Kapitel 2
Was ist das Mental
Das Mental – Seine Fähigkeit und seine Grenzen
Worte Sri Aurobindos
Das Mental ist im Wesentlichen ein Bewusstsein, welches ausmisst, begrenzt, aus dem unteilbaren Ganzen Dinge herausschneidet und sie dann wie ein separates Ganzes behandelt. Sogar bei den Dingen, die nur als eindeutige Bruchteile existieren, verfestigt das Mental diese Fiktion seiner gewöhnlichen Vorgehensweise: dass sie Dinge sind, mit denen es separat und nicht als mit bloßen Aspekten eines Ganzen umgehen kann. Denn sogar, wenn es weiß, dass sie nicht eigenständig sind, muss es so mit ihnen umgehen, als könnten sie allein für sich stehen. Sonst könnte es sie nicht in seine eigene charakteristische Aktivität einbeziehen. Es ist dieses essentielle Merkmal des Mentals, welches das Handeln all seiner operativen Fähigkeiten konditioniert, seien es Begriffsvermögen, Wahrnehmung, Empfinden oder die Vorgänge des kreativen Denkens. Es begreift, nimmt wahr, empfindet Dinge so, als seien sie rigide aus ihrem Hintergrund oder einer Masse herausgeschnitten worden, und verwendet sie wie unveränderliche Einheiten des Materials, das ihm zum weiteren Erschaffen oder Besitz gegeben ist. All sein Handeln und Genießen hat nun mit Ganzheiten zu tun, die Teile eines größeren Ganzen bilden, und diese untergeordneten Ganzheiten sind wiederum in Teile aufgespalten, die ebenfalls wieder als Ganzheiten für die Zwecke, denen sie dienen, behandelt werden. Das Mental mag trennen, vervielfältigen, hinzufügen und wegnehmen können, aber es kann die Grenzen dieser Mathematik nicht überwinden. Wenn es darüber hinausgeht und versucht sich ein wirkliches Ganzes vorzustellen, verliert es sich in einem fremden Element. Es fällt von seinem eigenen festen Boden in ein Meer des nicht Greifbaren, in die Abgründe des Unendlichen, wo es weder wahrnehmen, begreifen, empfinden, noch etwas erschaffen oder genießen kann. Denn wenn der mentale Geist das Unendliche manchmal wahrzunehmen, zu erkennen, zu spüren oder besitzend zu genießen scheint, ist dies nur ein Schein und Teilbild des Unendlichen. Was er so vage besitzt, ist einfach eine gestaltlose Unermesslichkeit und nicht das wahre raumlose Unendliche. In dem Augenblick, in dem er mit ihm umgehen und es besitzen möchte, kommt sofort die untrennbar damit verbundene Tendenz der Abgrenzung auf, und das Mental sieht sich wieder mit Bildern, Formen und Worten umgehen. Das Mental kann das Unendliche nicht besitzen, es kann es nur erdulden oder von ihm erfasst sein. Es kann nur selig hilflos unter dem leuchtenden Schatten der Wirklichkeit liegen, der von Seinsebenen außerhalb seiner Reichweite auf ihn hinabgeworfen wird. Das Besitzen des Unendlichen kann nur durch einen Aufstieg zu solchen supramentalen Ebenen und seine Erkenntnis nur durch eine ruhige Unterwerfung des Mentals unter die herabkommenden Botschaften der Wahrheitsbewussten Wirklichkeit erfolgen.
Diese fundamentale Fähigkeit und die essentielle Begrenzung, die es begleitet, sind die Wahrheit des Mentals und legen seine wirkliche Natur und sein Handeln, svabhava und svadharma, fest. Hier ist das Zeichen des göttlichen Gebots, die ihm in der vollständigen Instrumentierung der höchsten Maya seine Aufgabe zuweist, – die Aufgabe, die durch ihr Hervorgehen aus dem ewigen Selbstverständnis des Selbst-Seienden bestimmt ist. Die Aufgabe besteht darin, das Unendliche immer in Begriffe des Endlichen zu übersetzen, abzumessen, zu begrenzen, zu demontieren. Tatsächlich tut es dies in unserem Bewusstsein und schließt dabei alles wahre Spüren des Unendlichen aus. Deshalb ist das Mental der Spross der großen Unwissenheit.
Das Mental – Seine Aufgabe
Worte Sri Aurobindos
Nur wenn der Schleier zerrissen und das geteilte Mental übermannt, still und passiv gegenüber einem supramentalen Wirken ist, kommt es zur Wahrheit der Dinge zurück. Da finden wir eine leuchtende Geisteshaltung, die reflektierend der göttlichen Real-Idee gehorcht und ihr dient. Hier sehen wir, wie die Welt wirklich ist; wir erkennen uns selbst auf jede Weise in anderen und als die anderen, andere als uns selbst und alle als den universalen und selbstvervielfältigten Einen. Wir verlieren den starr abgetrennten eigenen Standpunkt, der die Quelle aller Begrenzungen und Irrtümer ist. Aber wir sehen auch, dass alles, was die Unwissenheit des Mentals für wahr hielt, tatsächlich die Wahrheit war, aber eine abgewichene, falsch gesehene und verstandene Wahrheit. Wir sehen noch die Teilung, das Individualisieren, das atomhafte Gebilde, aber wir kennen es und uns selbst als das, was wir wirklich sind. Und deshalb begreifen wir, dass das Mental in Wahrheit ein untergeordnetes Wirken und Instrument des Wahrheitsbewusstseins war. So lange es in der Selbsterfahrung nicht von dem umhüllenden Meister-Bewusstsein getrennt ist und nicht versucht, sich ein eigenes Haus zu errichten, so lange es passiv als Instrument dient und nicht Dinge für seinen eigenen Nutzen erstrebt, erfüllt das Mental brillant seine Funktion, die darin besteht, in der Wahrheit Dinge auseinander zu halten durch eine rein formale Begrenzung ihrer Aktivität, hinter der die übergeordnete Universalität des Wesens bewusst und unberührt bleibt. Es muss die Wahrheit der Dinge aufnehmen und sie gemäß der Sicht eines höchsten Auges und Willens verteilen. Es muss eine Individualisierung des aktiven Bewusstseins, der Wonne, Kraft und Substanz aufrechterhalten, die all ihre Macht, Wirklichkeit und Freude aus einer unveränderlichen Universalität im Hintergrund bezieht. Es muss die Vielfalt des Einen in eine scheinbare Aufspaltung verwandeln, durch die Beziehungen definiert und einander gegenübergestellt werden, um sich wieder zu treffen und sich mit einander zu verbinden. Es muss die Wonne der Teilung und der Annäherung inmitten einer ewigen Einheit und Fragmentierung etablieren. Es muss es dem Einen ermöglichen, sich so zu verhalten, als ob Er ein Individuum sei, welches mit anderen Individuen interagiert, aber dies immer in Seinem eigenen Eins-Sein, – und das ist es, was die Welt wirklich ist. Das Mental ist das finale Wirken des wahrnehmenden Wahrheitsbewusstseins, das alles dies ermöglicht, – und was wir die Unwissenheit nennen, erschafft nicht etwas Neues und absolut Falsches, sondern stellt die Wahrheit nur ungenau dar. Die Unwissenheit ist das im Wissen von seiner Quelle getrennte Mental. Es gibt dem harmonischen Spiel der höchsten Wahrheit in ihrer universalen Manifestation eine falsche Starrheit und einen irrigen Anschein von Opposition und Konflikt.
Der fundamentale Irrtum des Mentals ist somit der Verlust der Selbst-Erkenntnis, wodurch die individuelle Seele ihre Individualität als eine separate Realität ansieht, statt als eine Form des Eins-Seins, und sich so zum Zentrum ihres eigenen Universums macht, anstatt sich selbst als eine Konzentration des Universalen zu erkennen. Alle jeweiligen Unkenntnisse und Begrenzungen des Mentals sind abhängige Folgen dieses ursprünglichen Irrtums.
Worte Sri Aurobindos
Das Mental ist nur eine vorbereitende Form unseres Bewusstseins… Das Mental muss für ein anderes Bewusstsein Platz machen, welches den mentalen Geist vervollkommnen wird, indem es ihn transzendiert oder ihn grundlegend erneuert und so sein Wirken richtigstellt, nachdem es über ihn hinausgegangen ist: der Gipfel mentalen Wissens ist nur ein Sprungbrett, von dem aus dieser Sprung unternommen werden kann. Die höchste Aufgabe des Mentals besteht darin, unser unscharfes, aus dem dunklen Gefängnis der Materie emporgestiegenes Bewusstsein zu trainieren, seine blinden Instinkte, zufälligen Intuitionen und vagen Erkenntnisse zu erleuchten, bis es zu diesem größeren Licht und höheren Aufstieg fähig sein wird. Das Mental ist ein Durchgang, kein Kulminationspunkt.
Das Mental – Seine erleuchtete Zukunft
Worte Sri Aurobindos
Die sichtbaren Unvollkommenheiten und Begrenzungen des Mentals hier in der gegenwärtigen Phase der Evolution nehmen wir als Teil eben seiner Natur; aber die Grenzen, in denen es noch eingepfercht ist, sind nur temporäre Einschränkungen und Messpunkte seines noch unvollendeten evolutionären Fortschritts; die Fehlerhaftigkeit seiner Methoden und Mittel sind seiner Unreife geschuldet und gehören nicht zur Konstitution seines Wesens; seine Leistung – obschon außergewöhnlich unter den hemmenden Bedingungen des von seiner Instrumentation in einem irdischen Körper herabgezogenen mentalen Wesens – liegt nicht jenseits von dem, was ihm in seiner erleuchteten Zukunft möglich sein wird, sondern weit darunter. Denn das Mental ist seiner Natur nach kein Erfinder von Irrtümern oder ein Vater von Lügen, gefesselt an eine Befähigung zur Falschheit, gebunden an seine eigenen Fehler und der Führer eines stolpernden Lebens, wie es momentan zumeist wegen unserer menschlichen Unzulänglichkeiten der Fall ist: es ist seinem Ursprung nach ein Prinzip des Lichts, ein vom Supramental hervorgebrachtes Instrument. Obschon es innerhalb von Begrenzungen arbeiten und sogar Grenzen selber setzen muss (jedoch sind die Grenzen leuchtende Peripherien eines speziellen Wirkens, freiwillige und zweckgebundene Grenzen), – ist es ein Dienst des sich immer unter den Augen der Unendlichkeit ausdehnenden Endlichen. Dieser Charakter des Mentals ist es, der sich unter der Berührung des Supramentals offenbaren und die menschliche Mentalität zu einem Gehilfen und untergeordneten Instrument des supramentalen Wissens machen wird. Es wird für das nicht länger vom Intellekt eingeschränkte Mental sogar möglich sein, einer Art mentaler Gnosis fähig zu werden, einer leuchtenden Wiedergabe der Wahrheit in einem verminderten Wirken, indem es die Macht des Lichts nicht nur auf seine eigene, sondern auch auf die tieferen Bewusstseinsebenen in ihrem Aufstieg zur Selbsttranszendierung ausdehnt. Obermental, Intuition, Erleuchtetes Mental und was ich Höheres Mental genannt habe, diese und andere Ebenen einer spiritualisierten und befreiten Mentalität werden fähig sein, im erhobenen menschlichen Mental und seinem Fühlen, seiner Lebenskraft und seinem Handeln – die gereinigt und erhöht sind – etwas ihrer Kräfte zu reflektieren und den Aufstieg der Seele zu ihren eigenen Hochebenen und Gipfeln einer emporsteigenden Existenz vorzubereiten. Dies ist im Wesentlichen der Wandel, welcher als Resultat einer neuen evolutionären Ordnung betrachtet werden kann, – und er würde eine beträchtliche Ausdehnung des evolutionären Feldes selbst bedeuten und die Frage nach dem Ergebnis des Kommens des Supramentals für die Menschheit beantworten.