: Gerade weil die Welt schlecht, dunkel, hässlich, unbewusst, elend und leidvoll ist, kann sie das höchste Schöne, das höchste Licht, das höchste Bewusstsein und die höchste Glückseligkeit sein.