Kapitel 30
Das zentrale Motiv der irdischen Existenz
„Eine spirituelle Evolution, eine Evolution des Bewusstseins in der Materie in einer ständigen, sich entfaltenden Selbst-Gestaltung, bis die Form den innewohnenden Geist offenbaren kann, ist also der Grundton, das zentrale bedeutungsvolle Motiv der irdischen Existenz. Diese Bedeutung wird zu Beginn durch die Involution des Geistes, der Göttlichen Wirklichkeit, in eine dichte materielle Unbewusstheit verborgen. Ein Schleier von Unbewusstheit, ein Schleier von Empfindungslosigkeit der Materie verbirgt die universale Bewusstseins-Kraft, die im Inneren wirkt, so dass die Energie, die erste Form, die die Kraft der Schöpfung im physischen Universum annimmt, selbst unbewusst zu sein scheint und dennoch die Werke einer umfassenden verborgenen Intelligenz tut.“ (Sri Aurobindo, The Life Divine)
Ich habe nicht verstanden, liebe Mutter, was diese Bewusstseins-Kraft ist, ich habe da nichts verstanden!
Zunächst muss man gerade diesen ersten Satz verstehen, der die Tatsache, den Grund und eben das Prinzip des Vorhandenseins des Universums feststellt. Nicht wahr, wir beginnen hier am Ende des Bandes, es sind die sechs letzten Kapitel. In den Kapiteln zuvor hat sich Sri Aurobindo alle Theorien, die das Wie und Warum des Universums und des Lebens erklären, eine nach der anderen vorgenommen. Er hat ihre Linien bis zur äußersten Grenze geführt, um ihre Bedeutung voll und ganz erklären zu können, und am Ende bewies er, inwieweit sie unvollständig und unvollkommen sind und teilte die richtige Lösung mit. Dies alles ist nun abgeschlossen, es geht unserer Lektüre voraus. Wir hätten so um die zehn Jahre gebraucht, um das alles durchzuarbeiten. Und du hättest alle möglichen Kenntnisse und einen sehr entwickelten Intellekt haben müssen, um mit Gewinn folgen zu können. Wir aber beginnen an dem Punkt, an dem er aus völlig intellektueller Sicht den Beweis für den Daseinszweck des Lebens erbracht hat, und er formuliert das so: „Das zentrale bedeutungsvolle Motiv der irdischen Existenz.“ Denn er befasst sich nicht mit dem ganzen Universum. Er nahm das irdische Leben, das heißt unser Leben hier auf der Erde als symbolische und konzentrierte Versinnbildlichung für den Daseinszweck des ganzen Universums. Nach sehr alten Überlieferungen wurde die Erde tatsächlich, von einem tieferen spirituellen Standpunkt aus gesehen, als eine symbolische Konzentration des universalen Lebens geschaffen, damit das Werk der Transformation leichter erfolgen könne – in einem begrenzten, konzentrierten „Raum“ sozusagen, wo alle Elemente des Problems versammelt sind, damit das Wirken in der Konzentration vollständiger und wirksamer sein kann. Hier nun spricht er lediglich vom irdischen Dasein. Wir aber können es so verstehen, dass es ein symbolisches Dasein ist, das bedeutet, dass es ein universelles Wirken versinnbildlicht. Es ist eine symbolische, konzentrierte Versinnbildlichung. Und er sagt „das zentrale Motiv“, das heißt der Zweck irdischen Daseins bestehe darin, den Geist zu erwecken, zu entwickeln und schließlich zu offenbaren, der im Zentrum der Materie verborgen liegt und diese Materie von innen her nach außen hin in Richtung auf eine fortschreitende Entwicklung treibt, die den von innen her wirkenden Geist befreien wird.
So finden wir in den äußeren Erscheinungen, wie wir sie sehen, zunächst das Mineralreich mit Steinen, Erde, Mineralien, die unserem äußeren Bewusstsein absolut unbewusst erscheinen. Und doch liegt hinter dieser Unbewusstheit das Leben des Geistes, das Bewusstsein des Geistes, der vollständig verborgen, gleichsam im Schlafe befindlich ist – obgleich das nur ein Anschein ist – und der von innen her wirkt, um diese Materie, die dem Anschein nach vollständig leblos ist, schrittweise umzuwandeln, damit ihre Organisation sich mehr und mehr der Manifestation von Bewusstsein öffne… Zunächst ist dieser Schleier lebloser Materie so vollständig, dass sie dem oberflächlichen Blick etwas ist, was weder Leben noch Bewusstsein hat. Wenn du einen Stein nimmst und ihn mit deinen gewöhnlichen Augen und deinem gewöhnlichen Bewusstsein betrachtest, sagst du: „Er hat kein Leben, kein Bewusstsein.“ Aber für denjenigen, der hinter die Erscheinungen zu blicken vermag, befindet sich, verborgen im Zentrum dieser Materie – im Zentrum jedes Atoms dieser Materie – die Höchste Göttliche Wirklichkeit, die von innen her schrittweise durch Jahrtausende wirkt, um diese träge Materie in etwas umzuwandeln, was genug Ausdruckskraft besitzt, den Geist im Inneren offenbaren zu können. Dann haben wir den stufenweisen Ablauf der Geschichte von Leben: Wie plötzlich vom Stein ein rudimentäres Leben erschien und durch aufeinanderfolgende Gattungen eine Art Organisation, das heißt eine organische Substanz, die fähig ist, das Leben zu offenbaren. Doch zwischen dem Mineral- und Pflanzenreich gibt es Übergangselemente. Man weiß nicht, ob sie dem Mineral- oder bereits dem Pflanzenreich angehören – wenn man dies im Detail studiert, sieht man einige seltsame Gattungen, die weder hierhin noch dorthin gehören, die nicht recht dies und noch nicht recht jenes sind. Dann kommt die Entwicklung des Pflanzenreichs, wo natürlich das Leben auftritt, denn dort ist Wachstum, Umwandlung – eine Pflanze sprießt auf, entwickelt sich, wächst –, und mit dem ersten Phänomen des Lebens kommt auch das Phänomen von Zerfall und Zersetzung, welche relativ sehr viel schneller eintreten kann als beim Stein: Ein Stein kann, wenn er von der Einwirkung anderer Kräfte abgeschirmt wird, scheinbar unendlich lange fortdauern, wohingegen die Pflanze bereits einer Kurve von Wachstum, Aufstieg und Fall und Zersetzung folgt – aber dies mit einem äußerst beschränkten Bewusstsein. Wer das Pflanzenreich im Detail studiert hat, weiß, dass sich dort ein Bewusstsein findet. Pflanzen zum Beispiel benötigen Sonnenlicht zum Leben – die Sonne repräsentiert die aktive Energie, die sie wachsen lässt. Wenn man also eine Pflanze an einen Ort stellt, wo kein Sonnenlicht vorhanden ist, sieht man, wie sie immer weiter nach oben wächst, indem sie versucht, indem sie eine Anstrengung unternimmt, das Sonnenlicht zu erreichen. In einem Urwald zum Beispiel, wo der Mensch nicht in das Geschehen eingreift, existiert diese Art Kampf zwischen allen Pflanzen, die immer in der einen oder anderen Weise nach oben wachsen in der Bemühung, Sonnenlicht zu erhaschen. Es ist sehr interessant. Aber selbst wenn man einen Blumentopf in einen kleinen, von Mauern umgebenen Hof stellt, wo keine Sonne hereinkommt, wird eine Pflanze, die normalerweise diese Höhe hat (Mutter macht eine Geste), noch höher werden: Sie streckt sich nach oben und macht eine Anstrengung, das Licht zu finden. Daher ist ein Bewusstsein vorhanden, ein Wille zum Leben, der sich bereits manifestiert. Und ganz langsam erreichen wir dann mit Gattungen, die immer höher entwickelt sind, ein weiteres Zwischenstadium: Arten, die nicht mehr ganz eine Pflanze und noch nicht ein Tier sind. Von dieser Art gibt es unterschiedliche Gattungen, die sehr interessant sind. Es gibt die fleischfressenden Pflanzen, Pflanzen wie ein offenes Maul: Du wirfst eine Fliege hinein, und schnapp!, sie verschlingen sie. Es ist nicht mehr ganz eine Pflanze und noch nicht ein Tier. Es gibt so viele Pflanzen dieser Art.
Dann kommen wir zum Tier. Bei den ersten Tieren ist es gewiss schwierig, sie von Pflanzen zu unterscheiden, es ist fast kein Bewusstsein da. Aber wir haben all die Tierarten. Wir kennen sie bis zu den höheren Tieren hinauf, die in der Tat sehr bewusst sind. Sie haben ihren eigenen, vollständig unabhängigen Willen. Sie sind sehr bewusst und wunderbar intelligent, wie zum Beispiel der Elefant. Du kennst all die Geschichten von Elefanten und ihrer wunderbaren Intelligenz. Daher handelt es sich bereits um eine sehr wahrnehmbare Erscheinung des Mentalen. Und durch diese progressive Entwicklung gelangen wir dann plötzlich zu einer Gattung, die wahrscheinlich verschwunden ist – Spuren von ihr wurden gefunden –, ein Zwischentier wie ein Affe oder vom selben Entwicklungszweig – etwas, was ihm nahekommt, ähnlich ist, wenn auch nicht der Affe, so wie wir ihn kennen –, aber bereits ein Tier, das auf zwei Beinen läuft. Und von dort gelangen wir zum Menschen. Es gibt einen vollständigen Anfang der Evolution des Menschen. Wir können ja nicht sagen, dass er über eine brillante Intelligenz verfügt, aber es gibt bereits eine Aktion des Mentals, einen Ansatz der Unabhängigkeit, unabhängiger Reaktion auf die Umwelt und die Kräfte der Natur. Und so gibt es im Menschen den ganzen Bereich bis hinauf zum höheren Wesen, das zum spirituellen Leben fähig ist.
Das hat uns Sri Aurobindo in dieser Textpassage gesagt.
Sri Aurobindo hat uns gesagt, dass die Natur eine aufsteigende Vorwärtsbewegung mache, um immer mehr das göttliche Bewusstsein zu offenbaren, das in allen Formen enthalten ist. Die Natur produziert also mit jeder neuen Form, die sie hervorbringt, eine Gestalt, die fähig ist, den Geist, den diese Gestalt enthält, vollständiger auszudrücken. Wenn es aber nur so wäre … eine Form kommt, entwickelt sich, gelangt zu ihrem Höhepunkt, und nach ihr kommt eine andere Form; die anderen verschwinden nicht, aber das Einzelwesen schreitet nicht vorwärts. Der einzelne Hund oder der einzelne Affe zum Beispiel gehört zu einer Art, die ihre eigenen Merkmale hat; wenn der Affe oder der Mensch auf dem Höhepunkt seiner Fähigkeiten angelangt ist, das heißt, wenn ein einzelner Mensch der beste Typus der Menschheit ist, ist es aus; der Einzelne wird nicht weiter vorwärtsgehen können. Er ist Gattung Mensch, er wird Gattung Mensch bleiben. So gibt es erdgeschichtlich gesehen einen Fortschritt, da jede Art einen Fortschritt hinsichtlich der vorhergehenden Art darstellt, aber vom Einzelwesen aus gesehen gibt es keinen Fortschritt. Das Einzelwesens wird geboren, es folgt seiner Entwicklungslinie, es stirbt und verschwindet. Um also den Fortschritt des Individuums zu sichern, musste ein anderes Hilfsmittel gefunden werden; jenes genügte nicht. Aber innerhalb des Einzelwesens, in jeder Form enthalten, befindet sich eine Organisation von Bewusstsein, die unter einem direkteren Einfluss der inneren göttlichen Gegenwart steht und ihr näher ist, und diese Gestalt, die unter diesem Einfluss – in dieser Art innerer Energiekonzentration – steht, hat ein von der physischen Form unabhängiges Leben – es ist das, was wir gemeinhin mit „Seele“ oder „seelischem Wesen“ bezeichnen –, und da sie um die göttliche Mitte herum angeordnet ist, gehört sie zur göttlichen Natur, die unsterblich, ewig ist. Der äußere Körper fällt ab, sie aber bleibt durch jede Erfahrung hindurch, die sie in jedem Leben hat, und es besteht ein Fortschritt von Leben zu Leben, und das ist der Fortschritt desselben Einzelwesens. Und diese Bewegung ergänzt die andere, in dem Sinne, dass anstelle einer Spezies, die relativ zu anderen Spezies fortschreitet, es ein Individuum ist, das alle Stufen des Fortschritts dieser Spezies durchläuft und auch dann weiter fortschreiten kann, wenn die Spezies die Grenze ihrer Möglichkeiten erreicht hat und… dort bleibt oder verschwindet - es kommt auf den Fall an - aber sie können nicht weitergehen, während das Individuum, das ein von der rein materiellen Form unabhängiges Leben führt, von einer Form zur anderen übergehen und seinen Fortschritt unendlich fortsetzen kann. Das sind zwei Bewegungen, die sich ergänzen. Und deshalb hat jedes Einzelwesen die Möglichkeit, zur höchsten Verwirklichung zu gelangen, unabhängig von der Form, in der es sich momentan befindet.